Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Der Mann ohne Eigenschaften hat eine komplexe Entstehungsgeschichte. Neben den veröffentlichten Texten existieren über 11000 Blätter mit Skizzen, Umarbeitungen, Fragmenten etc., die als Teil des Gesamtwerkes miterfasst werden müssen.
Nach Vorüberlegungen, die bis in die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende zurückreichen, begann Musil 1918 mit der Arbeit an dem Roman, wobei er noch zwischen verschiedenen Titeln schwankte: „Der Anarchist“, „Panonia“, „Der Spion“, „Der Erlöser“, „Die Zwillingsschwester“. 1927 entschied er sich für den endgültigen Titel; das erste Kapitel Kakanien veröffentlicht er im April 1928 in „Der Tag“. 1929 begann Musil mit der Reinschrift des ersten Buches des Romans, der im Oktober 1930 (Kapitel 1 - 123; erster und zweiter Teil des ersten Buchs) bei Rowohlt in Berlin herauskam. Ihm folgte im Dezember 1932 der zweite Band (dritter Teil des zweiten Buchs: Kapitel 1-38). 1938 veröffentlichte Musil das letzte von ihm geschriebene Kapitel Mondstrahlen bei Tage in der Zeitschrift „Maß und Wert“, während das umfangreiche Druckfahnenkapite“ (II. Teil: Ins tausendjährige Reich) zwar gedruckt vorlag, doch wegen der Zeitereignisse nicht mehr korrigiert werden konnte. Es blieb bei der Emigration 1938 unveröffentlicht in Österreich zurück. Nach 1938 hat Robert Musil keinen Text aus dem Roman mehr publiziert. 1952 legte Adolf Frisé eine erste Neuausgabe (ohne Druckfahnenkapitel) vor, die eine heftige und kontroverse Diskussion über die Editionsprinzipien und die Verfälschung der Romanintention entfachte. Eine revidierte Ausgabe von 1978 kam den Einwänden weitgehend entgegen und wird heute als zitierbare, noch nicht den Ansprüchen einer historisch-kritischen Ausgabe entsprechende Publikation, verwendet.
Der Inhalt des Romans Der Mann ohne Eigenschaften kann nicht nacherzählt werden, da zum einen die Handlung keineswegs einem Erzählduktus folgt, zum anderen zahlreiche Retardierungen, Reflexionen, Essays und Nebenhandlungen die fortlaufende Handlung nicht zur Entfaltung kommen lassen. Dies ist vom Autor intendiert, da er nur so eine mögliche und veränderbare Realität, die sich aus „Empfindungselementen“ und „Bewusstseinszusammenhängen“ konstituiert, gestalten kann. In dem Roman gibt es keine einheitsstiftende Weltsicht, sondern nur eine durch die Sprachstruktur ermöglichte Welteinheit. Die Handlung vollzieht sich in den ersten drei Teilen auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, die keine mimetischen, sondern syntaktische Funktionen erfüllen:
Das Bewusstsein des Endes der Epoche erscheint in den sprachlichen Widersprüchen der Personen und findet seinen Ausdruck in der sogenannten Parallelaktion, die zum 60. Jahrestag des Regierungsantritts Kaiser Franz Josephs 1918 die Feierlichkeiten zum 35. Jahrestag der Regierung Kaiser Wilhelms II. 1918 kopieren und überbieten will. Zur Vorbereitung der Parallelaktion konstituiert sich ein Festkomitee, das über leeres Gerede nicht hinauskommt. Gegen das gesellschaftliche Geschwätz, das Krieg und Gewalt verbal akzeptiert und verherrlicht und in den Gestalten des „Großschriftstellers“ Arnheim (die Gestalt verweist auf den Politiker und Industriellen Rathenau), Diotima und Graf Leinsdorf deutlich wird, stehen der General Stumm von Bordwehr, der an der Realität und der Realität der Sprache festhält, und die psychisch kranken Figuren - der Prostituiertenmörder Moosbrugger und die Nietzscheverehrerin Clarissa.
Sekretär der Parallelaktion wird Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der das Geschehen analysiert und begleitet und niemals handelnd in die Wirklichkeit eingreift. Beispiel- und modellhaft wird Ulrich zum Typus des Menschen der Moderne als Epoche des Möglichen, des Noch-Nicht, der Utopie.
Die Wiederbegegnung mit der Zwillingsschwester Agathe beim Tod des Vaters erfährt Ulrich als eine „traumhafte Wiederholung“ einer Möglichkeit seiner eigenen Existenz. In den Dialogen zwischen Ulrich und Agathe konstituiert sich eine mögliche Realität. Dabei erkennt Ulrich die atomistische Wirklichkeitsstruktur und versucht nahezu mystisch einen „anderen Zustand“ mit der Schwester zu leben. Doch dieser „andere Zustand“ lässt sich nicht materialisieren, da er nur eine gedankliche Möglichkeit repräsentiert.
Aus der Spannung von Wirklichkeit und Möglichkeit entsteht Ironie als notwendige Erzähldistanz, die verhindert, dass sich identifizierbare Handlungsstrukturen entfalten. So spielt die Handlung wohl in Wien, doch bleibt die historisch-geographische Stadt undeutlich, obwohl sie an ihren Geräuschen erkennbar ist (vgl. Einleitungskapitel), und auch die Handlungszeit (August 1913 bis Frühsommer 1914) ist letztlich für das Geschehen irrelevant. Ulrich als Protagonist nimmt Urlaub vom Leben; damit wird zum einen der Handlungsablauf unterbrochen und zum anderen erinnert der nun eigenschaftslose Mann - Eigenschaften sind Funktionen des Lebens - an die Forderung des Mystikers Meister Eckhart, dass nur der von allen Akzidenzien befreite Mensch, das reine Dasein erfahren kann.
Durchgehend wird der Roman von dem Gedanken durchzogen, dass Wirklichkeit nur eine sprachliche Hypothese, eine Funktion der Grammatik ist, und deshalb jeder Änderung offen entgegensteht. Konsequent erscheint auch die Moral nur als eine Funktion von Bewusstseins- und Realitätselementen und entzieht sich jeglicher Normierung. Begriffe wie moralisch gut und moralisch schlecht sind Funktionen von Handlungen, die sich aus der sprachlich-syntaktischen Struktur einerseits und der Gewichtung der Variablen andererseits erklären. Der Mann ohne Eigenschaften reflektiert die Möglichkeit des „anderen Zustands“ als subjektive sprachliche Utopie, die sich literarisch als Essayismus manifestiert. (Diether Krywalski, Geretsried)