Hanns Cibulka wurde am 20. September 1920 im schlesisch-mährischen Jägerndorf geboren. Er erlernte den Beruf des Handelskaufmanns. Mit dem Jahr 1938 ging die unbekümmerte Zeit des Jugendlichen zu Ende, der Krieg brach ins Land und bedeutete einen Wendepunkt in seinem Leben. Die Zeit von 1939-1945 verbrachte Cibulka als Wehrmachtssoldat zuerst in Polen, dann in der Ukraine, später in Italien. Von 1945-1948 war er in Sizilien in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Die Vertreibung aus der sudetendeutschen Heimat hat er nicht miterlebt, er besuchte seine Geburtsstadt zum letzten Mal im Jahre 1944, als er kurz beurlaubt wurde. Der Krieg, der ständige Umgang mit dem Tod, die Begegnung mit dem polnischen Mädchen Halina und der Verlust seiner Heimat beeinflussten sein ganzes literarisches Schaffen stark: „Warum sind wir fortgezogen? Waren die Wasser bitter, die ich als Kind getrunken? […] Die Heimat aber wuchs auf unserem Rücken fort, keiner konnte sie mehr tragen“ (In: Tagebücher: Umbrische Tage, S.109). Über den Verlust der Heimat klagt Cibulka beispielsweise auch im Gedicht Böhmischer Rebstock (1962): „Böhmischer Rebstock,/ verholzt,/ die Zeit vermondet,/ im Traum/ tut es manchmal noch weh“ (In: Liebe zu Böhmen. Ein Land im Spiegel deutschsprachiger Dichtung. Hrsg. von B. Brandl. Berlin 1990, S. 391). Cibulka betont oft die Sinnlosigkeit des Krieges: „Noch nie habe ich erlebt, daß ein Habicht einen anderen Habicht tötet, ein Tiger den anderen Tiger frißt, nur die Gattung Mensch hat es fertiggebracht, ihre eigene Art durch Kriege zu vernichten“ (In: Tagebücher: Dornburger Blätter, S. 312).
Nach dem Kriege übersiedelte Hanns Cibulka nach Thüringen. Ab 1948 war er an der Thüringischen Landesstelle für Bibliothekswesen in Jena tätig, 1949-1951 besuchte er die Bibliothekarsschule in Berlin und danach wirkte er über 30 Jahre lang, zwischen 1953-1985, als Leiter der Stadt- und Kreisbibliothek in Gotha. Im Jahre 1985 wurde er pensioniert und lebte abwechselnd in seiner Hütte auf dem Hög und in Gotha.
Nach der Revolution im Jahre 1989 unternahm er mehrere Reisen nach Mähren, besuchte seine alte Heimatstadt, über die er erst nach der Wende ausführlicher schreiben konnte:
Was ist das nur für ein Knabe, der seit Tagen vor mir hergeht, dessen Schritte ich nie mehr einholen werde? [...] Mehr als sechzig Jahre sind seit jenen Tagen vergangen, und noch immer steigt die Bitterkeit in mir auf. (In: Am Brückenwehr, S. 21; S. 76)
In seinen Werken wird die prägende Rolle des Vaters in der Erziehung von Hanns Cibulka oft betont. Denn es war vor allem der Vater, der dem Sohn die Liebe zur tschechischen Sprache, der Heimat und der Musik beigebracht hat.
Autorenlesungen dieses „in Mähren geborenen Thüringers“ fanden immer eine große Zuhörerzahl, er las aus seinen Büchern nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Tschechischen Republik vor. Er war ein Mitglied des P.E.N., 1988 bekam er das Ehrendoktorat der Universität Florida; für seine literarischen Arbeiten erhielt er weitere Preise und Auszeichnungen: Louis-Fürnberg-Preis (1973), Francesco-de-Sanctis-Preis (1978), Johannes-R.-Becher-Preis (1978), Kulturpreis der Stadt Gotha (1979), Diploma di merito Accademia Italia (1982), Sudetendeutscher Kulturpreis (1991), Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis (1995). Am 15.12.2000 wurde ihm in Potsdam der brandenburgische Literaturpreis, der Erwin-Strittmatter-Preis, verliehen.
