Das Werk dieses Philosophen, Malers und Architekten mit Wurzeln im mährischen Raum ist heute in Vergessenheit geraten.[1] Wenn man genauer hinsieht, stellt man allerdings fest, dass erschwerend hinzukommt, dass es eigentlich auch nie ins öffentliche Bewusstsein gelangt ist – oder besser gesagt: gelangen konnte. Denn Kestranek stellte zeitlebens an sich resp. sein Werk die höchsten Ansprüche und verhinderte so, in vorauseilender Selbstzensur, vor allem selbst eine regere Publikationstätigkeit.
Geboren wird er als Sohn einer ungarischen Mutter und eines böhmischen Vaters in Prerau. Die Familie Kestranek zählt später zu einer der erfolgreichsten Industriellenfamilien der untergehenden Donaumonarchie.[2] Das zweite von insgesamt sieben Kindern muss später notgedrungen aus Wien, wohin die Familie nach der Versetzung des Vaters, eines leitenden Angestellten bei der Kaiser Ferdinands-Nordbahn zieht, nach Troppau wechseln, nachdem Schulprobleme immer virulenter geworden waren. Erst der Tod des Vaters Johann führt zu seiner Rückkehr in die Reichshauptstadt. 1892 legt Hans Kestranek erfolgreich die Matura ab und begibt sich auf kleinere Reisen, u. a. nach Prag, Dresden, Nürnberg, München und Salzburg. Sein intensives Interesse für die bildenden Künste manifestiert sich bereits in dieser Zeit. Er zeichnet und beschreibt Gesehenes, Ausstellungsgegenstände und Gebäude, füllt damit ganze Hefte. Nach seiner Rückkehr nach Wien beginnt Kestranek ein Studium der Malerei und Architektur, wechselt aber bald nach Berlin, wo er seine Ausbildung fortsetzt. Den Abschluss macht er erst nach der Jahrhundertwende, wiederum heimgekehrt an seine Alma Mater, der Wiener Akademie für Architektur. Mit einigen seiner prominenten Studienkollegen, wie Jan Kotěra, Jože Plečnik, Otto Bauer oder Ferdo Kovačević, bleibt er brieflich in Kontakt.[3]
1898/1899 folgt ein zweijähriger Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo er u. a. in einem Washingtoner und später in einem New Yorker Architekturbüro arbeitet. Auch Philadelphia zählt zu seinen Stationen in Übersee. Mit dem österreichischen, 1889 vom Militär in die USA geflüchteten Bildhauer Karl Bitter, der u. a. die Karyatiden für das New Yorker Metropolitan Museum entworfen und realisiert hat, kommt er in engeren Kontakt.[4] Sie arbeiten angeblich gemeinsam an einem Denkmal, wozu aber keine näheren Informationen vorliegen. Seine Briefe in die Heimat zeigen einen nüchternen Blick auf den „American Way of Life“, Demokratie und technischer Fortschritt betrachtet er vielmehr skeptisch als begeistert – er bleibt sein ganzes Leben gewissermaßen ein „Antimoderner“.[5] Die Jahre nach seiner Rückkehr nach Europa bzw. nach seinem Abschluss an der Akademie bleiben ohne schriftliche Aufzeichnungen. Erst 1905 scheint wieder eine Information zu seiner künstlerischen Tätigkeit auf: Kestranek mietet ein Atelier in Paris und reist im Jahr darauf durch Spanien. Er besucht Madrid, Toledo, Cordoba, Granada und Sevilla, kehrt aber dann wieder in die französische Metropole zurück. In der Korrespondenz mit dem Künstler Augusto Giacometti, dem Onkel des Bildhauers, Malers und Grafikers Alberto Giacomettis, die er in den Jahren bis 1912 führt, wird klar, dass seine Leidenschaft nunmehr von der Malerei zur Philosophie übergeht. Begeistert liest Kestranek Aristoteles, Thomas von Aquin, vor allem aber widmet er sich Platons Politeia. Der Tod der Mutter Karoline 1911 bedeutet für ihn einen schweren Schlag. Gemeinsam mit der Erschütterung des Ersten Weltkriegs festigen diese Ereignisse seinen Entschluss, sich von nun an vorrangig mit der Philosophie zu beschäftigen. Die Erfahrung an der Südfront 1917/1918 (u. a. nimmt er an der 10. Isonzoschlacht teil) hinterlässt auch physische Spuren. Kestranek wird verletzt, mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet und zum Reserveleutnant ernannt.
