Emma Grüner
Emma Grüner war eine gewandte Erzählerin und eine Sammlerin der Sagen aus dem Umland der Mohra. Neben drei Romanen schrieb sie Erzählungen für Zeitschriften und Zeitungen. Großen Widerhall fand ihre Sammlung Sagen aus Schlesien, mit der sie bisher nur mündlich tradierte Volkssagen der Vergessenheit entriss.
Viele kennen das Mohratal, und allen, die es sehen, gefällt es. Aber von den Geistern, die dort umgehen, wissen nur wenige. Aus den umliegenden Gebieten sind viele Sagen ausgegraben und gesammelt worden. Im Mohratal hat man noch nicht geschürft.
Mit diesen Sätzen erläutert sie im Vorwort das Motiv für ihre Sagensammlung aus dem Grenzgebiet zwischen dem einstigen Österreich-Schlesien und Nordmähren. Das Flüsschen Mohra bildete nie eine Grenze zwischen zwei Volksstämmen, es ist eine alte Verwaltungsgrenze aus der k.u.k. Monarchie. Deshalb war es von Emma Grüner folgerichtig, in die Sammlung sowohl Sagen aus Schlesien wie aus Nordmähren aufzunehmen.
Die in Wigstadtl als Tochter eines Steuereinnehmers geborene Autorin besuchte in Bielitz die Volksschule, in Friedek die Bürgerschule und in Troppau das Lehrerinnenseminar. Troppau wurde ihre zweite Heimat, wo sie zusammen mit ihrer verwitweten Mutter lebte. Sie unterrichtete einige Jahre an der Fortbildungsschule, war aber dem anstrengenden Sprechen nicht gewachsen und ließ sich frühzeitig pensionieren, um ganz ihren literarischen und volkskundlichen Neigungen zu leben. Daneben erteilte sie Privatunterricht und pflegte ihr künstlerisches Talent durch den Besuch von Malkursen in Wien und München.
Am Anfang ihrer Laufbahn als Schriftstellerin stand der heute verschollene Roman Das Kupferne Schloss (Erscheinungsjahr unbekannt). Dass der renommierte Ullstein-Verlag das Manuskript zur Veröffentlichung annahm, empfand sie als Auszeichnung und Ansporn. Durch den Roman wurde Emma Grüner über die engere Heimat hinaus bekannt. Es mag für sie eine schmerzliche Erfahrung gewesen sein, dass zwei weitere Romane unveröffentlicht blieben und in den Kriegs- und Nachkriegswirren verloren gingen.
Die Anregung zu den Sagen aus Schlesien erhielt sie als junges Mädchen, als sie die Ferien in einer einsamen Mühle in der Nähe von Alt-Lubitz an der Mohra verbrachte. Dort lernte sie eine alte Frau kennen, die ihr manche Geschichte aus dem Mohratal erzählte. Sie hieß Florentine Noske und ist im Jahre 1912 gestorben. Was sie erzählte, hatte sie von ihrer Großmutter und anderen sehr alten Leuten gehört, die von den Sagen wie von Urväterüberlieferungen sprachen. Über ihre Eigenart schreibt sie im Vorwort zu den Sagen aus Schlesien:
Die Gespenster, die im Mohratal umgehen, sind - zu dem Charakter der Gegend passend - nicht gar düster und unheimlich oder bösartig. An erster Stelle steht der Wassermann, der die Müller und Jäger neckt und sich manchmal unter den schönen Töchtern des Tales eine Braut erwählt. Um die Burg Wigstein, die von den Bauern das „wüste Schloss“ genannt wird, geistert es noch kräftig. Auch der Teufel geht in mancherlei Gestalt um, und in den Tiefen der Berge, zu denen die vielen Stollen der Schieferbrüche Zugänge geschaffen haben, wohnt ein fremdartiges Geschlecht, mit dem man sich besser nichts zu tun macht. (...) Zuweilen können auch die Toten auf den kleinen Dorfkirchhöfen oder in vergessenen, ungeweihten Gräbern nicht schlafen, weil sie ein allzu heiss geliebtes Erdengut nicht verschmerzen können oder weil sie böse Taten abbüssen müssen. (...) Man liebt eine Gegend besser, wenn man ihre Geister und Gespenster kennt - die Geister und Gespenster, die nichts anderes sind, als das in vielen Spiegeln der vielen Gemüter aufgefangene, seltsam verschönte oder verzerrte Bild der einen einheitlichen Seele des Volkes, das, mit seiner Heimat verwachsen, untrennbar eins mit ihr ist.