Hanns Cibulka trat vor allem als Tagebuchschreiber und Lyriker hervor. In seinem Werk Sanddornzeit liest man:
Das Tagebuch zählt zu den literarischen Formen, die mich am stärksten faszinieren. […] Tagebuchblätter kennen keine Fabel. In vielen Schichten wird hier das Leben empfunden und gedacht. Jeder Tag ist eine neue Tür, man hält Ausschau nach dem Bruder, ist auf der Suche nach dem eigenen Ich“ (In: Tagebücher: Sanddornzeit, S. 181).
Früher „gehörten Frühling und Sommer der Prosa“ (In: Tagebücher: Dornburger Blätter, S. 318), im Herbst fand er wieder mal den Weg zum Gedicht. Heute schreibt er nur an seinen Tagebüchern: „Wenn ich den Heimweg antrete, trage ich keine Gedichte mehr mit mir nach Haus, die Zeit der Verse scheint für immer vorbei zu sein“ (In: Thüringer Tagebücher: Wegscheide, S. 272).
Sein gesamtes Schaffen ist ein Sammelwerk von schmerzhaften Erfahrungen, kulturellen und ethnischen Erlebnissen und ist stark durch autobiographische Züge geprägt. Das Schreiben bedeutet für ihn einen „Klärungsprozeß, ein Erkenntnisprozeß, Methode des Erforschens, Sinngebung…“ (In: Tagebücher: Liebeserklärung in K., S. 355).
Der „nährende“ Boden, an dem sich das Prosawerk von Cibulka entzündet und weiterspannt, ist die Landschaft, wobei die Zahl der von ihm aufgesuchten Landschaften nicht groß ist: Mähren (das Land seiner Kindheit, Erinnerungen an das Elternhaus in seiner Heimat; Kindheit und Jugend im Altvatergebirge), Polen, Ukraine, Italien und Sizilien (Länder, die er während des 2. Weltkriegs kennengelernt hat), Thüringen (seine Wahlheimat) und schließlich auch die karge Landschaft der Ostsee, die er gern besuchte und die ihm einen seiner Lieblingsschriftsteller, Gerhart Hauptmann, näherbrachte. Die imaginäre, innere Landschaft bilden seine Gedanken und Erinnerungen. Frauen- und Freundesgestalten sind willkommene Gesprächspartner, die den Gedankenaustausch ins Rollen bringen.
Cibulkas erstes prosaistisches Werk, Sizilianisches Tagebuch (1960), datiert vom 12. Mai 1946 bis zum 3. Dezember 1946, ist ein Soldatentagebuch aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft auf Sizilien. Der Ich-Erzähler, aufgrund einer Malariaerkrankung von allen Feldarbeiten befreit und mit der Herstellung einer Telefonverbindung beauftragt, lernt den Dorfpfarrer Don Lorenzo kennen, einen gebildeten Menschen, mit dem er die Texte von Homer, Vergil, Dante und Petrarca liest und bespricht. Er beschreibt sein Leben unter den verarmten, landlosen sizilianischen Bauern, Menschen, die man „jeglicher Tradition beraubt hat, die man wurzellos gemacht hat“ (In: Tagebücher: Sizilianisches Tagebuch, S. 32) - das Leben mit „täglichem Mord und Totschlag unter Gottes freiem Himmel“ (Ebd., S. 42) einerseits und das Leben in der wunderschönen Landschaft Siziliens, mit dem „kräftigen Grün der Orangenwälder und dem Silbergrau der Olivenhaine“ (Ebd., S. 37) unter dem Licht der heißen sizilianischen Sonne andererseits. Das Leben in einer Zeit, als die Zigaretten einen höheren Wert als Geld hatten, da man sie gegen den herben, dunkelroten Wein und Brot umtauschen konnte. Hier wird der junge Soldat auch zum Zeugen eines Bauernaufstands.
