Ernst Tugendhat gehört zu den wenigen Persönlichkeiten, die als Wissenschaftler Aufnahme in dieses Literatur-Lexikon gefunden haben. Dies nicht nur, weil Tugendhat zu den meistgelesenen deutschsprachigen Philosophen gehört, sondern auch, weil der Name „Tugendhat“ durch die von Mies van der Rohe 1929/30 erbauten Villa wie kaum ein zweiter für das Kultur- und Geistesleben im Brünn der Zwischenkriegszeit steht, wie umgekehrt jenes Umfeld nicht ohne Einfluss auf das Leben und wohl auch das Schaffen Ernst Tugendhats gewesen sein dürfte.
Es sind bis heute zwei Fragen, die sich dem Besucher der Villa Tugendhat stellen. Von der einen berichtet die Mutter von Ernst Tugendhat, Grete: „Man fragt mich immer, wie es dazu kam, daß wir als Brünner in Brünn ein Haus von Mies van der Rohe bauen ließen.“1 Die zweite Frage wurde erstmals von Justus Bier 1931 in der Zeitschrift Die Form gestellt: „Kann man im Haus Tugendhat wohnen?“2 Die Antwort auf die Frage nach der eigentlichen Baugeschichte sei hier nur insofern angedeutet, als sie das engere biographische Umfeld von Ernst Tugendhat betrifft. Seine Mutter entstammt als Tochter von Marianne und Alfred Löw-Beer einer der bekanntesten Industriellen-Familien der Tschechoslowakei. Vor ihrer Hochzeit mit Fritz Tugendhat lebte Grete längere Zeit in Berlin, wo sie Bekannschaft mit der Architektur von Mies van der Rohe gemacht hatte. Ihre Eltern schenkten ihnen dann das Grundstück zur Hochzeit und finanzierten den Bau. Davon, dass die Villa in Brünn in gewisser Weise ihren geistigen Ort gefunden hatte, berichtet Daniela Hammer-Tugendhat im Zusammenhang mit dem elterlichen Haus in St. Gallen3:
The house in St. Gallen was built 28 years after the Brno house, and was a plain construction in comparison, though many Swiss found it quite shocking. In St. Gallen´s local newspaper it was described as a mixture bet-ween a pigsty and an Indian mosque. At school, children would shout after me: „That´s the girl from the pigsty.“ My mother never told me of similar reactions in Brno. Between the wars, the city was a centre of cul-tural activity, and could boast an outstanding architecture; one only has to mention architects such as Bohuslav Fuchs, Arnošt Wiesner, Otto Eisler, Jindřich Kumpošt or the marvellous Trade Fair area.
Die Tatsache, dass die Familie Tugendhat in St. Gallen ein in der Konzeption vergleichbares Haus bauen ließ, lässt kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass für sie die Brünner Villa bewohnbar war – sie dort ihrerseits einen geistigen Ort gefunden hatte. Aus dem bereits zitierten Bericht von Grete Tugendhat wird deutlich, wie groß die Übereinstimmung zwischen Architekt und Bauherr in ihrem Fall gewesen ist. Wie tief diese Übereinstimmung gegangen sein mag, sei hier dahingestellt.4 Für unseren Zusammenhang ist allerdings von Interesse, dass Grete und Fritz Tugendhat mit der Philosophie Heideggers vertraut waren, enge Freunde von Grete Tugendhat bei Heidegger studiert hatten.
In jedem Falle dürfte das Leben im Hause nicht allzu lange frei von Sorge gewesen sein. Bereits 1933 engagierte sich Grete Tugendhat für aus Deutschland kommende Flüchtlinge. 1938 waren die Tugendhats dann selbst Flüchtlinge, sie emigrierten zunächst in die Schweiz, später dann nach Venezuela. Rechtzeitig, denn5:
Many members of our family only recognized the danger they were in when it was too late, like my father´s mother and sister who were sent to Theresienstadt and later to an extermination camp. My mother´s father died under unknown circumstances when he tried to escape.