In ihrer Erzählweise trifft Emma Grüner gut den knappen Sagenstil. Sie schreibt schnörkellos, ohne künstliche Dramatisierung und unter Bevorzugung kurzer Sätze, so dass man aus den Geschichten noch den mündlichen Erzählton ihrer Gewährsleute herauszuhören meint.
Die meisten Sagen knüpfen an lokale Besonderheiten des Mohratales an wie Burgruinen, Kirchen, merkwürdig geformte Felsen, Bodenspalten oder Wegkreuze. Ein kennzeichnendes Beispiel ist die Sage Das Aeltersteingescheech (Aelterstein = alter Stein, Gescheech = Gespenst). Sie erzählt, wie der große Felsklotz am Mohraufer bei Wigstein an seinen heutigen Platz gekommen ist und warum es dort gelegentlich spukt.
In Niederwigstein lebte ein junger Mensch, der nicht ganz richtig im Kopf war und der die Fallsucht hatte. Man hiess ihn den „Tappi“, und er war allen ein Gespött. Deshalb ging er den Menschen gern aus dem Weg und treib sich den ganzen Tag bei der Mohra herum; er konnte mit der Hand Fische fangen, und den Steinen sah er es wohl von aussen an, ob Krebse darunter waren.
Ein einziger Bursch im Dorf, ein wohlhabender Bauernsohn, war gut zu ihm und nahm ihn oft in Schutz, wenn die anderen ihn gar zu boshaft neckten. An ihm hing der Tappi wie ein treuer Hund. Die beiden waren oft an der Mohra zusammen und vergnügten sich bei Fischerei und Krebsfang.
Später zieht der Bauernsohn aus dem Dorf weg, und als er nach Jahren wieder heim kommt, sind seine Angehörigen gestorben. In Erinnerung an seine Jugendzeit geht er an die Mohra zum Fischen. Da sieht er den Tappi, der ihm zuwinkt. „Der Tappi lachte, hüpfte im Wasser herum und schrie immerzu: „Kumm´ och har! Kumm´ och har!“ (Komm doch her!) Der Fischer ist über die Störung verärgert und versucht, den Tappi wegzuscheuchen, aber vergebens. Tappi schreit weiter. Zornig geht der Fischer auf ihn zu.
Aber kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, als im Berg ein Gerumpel losging wie von einem eingesperrten Donner. Dann brach ein schauerliches Getöse los und mit furchtbarem Krachen stürzte etwas dicht am Ufer hin, dass die Erde bebte.
Als der Fischer sich wieder aufraffte, sah er, dass auf dem Fleck, wo er gesessen hatte, ein übermannshoher Felsblock lag, der lange Angelstock schaute an einer Stelle noch darunter hervor. Da merkte er, dass er dem Tappi sein Leben verdankte und sah nach ihm um. Er fand ihn nicht und meinte, er werde vor Schreck wohl in den Wald gelaufen sein.
Erkundungen im Dorf ergeben, dass Tappi schon längst tot ist. Er wurde zufällig in der Mohra gefunden, sein Körper war von Krebsen zerfressen. Niemand traute sich, ihn zu begraben. Deshalb findet er nach dem Tode keine Ruhe und treibt seinen Spuk mit Wanderern, die beim Felsen an der Mohra vorbeikommen.
