Die Suche nach dem „Geist der Wahrheit“ und dem sich daraus ableitenden „Wissen um die Kunst“ beherrscht das literarische Schaffen von Andreas Obsieger (s. Vorwort zu der Erzählung Die Freidenker). Zwar erweist sich die Liste seiner Werke eher als bescheiden, doch belegen seine Erzählungen (s. Die Freidenker und Die Künstler) und sein mehrbändiger Roman Der Weltreformator des XIX. Jahrhunderts eine geradezu obsessive thematische Konstanz: Durchwegs beschwört der Autor darin eine „Reform“ des Lebens, Denkens und Dichtens, welche sich aus einer Fusion von antiker Philosophie, klassischen Idealen und esoterischen Inhalten speisen solle. Sein dichterisches Anliegen formuliert der Autor zeitlebens bewusst anspruchsvoll, ohne es jedoch erfolgreich an ein Publikum vermitteln zu können.
Die Zeit bis zum Erscheinen seiner ersten Werke – von Zeitungsbeiträgen bzw. Aufsätzen abgesehen – liegt aus heutiger Sicht fast vollständig im Dunkeln, so dass nur vereinzelte autobiographische Hinweise in seinen Erzählungen bzw. in seinem Roman, sowie Ansuchen an die Schillerstiftung in Weimar (Akte Obsieger. Schillerarchiv Weimar. GSA 58/3) aus den Jahren 1865 und 1888, Aufschluss über seine Lebensumstände liefern können. Es ist anzunehmen, dass die Figur des Aristarch in den Freidenkern, welche er in Südmähren ansässig werden lässt, durchaus eine, obgleich stark idealisierte, Variante seines eigenen Lebensweges darstellen sollte. Den Sohn einfacher Weinbauern unweit von Nikolsburg schickt Obsieger in dieser 1870 erschienenen Erzählung nach Wien, wo er – trotz oder gerade wegen seiner Hochbegabung und Sensibilität – nicht erfolgreich sein kann. Das alles freie Denken kasteiende System der Universität und die häufig angeprangerte hektische Oberflächlichkeit der Stadt treiben den jungen Mann als Hauslehrer in seine Herkunftsgegend zurück. Dort vermag er im Kreise seiner Herrschaft eine „neue Denkerschule“ zu gründen, welche zahlreiche junge Männer als Jüngerschaft anzieht. Dieses „Happy-End“, welches dem Denker und Geistesadligen Aristides abseits von allen weltlichen Sorgen zuteil wird, stellt eine wiederkehrende poetische Utopie des Autors dar, welcher selbst wohl das frühe Leiden seines Protagonisten, aber nie dessen Triumph erleben durfte. Den Sieg (verkannter) Geistesgröße imaginiert Obsieger dafür in seinen Werken und – wie der Briefwechsel mit der Schillerstiftung nahe legt – in seiner übersteigerten Selbsteinschätzung.