Er erinnert sich auch wiederholt an seine Heimat und die in der Heimat Gebliebenen, an das Jahr 1939, das polnische Land und erwähnt zum ersten Mal seine Liebe zu Halina, die dann zum Stoff eines der nächsten Tagebücher Liebeserklärung in K. (1974) wird. Hier besucht Cibulka Kochberg, eine Stadt, in der Goethe seine Geliebte besuchte und an sie Briefe schrieb. Goethes Briefe an Charlotte von Stein dienen dem Autor als Abendlektüre und wecken in ihm Erinnerungen an seine Liebe zu dem polnischen Mädchen Halina, dem er in Kremenez am Kriegsanfang begegnet war. Da beide Städte mit dem gleichen Anfangsbuchstaben beginnen, entschied sich der Autor für die doppeldeutige Titelabkürzung „K.“.
In seinem zweiten Prosawerk, Umbrische Tage (1963), einem Reisebericht vom September 1960, kehrt Cibulka begleitet von seiner Frau und seinem Sohn Stefan nach Italien zurück, um die Landschaft, wo „das Auge, nicht das Gefühl herrscht“ (In: Tagebücher: Umbrische Tage, S. 67), wo „die Individualität des Menschen wie kaum in einem anderen Land geweckt und gefestigt“ (Ebd., S. 85) wird, wieder zu erleben. Er wird zu einem aufnahmefähigen Touristen, dessen forschenden, prüfenden Augen nichts entgeht: Architektur, Malerei, Literatur, Geschichte, das Leben der Einheimischen; große Aufmerksamkeit wird dem Ästhetischen gewidmet. Er macht vor jeder Säule, Kirche, vor jedem Tor halt, die Gebäude treten aus den Zeilen hervor, jeder Pinselstrich der damaligen Künstler wird dem Leser nahegebracht. Dieses Buch ist ein emotional gefärbter, durch eigene Bemerkungen, Eindrücke und Kunstkenntnisse bereicherter Reiseführer, der keinesfalls durch kleine Exkurse (Besuch einer Trattoria, Zimmersuche, das Erinnern) gestört wird. Cibulka versucht, die Botschaft der vergangenen Epochen durch eigene Impressionen dem Leser nahezubringen. Der Leser unternimmt, Cibulkas Zeilen folgend, einen Gang durch Jahrtausende, Jahrhunderte und Jahrzehnte. Von den Sarkophagen des Heidentums, der Wandmalerei der Etrusker, über die Blütezeit der antiken Kunst, die ältere Geschichte Italiens bis zur traurigen Gegenwart (Armut, Arbeitslosigkeit, Kommunismus).
Das dritte Tagebuch, Sanddornzeit (1971), reflektiert Cibulkas Aufenthalt an der Ostsee. Die heiße italienische Sonne und der Wein sind durch die „spröde norddeutsche Landschaft“ der Insel Hiddensee, die „weder der Schauplatz großer Kulturen war, noch [sind] die Radien der Weltgeschichte durch dieses Land gegangen“ (In: Tagebücher: Sanddornzeit, S. 144), ersetzt. Und dies ist der Grund, warum Cibulka diese Insel, „ein Stück Erde außerhalb der menschlichen Zeit, ohne Jugend, ohne Alter“ (Ebd., S. 160), aufsucht. Er glaubt hier den Raum zu finden, den er „mit seinen Worten abgrenzen kann“ (Ebd., S. 180), wo es genug Platz für tiefsinnige Gedanken und Überlegungen über die Botschaft, Wirkung und Aufgabe der Kunst, für die Auseinandersetzungen mit der Literatur (Odyssee, Hauptmann, Goethe…), für die Schilderung der Träume, allgemeiner Wahrheiten, Zukunftsvisionen, Freundschaft, Liebe, Fortschritt und natürlich auch Erinnerungen gibt. Auch hier kann der Leser etwas miterleben: er betritt gemeinsam mit dem Erzähler das Haus von Gerhart Hauptmann, beobachtet den Flug der Schwalben, geht einfach spazieren… Es ist der Leser, an den sich Hanns Cibulka mit seinen scheinbar rhetorischen Fragen wendet.