Von den insgesamt neunzehn Sagen stammen nicht alle aus dem Mohratal. Je zwei spielen sich in Jägerndorf und in Olbersdorf ab, eine in der Nähe von Odrau. Zwei Sagen fallen durch ihren legendären Charakter aus dem Rahmen. So berichtet die Erzählung Das wunderliche Bild von dem Grafen der Burg Wigstein, er habe in höchster Lebensgefahr das Gelübde gemacht, im Falle seiner Rettung auf jedes Liebesglück zu verzichten und Mönch zu werden. Doch bald nach der glücklichen Rettung will er davon nichts mehr wissen und beschließt, ein edles Fräulein zu heiraten. Seine Mutter ist darüber sehr traurig. Von einem bekannten Abt erhält sie ein Fläschchen mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit, die sie dem Sohn in einen Becher Wein mischt. Kaum hat er davon getrunken, stößt er die Braut von sich und stürzt davon. Wie er später erzählt, hat er plötzlich das vorher so geliebte Antlitz der Braut als grausigen Totenkopf gesehen, ihn habe Entsetzen darüber erfasst, dass er knapp daran war, „die Seligkeit seiner unsterblichen Seele für eine flüchtige Lust dahinzugehen“. Er verlässt die Braut und tritt in ein Kloster ein. An dieses Ereignis erinnert das Bild einer prächtig geschmückten Frau mit einem grinsenden Totenschädel, das noch um 1920 an einem Bauernhaus in der Nähe der Ruine Wigstein zu sehen war. In der zweiten Sage mit dem Titel Der abtrünnige Priester erhält ein gegen das Zölibatsgesetz verstoßender Priester die verdiente Strafe. Die Entstehung der beiden legendenhaften Sagen dürfte auf die Zeit der Rekatholisierung des bis zum 17. Jahrhundert weitgehend protestantischen Mähren zurückgehen, möglicherweise handelt es sich auch um die Umarbeitung älterer Sagenmotive.
Die biographischen Lexika von Sturm (München 1979) und Heiduk (Berlin 1990) enthalten irreführende Angaben zur Bibliographie Emma Grüners. Heiduk führt neben den zwei Sagensammlungen von 1929 und 1956 eine dritte Veröffentlichung auf: „Märchen und Sagen aus Schlesien, o.O.u.J.“. Sturm kennt zwei Sammlungen, nämlich Nordmährisch-schlesische Sagen, 1956, und „Märchen und Sagen aus Mähren und Schlesien (o.J.)“. Aber diese „Märchen und Sagen“ hat es nie gegeben. Der Irrtum geht zurück auf Fritz Eichler, bei dem erstmals dieser Titel „Märchen und Sagen“ auftaucht und der damit offensichtlich die Sagen aus Schlesien meint. Die Angabe einer dritten Sagensammlung bei Heiduk kann auch deshalb nicht stimmen, weil Weiser, der mit Emma Grüner aus seiner Tätigkeit als Redakteur der „Freudenthaler Zeitung“ bekannt war, die von ihm posthum herausgegebenen Nordmährischen-schlesischen Sagen ausdrücklich als zweiten Band bezeichnet.
Die von Emma Grüner gesammelten Sagen haben heute vorwiegend historische Bedeutung. Bei der deutschen Bevölkerung des Mohratales, die infolge der Vertreibung in ganz verschiedenen Teilen Deutschlands lebt, verblasst die Erinnerung an die Sagen immer mehr, zumal die jüngere Generation ohne Bezug zur Heimat der Eltern aufgewachsen ist. Für die nach 1945 in der Region angesiedelte tschechische Bevölkerung könnten die Sagen jedoch durch ihre identitätsstiftende Funktion das Entstehen eines Heimatbewusstseins fördern. Vorstellbar wäre eine tschechische Bearbeitung der Sagen und ihre Verwendung im Schulunterricht.