Wohl im Zuge seiner Ausbildung zum Lithographen, als welcher er zeitlebens seinen Lebensunterhalt bestritt, kommt Obsieger von Mähren nach Wien, wo er ein starkes Interesse an Philosophie entwickelt haben muss, wie der Tenor seiner Werke belegt. Seit der Jahrhundertmitte versucht er, seine Artikel und Aufsätze zu kunst- und kulturphilosophischen Themen in Zeitschriften zu platzieren (vgl. Akte Obsieger. Schillerarchiv Weimar. GSA 58/3. Gesuche 1865 bzw. 1888), was ihm nur vereinzelt gelingt und nie zu einer festen Anstellung im journalistischen Bereich führt. Trotz offensichtlich nachhaltiger Bemühungen gelingt es Obsieger bis um sein vierzigstes Lebensjahr herum nicht, in Wien als Schriftsteller Fuß zu fassen oder als solcher in irgendeiner Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Der Umstand seiner wenig umfangreichen Publikationsliste – alle seine größeren Werke erschienen erst ab 1868 – hindert den inzwischen erkrankten Autor nicht, Anfang 1865 die Schillerstiftung um finanzielle Unterstützung zu bitten. Seine Unbekanntheit räumt er in seinem Bittbrief zwar ein: „Mein Name ist Ihnen, meine Herren, fremd, noch haben Sie villeicht je etwas von einem Werke gehört, das mir Ansprach giebt, an einem Ort um Unterstützung anzusuchen, von dem wahrscheinlich nur öffentlich anerkannten Dichtern um Hülfe zukommt“ (alle folgenden Zitate aus der Akte Obsieger. Schillerarchiv Weimar. GSA 58/3. Gesuche 1865 bzw. 1888). Doch verweist er gleichzeitig darauf, dass die fehlende öffentliche Anerkennung sich indirekt proportional zu seinem „Dichtergenie“ verhalte, das sich aber aufgrund ungünstiger äußerer Lebensumstände nicht entsprechend entfalten könne. Obwohl seine Existenz durch nicht näher definierte Krankheit und Armut häufig bedroht worden sei, habe die „Idee [...] der Mission“ ihn immer wieder motiviert, den Daseinskampf weiterzuführen. Zur Verwirklichung seines künstlerischen Ziels, welches auf nichts Weniger denn auf die „Vollendung der Menschheit“ abziele, schließt Obsieger sein Ansuchen mit der Bitte um eine lebenslange Rente von jährlich 1000 Gulden, welche er gerne zurückzahlen werde, sobald ihm Erfolg beschieden sei. Der verheiratete, in der Leopoldstadt lebende Poet versucht, die pathetische Sprache seiner Bitte um Unterstützung, welche er selbst als eine „Sprache […, die an] Wahnsinn streift“ erkennt, zu entschuldigen – vergeblich. Die Gutachter der Schillerstiftung, welche im Februar und März die Akte Obsiegers auswerten, kommen zu einem einschlägig negativen Urteil, gerade weil die „Tonanmaßung des Gesuches [...] auf pathologische Stimmungen“ schließen lasse. Eine Nachfrage bei der Wiener Zweigstiftung, was Obsiegers Reputation betrifft, halten sie deshalb nicht für nötig; so erhält der Schriftsteller am 20.3.1865 eine „einfache Abweisung“ (vgl. Auswertung des 1. Gutachtens vom 22.1.1865. Gesuch 1865). Obsieger reagiert darauf dem pathetischen Impetus seines Bittschreibens entsprechend und verfasst einen sechsseitigen verletzten Antwortbrief, in welchem er klarstellt, dass wohl erst die Nachwelt richtig über ihn urteilen werde:
Wenn einst deutscher Männer und Frauen, deutscher Jünglinge und Jungfrauen Gedanken, im Lichte meines Ideals die Welt betrachten werden; wenn um das Centrum, das mein Geist im deutschen Denkerleben bilden wird, alle Sinne mit der Wahrheit dessen erfüllend, was seine Dichter und Denker durch das poetische Schauen vergeistiget, [...] dann wird die deutsche Nation mit Wehmuth dem 28. März im Jahre 1865 gedenken, an welchem dem Schöpfer des poetischen Denkers eine große Thräne aus den Augen rollte. (S. An den Verwaltungsrat der deutschen Schillerstiftung in Weimar. Andreas Obsieger. 2.8.1865. Aus ebd., S. 8)
Ende der 1860er Jahre findet auch der Dichter des „poetischen Denkers“ Verleger und publiziert nicht nur Die Freidenker und Die Künstler, sondern schließlich auch sein groß angelegtes Romanprojekt Weltreformator des XIX. Jahrhunderts. Obsieger hatte endlich, zumindest in Maßen, materiellen und spirituellen Rückhalt finden können: Der Millionär William B. Astor finanzierte die Drucklegung der Freidenker und Stifter höchstpersönlich verlor im Vorwort zum Weltreformator einige lobende Bemerkungen. Die Empfehlung Adalbert Stifters, welche dem Ansuchen beigefügt wird, aber nicht bei den „Akten, betreffend des Unterstützungsgesuchs des Schriftstellers Andreas Obsieger zu Wien“ zu finden war, wird von den Gutachtern 1888 in den Wind geschlagen, mit dem Verweis darauf, dass Stifter diese wohl „in schwacher Stunde niederschrieb“ (ebd., DR.. 15/12. 88). Die Beziehung zwischen Stifter und den Obsiegers war relativ eng, wie eine gemeinsame Reise im September 1867 (also wenige Monate vor Stifters Tod) nach Kirchschlag belegt.