Im Buch Ruth. Aus den Aufzeichnungen des Archäologen Michael S. (1978) lässt Hanns Cibulka unter dem Motto „Schreiben: auf andere Art dem Leben gerecht werden“ einen gewissen Michael S. erzählen. Der Autor nimmt hier die Rolle eines Herausgebers an. Es erzählt von der Arbeit und Liebe, Erlebnissen, Reflektionen und Erinnerungen eines 47-jährigen, aus Prag stammenden, seit 1946 in Eisenach lebenden Archäologen, bis zu seinem tragischen Tod im Damaskus. Die Gestalt von Michael S. weist autobiographische Züge auf. Zum ersten Mal wird das Leben auch mit der Ideologie der sozialistischen Gesellschaft konfrontiert: Verkehr im Klub der Kulturschaffenden, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands…
Das Buch Swantow. Die Aufzeichnungen des Andreas Fleming (1982) erregte große Aufmerksamkeit. Hanns Cibulka hat in diesem Buch zur Sprache gebracht, was in den achtziger Jahren in der DDR noch nicht öffentlich behandelt werden durfte - das Thema „Umweltzerstörung“. Er klagte die Ignoranz gegenüber Umweltfragen so direkt an, dass der damalige „DDR-Energieminister gegen eine Veröffentlichung Einspruch erhob“ (Internet: Wolfgang Birthler, S. 2). Als aber das Buch doch herausgegeben werden durfte, wurde es zu einem Erfolg. Es war ein Buch mit einer konkreten Botschaft, mit einem mahnenden Kontext.
Das Ostsee-Tagebuch Seedorn (1985) „wurde für die aufkeimende ökologische Bewegung in der DDR zu einem heimlichen Manifest“ (Internet: Berliner Morgenpost vom 20.9.2000). Auch in diesem kleinen 'Memento-Buch' äußert sich Cibulka skeptisch über die Folgen des unbedachten menschlichen Handelns und der Technik: „Das ist kein Ostseewasser mehr, ein fauliger Geruch steigt an den Steilküsten hoch. […] Das Meer, eine giftige viskose Brühe“ (S. 97), des sogenannten Fortschritts, der Bevölkerungsexplosion und betont die Notwendigkeit einer Annäherung an die Natur, denn „auch die Kreatur bedarf der Liebe“ (S. 47).
Wolfgang Birthler hat in der ökologischen Hinsicht auf die Titelzweideutigkeit des Romans Sonnenflecken über Pisa hingewiesen: „auch damit verbinden wir heute nicht mehr allein die romantischen Abendstimmungen unserer Eltern, wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…“ (Internet: W. Birthler, S. 2). Man findet noch eine andere Konnotation. Hanns Cibulka stellt sich immer auf die Seite der Natur: „Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt!“ (In: Tagebücher: Umbrische Tage, S. 118). Es sind aber nicht nur ökologische „Bedrohungen, die von allen Seiten auf den Menschen zukommen“, auf die der Autor im Buch Seedorn (S. 100) aufmerksam macht, in demselben Werk warnt er auch vor einer „seelischen Verkümmerung“ (S. 96), spricht vom einem anderen „Gebrechen unserer Zeit, daß wir für viele Dinge keinen Sinn mehr finden“ (S. 108).