Die Emigration bestimmte damit Ernst Tugendhats Kindheit und Jugend: Von 1936 bis 1938 besuchte er in Brünn die tschechische, von 1938 bis 1940 in St. Gallen die schweizerische Volksschule und schließlich von 1941 bis 1945 in Caracas/Venezuela das Colegio Americano – eine amerikanische Highschool, in der er auf Spanisch und Englisch unterrichtet wurde.
Nachdem er 1949 in Stanford den Bachelor of Arts mit dem Hauptfach Klassiche Philologie erworben hatte, ging Tugendhat, früh begeistert von Heideggers Philosophie, nach Freiburg, um dort bei Martin Heidegger zu hören – ein für einen jüdischen Emigranten sicherlich ungewöhnlicher Schritt, was Tugendhat allerdings, wie Stefan Gosepath schreibt, „erst viel später bewusst wurde“6. Mit einer Arbeit über Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe (TI KATA TINOS) promovierte Tugendhat 1956 bei Karl Ulmer in Freiburg. Zunächst in Münster (1956 – 1958), dann in Tübingen, wo Tugendhat von 1960 bis 1966 Assistent bei Ulmer war, bereitete er seine Habilitation vor, die er 1966 mit der Schrift Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger abschloss. In dieser Arbeit findet sich erstmals die für Tugendhat bestimmende Konzeption von Philosophie:
[…] `Philosophie´, im weitesten und zugleich ursprünglichsten Sinn dieses Wortes, steht für die Idee, das menschliche Leben im ganzen auf Wahrheit auszurichten, d. h. für die Idee eines Lebens in kritischer Verantwortlichkeit. (Tugendhat 1967, S. 1)
Waren diese frühen Arbeiten von der (auch kritischen) Auseinandersetzung vor allem mit Heideggers Philosophie geprägt, stand die sprachanalytische Philosophie von Tugendhat, der er sich nach seinem kurzen Aufenthalt als „visiting lecturer“ (Januar bis April 1965) an der University of Michigan mehr und mehr zuwandte, unter dem Einfluss Wittgensteins, so in seiner Hinwendung auf die formale Semantik („Die Frage nach der Möglichkeit der Vernunft findet also ihre Antwort in einer Semantik der assertorischen Sätze.“7). Tugendhats Beschäftigung mit einer sprachanalytisch Ersten Philosophie fällt biographisch im Wesentlichen zusammen mit seiner Professur für Philosophie in Heidelberg (1966 – 1975). Es ist nicht nur das Verdienst Tugendhats, die angelsächsische analytische Philosophie im deutschen Sprachraum etabliert, sondern auch „der analytischen Philosophie durch ihre Anwendung auf klassische philosophische Probleme ein Traditionsbewußtsein vermittelt zu haben“8.
Von 1975 bis 1980 arbeitete Tugendhat an dem von Jürgen Habermas geleiteten Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Obschon Tugendhat bereits in Heidelberg (in den Wintersemestern 1967/68 und 1973/74) über Ethik gelesen hatte, markieren die Starnberger Jahre und hier insbesondere das u. a. mit U. Rödel bearbeitete rechtssoziologische Projekt über die Entwicklung von moralischen Begründungsfragen in der Geschichte des modernen Rechts (1977 - 1979) Tugendhats Hinwendung zur Moralphilosophie: „In den langen Diskussionen mit Jürgen Habermas, zu denen ich zu jener Zeit Gelegenheit hatte, ergab sich eine Frontstellung meiner semantischen gegenüber seiner pragmatischen (kommunikativen) Begründungskonzeption [von Moral].“9 Eine Auffassung, deren „Unhaltbarkeit und Naivität“ Tugendhat anlässlich seiner ersten Berliner Vorlesung im Sommersemester 1980 selbst erkannte: „Sie scheitert einfach daran, daß man aus der bloßen Bedeutung eines Wortes […] nichts moralisch Substantielles herleiten kann“1o.
