Wie kaum bei einem modernen Dichter lässt sich bei Robert Musil die Wirkung strukturalistischer Konzepte im Werk nachweisen; diese Tatsache geht sicher nicht unmittelbar auf die Wirkung des Strukturalismus von und um Jakobson, der seit 1933 an der Universität in Brünn lehrte, zurück, sie rührte auch nicht primär aus der technisch-philosophischen Ausbildung des Dichters - vielmehr scheint Musil der Typus des Autors zu sein, der die zeitgenössische Diskussion unter unterschiedlichen Aspekten aufnahm und gestaltend-künstlerisch umsetzte. In seinem Gesamtwerk finden sich biographische, historische, gesellschaftliche und fiktive Elemente in einer engen strukturbildenden Bindung. Man hat diese Darstellungsweise synthetisch genannt und damit die Erscheinung bezeichnet, dass Musil in eine literarische Person unterschiedliche Eigenschaften anderer fiktiver und realer Personen einbezieht und die Eigenschaften als Elemente strukturbildend das System und damit die literarisch-poetische Wirklichkeit bestimmen.
Der Roman unserer Generation hat sich allgemein vor der Schwierigkeit gefunden, daß die alte Naivität des Erzählens der Entwicklung der Intelligenz gegenüber nicht mehr ausreicht [...] Proust und Joyce geben, soviel ich davon gesehen habe, einfach der Auflösung nach, durch einen assoziierenden Stil mit verschwimmenden Grenzen. Dagegen wäre mein Versuch eher konstruktiv und synthetisch zu nennen. Sie schildern etwas Aufgelöstes, aber sie schildern eigentlich gerade so wie früher, wo man an die festen Konturen der Dinge geglaubt hat. (zit. nach Corino 1988, S. 378).
Diese Auflösung fester Konturen stellt im Werk Robert Musils neben und gegen die Wirklichkeit immer auch die verborgene Möglichkeit als noch nicht realisierte, noch nicht antizipierte Wirklichkeit. Niemals geht es Musil um die Abbildung (Mimesis) der Wirklichkeit, sondern immer um die sprachliche Konstituierung einer Möglichkeit, die Wirklichkeit strukturiert, literarisch konstituiert und mimetisch realisiert.
Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. [...] Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes [...] Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. (Der Mann ohne Eigenschaften, 1978, S. 16f.)
Im Wechselspiel von Wirklichkeit und Möglichkeit entsteht der ästhetische Reiz aus der Konfrontation von Realität und Fiktionalität und wird modellhaft Ausdruck der Welterfahrung. Die Welterfahrung Kakaniens, die Wirklichkeit und Möglichkeit - nicht entweder - oder sondern sowohl - als auch oder weder - noch - impliziert, hat Robert Musil in der „Beschreibung einer kakanischen Stadt“ gestaltet, indem er auf der Grundlage des Strukturalismus ein Bild der mährischen Landeshauptstadt Brünn als Modell Kakaniens und damit einer Weltordnung entwarf.
Robert Musil, geboren am 6. November 1880 Klagenfurt, ist zwar nicht von Geburt Mährer, doch gehört er seiner Lebensprägung und wegen seiner literarischen Gestaltungen zu den bedeutendsten mährischen Dichtern. Ludvík Václavek formulierte in diesem Zusammenhang das Statement, dass was Kafka für Böhmen und Prag ist, ist Robert Musil für Mähren und Brünn.
Musils Vorfahren waren Bauern in Rychtárow bei Wischau gewesen und den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verlebte er in Österreich und in (Böhmen und) Mähren, zunächst in Klagenfurt, dann 1881/82 in böhmischen Komotau und ab 1882 in Steyr. 1891 übersiedelte die Familie nach Brünn. Sein Vater Alfred (später Edler von Musil) war am 1. Oktober 1890 auf den Lehrstuhl für Maschinenbau und theoretische Maschinenlehre an der deutschen Technischen Hochschule berufen worden. 1891 bis 1892 besuchte Robert Musil die Realschule in Brünn - für das Gymnasium brachte er nicht die nötigen altsprachlichen Kenntnisse als Voraussetzungen mit. Die Stadt erlebte er als elfjähriger Schüler merkwürdig distanziert:
[...] und ich erinnere mich, daß in seiner Weise der Eindruck nicht unbedeutend war, den ich dadurch empfing, daß ich aus der alpischen Natur kam, die Landschaft und Menschen in Steyr eigentümlich war, und mich sowohl in der sanften und etwas melancholischen Landschaft Mährens fand wie zwischen Menschen, die mir beinahe noch fremder vorkamen, wenn sie Sudetendeutsche waren, mit denen ich sprach, als zu den Tschechen gehörten, neben denen wir ohne Berührung herlebten. (zit. nach Kaiser/Wilkins a.a.O. 1962, S. 48)
1892 bis 1897 wechselte Robert Musil zunächst in die Militär-Unterrealschule in Eisenstadt, dann in die Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen (Hranice) und zuletzt die Technische Militärakademie in Wien. Brünn empfand er immer als bedrohend:
Dieses alte Brünn ist übrigens eine üble Stadt [...]. In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf. (MoE, 1978, S. 1443).