Die Dornburger Blätter (1972) sind kein Tagebuch im eigentlichen Sinne des Wortes. Es geht um aneinander gereihte Briefe und Blätter, die mit einer Überschrift versehen sind, aber ohne genaue Datumsangaben. Seit 20 Jahren lebt der Ich-Erzähler am Nordabhang des Thüringer Waldes, in Dornburg, wo er sich wirklich geborgen fühlt, wo auch sein Lieblingsautor J.W. Goethe mehrmals Zuflucht gefunden hat. Aus der Sicht eines Menschen, der kein Bedürfnis mehr hat, sich auf Reisen zu begeben, beschreibt er die Schönheit der thüringischen Landschaft und wirbt für ihre Natur. Nun geht es ihm um „Daseinserfassung und Wesensvertiefung“ (In: Tagebücher: Dornburger Blätter, S. 226). Seine Werke gewinnen einen literaturwissenschaftlichen Charakter, indem er sich mit der Sekundärliteratur auseinandersetzt (Vortrag über die Schlösser im Raum des Thüringer Waldes). Er denkt über die heutigen Werte nach und sieht sich als einer der letzten Märtyrer, der das Gespräch mit der Natur nicht verlernt hat. Aufs Neue beklagt er die Kluft zwischen Natur und dem Leben des Großstadtmenschen: „Der Großstadtmensch, intelligent, analytisch im Denken, abgespalten von der Natur, sieht nur noch das gesellschaftliche Phänomen. Die Natur […] ist in den Hintergrund getreten…“ (Ebd., S. 235).
Sucht Hanns Cibulka schon in dem Frühwerk den Weg zu neuem menschlichen Miteinander, so wird die Suche nach dem Mitmenschen im Werk Dornburger Blätter noch dringender. Einer der möglichen Wege besteht in der „Arbeit an unserem Ich“ (Ebd., S.314). Cibulka sieht eine große Gefahr in dem Verlust der Tradition. Er beruft sich wiederholt auf die Wertvorstellungen und die geistlichen Ideale der deutschen Aufklärung und Klassik, wobei es ihm meisterhaft gelingt, dem heutigen Leser Goethes Werk nahezubringen. Als Vertreter der alten Ideale mag Cibulka wie ein Moralist wirken, Jürgen Israel nennt ihn einen „wertkonservativen Dichter“.
In Die Heimkehr der verratenen Söhne (1996) hofft er, dass Europa zu einem „Menschenland“ wird, in dem „Prometheus das alles durchdringende Prinzip und Christophorus das Symbol für den Gemeinsinn“ (S. 109) werden. In diesem Werk übt er wiederholte Gesellschaftskritik: er kritisiert die Potenzierung der Gewalt im Fernsehen, Diebstähle und Einbrüche, Spielsucht und Automaten… Die ganze Menschheit sei an einer Krankheit namens „Gewissensschrumpfung“ (Ebd., S. 77) erkrankt, der Menschen wird für die Natur zu einem „lästigen Ausschlag“ (Ebd., S.95). Cibulka sehnt sich nach dem Damals und legt dem Leser eine warnende, erschreckende und mahnende Zukunftsvision vom Sommer 2090 vor.
Im Werk Wegscheide. Tagebucherzählung (1988), einem Gemisch von Zitaten, Gedanken und Erinnerungen, prangert der Autor das besitzorientierte Denken der Menschen und die Habgier von heute an. Auch hier findet man Überlegungen über die heutige Welt, über das menschliche Zusammenleben, über die Sprache, über das Wesen der Freundschaft und Umweltgedanken. Cibulka, jetzt schon Rentner, kehrte in der Zeit vom 21. März bis Mitte Dezember in seine Hütte auf den Hög zurück, um hier ungestört mit seinen Gedanken und Erinnerungen zurückgezogen leben zu können. Retrospektiv erzählte er von seinen Kindheits- und Jugendjahren. Er pflegte seinen Freund Robert zu besuchen, ging im Thüringer Wald spazieren und setzte sich mit der Wanderer-Fantasie von Schubert auseinander, mit jener Musik, die bei ihm Erinnerungen an die verlorene Heimat hervorrief.