Öffentliche Aufmerksamkeit wird dem Schriftsteller aber auch jetzt noch nicht zuteil. Seine gesundheitliche Lage verschlechtert sich in den 1870er Jahren zunehmend, so dass er seinen Wohnsitz ab 1887 endgültig nach Meran verlegen muss. In den offiziellen Kurlisten taucht er dort als Gast nicht auf, was wohl auf seine nach wie vor nicht stabile finanzielle Situation zurückzuführen ist. In der vor allem für Lungenleiden renommierten Kurstadt wechselt das Ehepaar Obsieger ab 1887 mehrmals die Wohnadresse (Adressbuch der Kurstadt Meran. Stadtarchiv Meran). Im November 1888 versucht Andreas Obsieger nach dreiundzwanzig Jahren ein zweites Mal, eine Rente von der Schillerstiftung zu erhalten und sendet ein formloses Ansuchen an den Münchner Vorort der Stiftung, diesmal direkt an den Präsidenten Paul Heyse gerichtet. „Alter, Krankheit und Noth!“ (alle folgenden Zitate aus dem Gesuch vom 12.11.1888) würden ihn dazu zwingen, gibt der Schriftsteller an und fügt seinem Ansuchen eine umfangreiche Bibliographie an, worin er auch auf ein großes Projekt verweist, welches aber nie realisiert wurde. Heyse gewinnt auf den ersten Blick einen positiven Eindruck von Obsiegers Oeuvre und leitet das Ansuchen zur Bearbeitung weiter. Der Gutachter gewinnt zwar zunächst einen positiven Eindruck von dem Künstler, in welchem er das Vorbild Stifters zu erkennen glaubt, doch schlägt dieser Eindruck mit fortschreitender Lektüre ins extreme Gegenteil um. So kommt der Sachbearbeiter zum Schluss, Obsieger sei „ein vollkommen Verrückter [...] der sich an allerhand Philosophen blödsinnig gelesen und studiert“ habe und bemerkt zum Hauptwerk des Schriftstellers, man bewältige den Weltreformator nicht, ohne bereits nach dem ersten Band „das benannte Mühlrad im Kopf zu verspüren“. Der Ablehnung auch des zweiten Ansuchens stimmt Paul Heyse ohne Vorbehalte zu: „Wir haben es mit einem confusen Träumer zu thun, dessen philosophische Hallucinationen höchstens für einen Frauenarzt Interesse haben können. Ablehnung nach Formular!“. Obsieger reagiert darauf diesmal ohne Ressentiments und bittet lediglich darum, ihm seine Unterlagen zurückzuschicken. Wovon der Schriftsteller und seine Frau im folgenden Jahrzehnt in Meran leben, bleibt unklar. Seine literarische Produktion scheint er jedenfalls eingestellt zu haben, zumindest gibt es aus dieser Zeit keine (publizierten) Werke. Der Autor, welcher zeitlebens versucht hat, sich Gehör und Unterstützung zu verschaffen, stirbt am 30. Dezember 1898 in der Passerstadt und wird am Neujahrstag 1899 dort beigesetzt (Totenbuch. Stadtpfarre Meran, S. 353, Nr. 172).
(Sabine Eschgfäller)