Angeregt durch die Beschäftigung mit alten Sagen mit ihrer Mischung aus Phantasie und Realität schrieb Emma Grüner eine Reihe Erzählungen unter der Leitidee „Seltsame Geschichten“. Einige erschienen in Zeitungen und Zeitschriften, die Erzählung Der Trauerflor wurde 1931 von der Zeitschrift „Deutschmährische Heimat“ (Brünn) mit einem Preis ausgezeichnet. Bei diesen Arbeiten steht der ungewöhnliche Handlungsverlauf im Vordergrund, die Menschen gewinnen kein Leben und bleiben schemenhaft, so dass es Grüner nicht gelingt, das äußere Geschehen aus dem Charakter der Personen heraus zu entwickeln. Beispielhaft dafür ist die Erzählung Das fremde Kind, die von Frau Bergmann berichtet, deren erstes Kind Lilli im dritten Lebensjahr stirbt. Die Frau bringt drei weitere Mädchen und zwei Söhne zur Welt und Lilli gerät in den folgenden Jahren in Vergessenheit. Im Alter vereinsamt Frau Bergmann, sie empfindet ihre Kinder als egoistisch, weil sie keinen Kontakt mit ihr suchen („Aus ihren Briefen klang nicht die Sehnsucht, die Mutter wiedersehen zu wollen, sie in der Nähe zu haben“). In ihrer Schwermut muss sie immer öfter an die frühverstorbene Lilli denken, wünscht sich, sie bei sich zu haben. Am Allerseelentag besteigt sie den Zug und fährt in ihre Heimatstadt zu Lillis Grab. Am Friedhof herrscht Gedränge, müde setzt sie sich auf die Grabeinfassung - und traut ihren Augen nicht, als auf einmal ein kleines Mädchen auf sie zukommt. Offenbar hat es sich verlaufen. Aber keiner holt das Kind ab, Nachforschungen nach seiner Herkunft bleiben erfolglos, schließlich erlauben ihr die Behörden, das Mädchen zu behalten. Die Erzählung schließt mit den Sätzen: „Frau Bergmann lebte selige Zeiten mit ihrem wiedergekommenen Kind. Und sie durfte das neue Glück geniessen bis zuletzt, denn sie erlebte Lillis selbstsüchtige Jugendjahre nicht mehr.“
Emma Grüner kam nach der Vertreibung 1946 mit ihrer Schwester nach Perach am Inn im Landkreis Altötting und versuchte, die verloren gegangenen Manuskripte aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Es entstanden die Romane Das Fremde und Professor Hinkel, das Hörspiel Jury und die Novelle Walthers Enkelin. Die Sammlung mit acht Seltsamen Geschichten ergänzte sie durch sechs Erzählungen mit dem Sammeltitel Seltsame Verbrechen. Keine dieser Arbeiten wurde veröffentlicht, wohl aber im Jahre 1956 der zweite Sagenband unter dem Titel Nordmährisch-schlesische Sagen. Es war ihr gelungen, die Entwürfe zu der Sammlung aus Troppau mitzubringen. Nach ihrem Tod ordnete ihre Schwester den Nachlass. Sie hatte vor, die Manuskripte einem Archiv zur Aufbewahrung zu übergeben, doch scheint ihr Tod diesen Plan vereitelt zu haben. Die Nachforschungen nach dem Nachlass sind bisher erfolglos geblieben.
Julius Bittmann, Altötting
Bibliographie
Selbständige Publikationen:
Das Kupferne Schloss. Roman. Berlin Ullstein [o. J.].
Sagen aus Schlesien nach neuen Forschungen gesammelt. Troppau Heinz & Comp. 1929.
Nordmährisch-schlesische Sagen nach neuen Forschungen. Mit einem Geleit von Erwin Weiser. Inning am Ammersee Gödel 1956. Bd. 2.
Erzählungen in Sammelwerken:
Das fremde Kind. Eine Allerseelengeschichte. In: Heimatjahrbuch Ostsudetenland. Inning am Ammersee Gödel 1957. Bd. 4, S. 71-74.
Maya. In: Eichler, Fritz: Erzähltes Erbe. Auslese ostsudetendeutscher Erzählkunst. Heidelberg Odertor 1961, S. 267-276.
Der alte Vatter. In: Eichler, Fritz: Erzähltes Erbe. Auslese ostsudetendeutscher Erzählkunst. Heidelberg Odertor 1961, S. 247-267.
Sekundärliteratur:
BITTMANN, JULIUS: Erinnerung an Emma Grüner. In: Buchkalender 2004 für Sudeten-Schlesien und Nordmähren. Nürnberg Preussler 2003, S. 114-116.
Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder. Hrsg. im Auftrag des Collegium Carolinum von Heribert Sturm. München Oldenbourg 1979. Bd. 1, S. 479.
EICHLER, FRITZ: Emma Grüner. In: Erzähltes Erbe. Auslese ostsudetendeutscher Erzählkunst. Heidelberg Odertor 1961, S. 276-277.
HEIDUK, FRANZ: Oberschlesisches Literatur-Lexikon. Berlin Mann 1990. Bd. I, S. 133.
KÖNIG, JOSEF WALTER: Emma Grüner. In: Das Schrifttum des Ostsudetenlandes. Wolfratshausen Gödel 1964, S. 36.
WEISER, ERWIN: Emma Grüner. Vorwort zu Nordmährisch-schlesische Sagen. Inning am Ammersee Gödel 1956. Bd. 2, S. 5-6.