In Cibulkas letztem Werk und zugleich seinem einzigen Roman Sonnenflecken über Pisa (2000) unternimmt der Ich-Erzähler, von einer anfänglichen Lektüre einer Annonce gelockt, eine Italienreise. Er kehrt nach 50 Jahren in die italienische Landschaft zurück, wo er einen Teil der Kriegszeit als Wehrmachtssoldat verbracht hat. Er erinnert sich an die Schönheit der im Jahre 1943 von ständigen Luftangriffen der Alliierten bedrohten Landschaft. Er sucht die Spuren des amerikanischen Dichters Ezra Pound, der wegen „unzeitgemäßer Kritik an der amerikanischen Sache“ und seiner „Sympathie für den italienischen Faschismus“(S. 29) ins Lager eingewiesen wurde. Die Suche nach dem Dichter, der „einer der bedeutendsten Dichter unserer Zeit“ (S. 28) gewesen sei, beginnt mit der Lektüre seiner geheimnisvollen „Pisaner Gesänge“ und endet mit dem Besuch der Friedhofsinsel von San Michele, wo Pound begraben liegt. In leichten Variationen wird hier das Thema der früheren Werke aufgegriffen. Auch dieses Buch ist ein Gemisch von leicht verschwommenen Kriegserinnerungen, von Beschreibungen gegenwärtiger Erlebnisse und Reflexionen.
Gemeinsam mit diesem Roman wurde das Werk von 1989 Nachtwache herausgegeben, nur diesmal ohne Epilog. Der Schriftsteller setzt die Mosaiksteine seines Lebens zusammen - wieder sind die Kriegserlebnisse von 1943 präsent, werden mit den Ausschnitten aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht und Erinnerungen an die an der Ostfront geschlossene Freundschaft mit Arno konfrontiert, und durch zahlreiche antike Zitate und Goethes Lektüre bereichert. Das Jetzt und Damals sind nur durch drei Fortsetzungspunkte voneinander zu unterscheiden.
Das Zentralthema von Hanns Cibulka ist die Erlebniswelt zwischen Herkunft und Zukunft. Sein Werk ist ein Komplex aus „Zurückspulen“ (Erinnern an das Vergangene), Auseinandersetzungen mit dem Gegenwärtigen und Gedanken über das Zukünftige. Seine Bücher sind keine langweiligen schwarz-weißen Schilderungen, sie ähneln eher tiefsinnigen Meditationen, sind eine Art von Prosa, „die auch die tieferliegende Schichten in unserem Leben aufreißt und nicht nur wie der Pflug die obere Kruste durchstößt“ (In: Tagebücher: Dornburger Blätter, S. 256). Der Leser wird durch den allgegenwärtigen Appell zum intensiven Mitdenken, Umdenken und Weiterdenken aufgefordert. Der Autor bietet keine Lösungen an, denn eine fertige Meinung sei „das Billigste, was ein Schriftsteller seinem Leser heute anbieten kann; die großen Werke der Weltliteratur gleichen einer Landkarte, keinem Wegweiser“ (In: Seedorn, S. 55).
Durch das ganze Werk von Cibulka weht ein poetischer Atem, man begegnet der Rose, „Königin des Gartens“ (In: Tagebücher: Dornburger Blätter, S. 275), dem „Sonnendrachen, der mit seinen gelben Pranken Mensch und Tier bedroht“ (In: Tagebücher: Umbrische Tage, S. 108), dem Wind, der „hungrig die verbliebenen Schneefelder aufleckt…“ (In: Thüringer Tagebücher: Wegscheide, S. 188), dem Sommer, „der schwanger durch die Felder geht“ (In: Die Heimkehr der verratenen Söhne, S. 76).
Hanns Cibulka kann man aber häufige Bilderwiederholungen und Selbstzitationen vorwerfen, was an der beschränkten Thematik liegen mag. Nach Ulf Heise neigte der alternde Autor „zum klischeehaften Lamento, schwimmt in Emotionen und erreicht die frühere Gedankentiefe nicht mehr“ (KLG – 10/99, S. 7).
Cibulka ist nicht als Heimatdichter zu sehen. Das Attribut „Sudetenland“ meidet er grundsätzlich. Seine Leistung ist vor allem darin zu sehen, dass er Brücken zwischen den Kulturen in Europa schlug.
(Štěpánka Kuříková, Olmütz)