Sowohl während seiner Zeit an der Freien Universität Berlin (bis zu seiner Emeritierung 1992) als auch in den folgenden Jahren, in denen Tugendhat zahlreiche Gastprofessuren wahrnahm (u. a. in Santiago de Chile, Zürich, Wien und Prag), war und blieb die Beschäftigung mit Moral ein Schwerpunkt seines Schaffens. Angesichts der Vielzahl seiner sich immer wieder ergänzenden und revidierenden Arbeiten über Moral sei an dieser Stelle nur auf den „springenden Punkt“, wie er sich aus Tugendhats heutiger Sicht darstellt, aufmerksam gemacht:
Eine Moral ist ein System wechselseitiger Forderungen. Deswegen kann man den Begriff des moralisch Guten nur so verstehen, wie ihn Rawls in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ in § 66 definiert: Moralisch gut ist, wer sich so verhält, wie wir (die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft) es wechselseitig voneinander fordern. […] Eine Begründung von Moral kann nur den Sinn haben, daß sich die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft wechselseitig begründen, die Normen dieser Moral zu akzeptieren; das aber heißt: ihnen in der Disposition zu den komplementären Gefühlen von Empörung und Schuld Nachdruck zu verleihen. (Tugendhat 2001, S. 7 f.)
Über sein philosophisches Wirken im engeren Sinne hinaus hat sich Ernst Tugendhat in der Öffentlichkeit auch einen Namen durch sein politisches Engagement für Frieden und Gerechtigkeit (Friedensbewegung, Asylrecht, Golfkrieg u. a.) erworben. Immer wieder meldete er sich auch in aktuellen Debatten zu Wort (deutsch-jüdisches Verhältnis, Euthanasie-Debatte, Sloterdijk-Affäre u. a.).
Ernst Tugendhat lebt heute in Tübingen.
1 Tugendhat, Grete: Zum Bau des Hauses Tugendhat. In: Bauwelt 60. Jg. (1969), Bd. 36, S. 1246 - 1247.
2 Dies war in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift. In der folgenden Nummer vom November findet sich die Antwort von Grete und Fritz Tugendhat. Dass die Frage bis heute aktuell ist, zeigt Daniela Hammer-Tugendhat in dem von ihr mit Wolf Tegethoff herausgegebenen Buch Ludwig Mies van der Rohe - The Tugendhat House (Springer, Wien/New York 2000), in dem sie vom Vater Fritz Tugendhat gemachte Familienaufnahmen veröffentlicht, um somit einen Eindruck zu vermitteln, „how the family actually lived in the house“ (S. 2).
3 Hammer-Tugendhat in Hammer-Tugendhat/Tegethoff (Hgg.), S. 27.
4 Siehe dazu und zum Folgenden Hammer-Tugendhat in Hammer-Tugendhat/Tegethoff (Hgg.), S. 29 – 34.
5 Hammer-Tugendhat in Hammer-Tugendhat/Tegethoff (Hgg.), S. 26.
6 Stefan Gosepath in der Frankfurter Rundschau vom 8. März 2000: Jenseits von Sein und Bewusstsein. Der Philosoph Ernst Tugendhat wird heute 70 Jahre alt.
7 So in Tugendhat 1976. Das Zitat entstammt der 7. Vorlesung, Entwurf einer praktischen Idee von Philosophie, das zugleich erste Ansätze des späteren moralphilosophischen Schaffens von Tugendhat enthält. S. 122.
8 Hügli/Lübcke 1991, S. 636.
9 Tugendhat 1984, S. 6.
10 Ebd.
(Stefan Schäfer, Olmütz)
Hinweis zu den Werken:
Tugendhat 1992 enthält eine Bibliographie der wichtigsten Aufsätze und Rezensionen Tugendhats bis zu diesem Zeitpunkt. Für die neuere Zeit siehe Tugendhat 2001.
Hinweis zur Sekundärliteratur:
Stefan Gosepath (in Nida-Rümelin) gibt eine fundierte Zusammenfassung des philosophischen Schaffens von Tugendhat. Es finden sich hier auch Angaben zu weiterführender Literatur.