Ludwig Winder: Die jüdische Orgel

Roman
Jahr der Publikation
1922
Verlag
Rikola
Publikationsort
Wien
Gattung
Roman
Bibliographische Daten
Die jüdische Orgel. Roman. Rikola, Wien u.a. 1922.
Art der Veröffentlichung
Separate Veröffentlichung

Wolf Wolf, der Rabbi einer kleinen Stadt in der Nähe von Prerau sieht die nahe liegende Stadt als Ort der Sünde:

Ein blauer Sonntagsmorgen warf goldene Lichter auf die kleine Kinderwange, auf die große Mutterbrust, Wolf wandte sich ab, stürzte hinaus. Die Judengasse roch nach Leder, Schnaps, Fleisch, jeder Geruch umhüllte einen Mann, der vor sei­nem Laden stand, »Maseltow« rief. Wolf nickte jedem Gratulanten kühlen Dank zu, bei keinem blieb er stehen, staunend sah die Judengasse, daß Wolf durch das Tor der Christengemeinde schritt, breit, ungetüm, Christenkinder höhnten »Jüd, Jüd«. Auf dem Marktplatz war Weih­rauch, Gedröhne von Glocken, eine Prozes-sion mit weißgoldnen Priestern, roten Fahnen; Bäue­rinnen in kurzen breiten Röcken, hohen Röh-renstiefeln umkreisten die Kirche. Wolf ging nicht mehr, er lief, er mißhandelte seinen wider­spenstigen fetten Körper; endlich lag das Laute hinter ihm, Felder und Wiesen dehnten sich be­ruhigend bis ans Ende der Welt. Zwischen zwei Feldern legte Wolf sich nieder. Am Horizont blitzte ein Punkt, das war Prerau. Wolf stand auf; er legte sich so, daß er den blitzenden Punkt nicht sehen konnte. Nichts wissen wollte er von der sündigen Stadt, wo eine Orgel im Tempel spielte. Von ihm hatte man verlangt, daß er Kan­tor in einem Tempel mit einer Orgel werde, die Prerauer Ketzer hatten das verlangt, doppelten Gehalt versprochen, in den Tempel hatten sie ihn gelockt, ahnungslos war er der Einladung gefolgt, plötzlich hatte die Orgel gedröhnt. Hinausgetaumelt war er, der Prerauer Kultusvorstand ihm nach, der Sünder, der zum Gottesdienst aufspie­len ließ wie zum Tanz. (S.