Die Zeit nach Kriegsende, speziell die 1920er Jahre, steht unter dem Vorzeichen philosophischer Arbeit. 1921 verfasst Kestranek ein Werk zur Farben- und Zahlenlehre, mathematische und geometrische Probleme. Es folgt 1925 ein Text über Logik, zwei Jahre später Arbeiten zur aristotelischen Kritik, sowie zur Ideen- und Zahlenlehre bei Platon. Ludwig von Ficker, der Herausgeber der in Tirol erscheinenden Zeitschrift Brenner, lernt er in den 1930er Jahren kennen und wird von ihm ermutigt, die Arbeiten auch für eine Publikation zu bearbeiten. Ficker möchte Kestraneks Präambula mit dem Zusatz Aus einem Notizbuch in der Zeitschrift herausbringen. Dass es zu Veröffentlichungen aber erst 1946 und 1948 kommt, liegt eindeutig an der gnadenlosen Selbstkritik, die der Philosoph betreibt. Immer wieder geht er in seiner Wahlheimat München die Gedanken durch, bringt sie zu Papier und nimmt sie wieder zurück, ehe sie erscheinen können. Diskussionen in größerem Kreis, z. B. mit Theodor Haecker, liegen ihm nicht. Seine Manuskripte behält er lieber für sich. Lediglich Auszüge dürfen publiziert werden. Seine Überzeugungen bleiben konservativ:
„Ganz entschieden müssen wir Kestranek auch den Vorwurf machen, daß er sich nicht um den neuesten Stand der Forschung und Wissenschaft gekümmert, sondern beharrlich am Alten festgehalten hat, ohne sich mit den Errungenschaften der heutigen Zeit auseinandergesetzt zu haben. Auch gegen seine extrem theozentrische Weltanschauung und sein Bedürfnis, alle Wahrheiten und Probleme in einem abgeschlossenen Systém zu vereinigen, wendet sich unsere Kritik.“[6]
Außerdem lehrt er eine Gruppe am Münchner Philosophischen Institut. Die Auseinandersetzung mit den Studierenden gefällt ihm. Privat bleibt er allein und lebt, wie Freunde über ihn sagen, asketisch. Sein Lebenswerk, eine eigene Politeia erscheint, wie vieles andere aus seiner Feder, nicht. Den Zweiten Weltkrieg bzw. die Bombenangriffe treiben ihn aufs Land, nach Oberbayern, wo seine Schwester Ida mit ihrer Familie lebt. Ida hatte Eugen Herz geheiratet, den der ältere Bruder Wilhelm Kestranek gefördert hatte. Hans Kestranek stirbt 1949 im 1906-1907 erbauten Familiensitz in St. Gilgen, den sein Bruder Wilhelm, der zu einem der bedeutendsten Großindustriellen der Donaumonarchie aufgestiegen war, aufgebaut hat. Die Liste der veröffentlichten Werke aus seiner Feder ist unwahrscheinlich kurz. Was nicht veröffentlich wurde, nimmt sich dagegen als ziemliches Kontingent aus. Eine gründliche Aufarbeitung seiner Schriften und vor allem auch eine Bewertung seines philosophischen Lebenswerkes bleibt ein Desiderat der Forschung. Ebenso verdient sein architektonischer Nachlass, eingesehen und ausgewertet zu werden.
Sabine Voda Eschgfäller
Nachlass:
Der philosophische Nachlass Hans Kestraneks befindet sich am Innsbrucker Brenner-Archiv (Nachlassnummer 6, 7 Kassetten, feingeordnet). Der architektonische Nachlass befindet sich in der „Graphischen Sammlung Albertina“ in Wien (6 Skizzenbücher und ca. 50 Zeichnungen).
[1] Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Leben und Werk Hans Kestranek leistet Gertrud Battisti in ihrer Dissertation. Vgl. BATTISTI, Gertrud: Der Philosoph Hans Kestranek. Sein philosophisches Gedankengut unter besonderer Berücksichtigung der Sprach-, Sitten- und Erkenntnislehre. Dissertation. Innsbruck 1971.
[2] Gefördert wurde die Karriere der Kestraneks, an deren Spitze nach dem Tode des Vaters Wilhelm gerückt war, durch die Wittgensteins. Mit Karl Wittgenstein korrespondierte Hans Kestranek auch über längere Zeit. Vgl. STURMAYR, Gerald: Industrielle Interessenpolitik in der Donaumonarchie. Verlag für Geschichte und Politik, München 1996, S. 190.
[3] Vgl. POZZETTO, Marco: Die Schule Otto Wagners. 1894–1912. Schroll Verlag, Wien/München, 1980, S. 248.
[4] Im Gegensatz zu Kestranek macht Bitter in den USA eine große Karriere, die durch seinen frühzeitigen Unfalltod 1915 jäh unterbrochen wird. Vgl. http://www.thechicagoloop.org/scul.bitt.00000.html (Stand: 20.5.2015)
[5] Ein Auszug aus einem dieser Briefe wird in meiner Studie zu Kestranek wiedergegeben. Darin beschreibt er seine Eindrücke zur amerikanischen Präsidentenwahl von 1899. Vgl. VODA ESCHGFÄLLER, Sabine: Ein „Hieronymus in der Klause“. Skizze zum Leben des mährischen Philosophen Hans Kestranek (1873–1949). In: FIALA-FÜRST, Ingeborg/ CZMERO, Jaromír (Hgg.): Amico amici III. Festschrift für Ludvík Václavek. Univerzita Palackého v Olomouci, Olomouc 2011, S. 466-467.
[6] BATTISTI, Gertrud: Der Philosoph Hans Kestranek, S. 244.