In Mährisch-Weißkirchen besuchte er 1894 bis 1897 die Militär-Oberrealschule, entdeckte seine Vorliebe für technische Gegenstände und erlitt die dumpfe, sadistisch quälende Welt des Internates, das auch Rainer Maria Rilke 1890/91 kurzfristig besucht hatte:
Eine kleine Station an der Strecke, die nach Russland führt. [...] Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland. [...] hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten und in allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikt zu W. aufgewachsen zu sein. (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: Sämtliche Erzählungen a.a.O., S. 9f.)
Die Einleitung in die Erzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) zeigt nicht nur Musils analytische Schärfe der Beobachtung - sie reduziert eine nahezu alltägliche Situation zum Modell, zum Modell des Lebens in der kaiserlichen und königlichen Monarchie - in Kakanien, wie Musil dieses Modell nannte. Denken und Gestalten in Modellen war für die Zeit charakteristisch und in Modellen zu denken; ist für einen Ingenieur konstitutiv: modellhaft ist der Bahnhof in der Weite des Landes für die fernen Kakaniens, modellhaft ist die Internatserziehung für die aufkeimende masochistische Brutalität, die sich hinter der guten Gesellschaft verbarg, und modellhaft ist das weite Land für Öde, Einsamkeit und Verlorenheit. Auch Brünn erscheint als Modell Kakaniens, in dem Staatsmacht, Kirche und Militär eine unheilige Allianz zur Unterdrückung des Geistes bildeten.
1898 brach Musil seine Offiziersausbildung ab, studierte 1898 bis 1901 Maschinenbau in Brünn, schrieb 1899 eine erste literarische Romanskizze Monsieur le vivisecteur und diente 1901/1902 als Einjährig-Freiwilliger im „k. u .k. Infanterieregiment Nr. 49 Freiherr von Hess“ in der Jesuitenkaserne in Brünn. Anschließend lebte und arbeitete er in Stuttgart und Berlin, kehrte 1904 noch einmal in die mährische Hauptstadt zurück, um am Deutschen Staatsgymnasium die Reifeprüfung nachzuholen und damit die Berechtigung für ein Studium an der Universität zu erwerben, das er 1908 mit der Dissertation Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs abschloss. Der mährische Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838 - 1916), Empirist und Antimetaphysiker, wandte sich gegen die zeitgenössische Psychologie und den traditionellen Versuch, das Individuum als Einheit zu begreifen. Mach sah die Persönlichkeit, das Ich, als ein Gemenge aus Elementen (= Empfindungen) wie Gerüche, Masse, Druck, Farben, Töne, Temperaturen etc. Aufgabe der Wissenschaften ist es nach Ernst Mach, die funktionalen Abhängigkeiten zu erforschen. Auf Robert Musil hat Machs Wirklichkeitsbegriff großen Einfluss gewonnen.
In Brünn lassen sich Besuche erst wieder 1923 bei einer Erkrankung der Mutter und 1924 anlässlich des Todes der Eltern nachweisen. Die Stadt war ihm in diesen Jahren fremd geworden - wie Ulrich, dem Protagonisten aus dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der auch anlässlich des Todes des Vaters wieder in seine Heimatstadt (Brünn) kommt, mag es dem Dichter in der „fremd vertrauten Stadt“ (MoE, S. 674) ergangen sein:
Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tages in ...* ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat [...] Mit einiger Neugierde des Wiedersehens [...] betrachtete er die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wußte, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein älterer Kern deutschen Bürgertums, der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so daß außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte, und auch vom alten Sitz der Landstände, den diese Stadt später abgegeben hatte, war außer einem erhalten gebliebenen schönen Palast wenig mehr zu sehen; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theater, allen Menschen, die dazu gehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist [...] Und während er von solchen Fragen beschäftigt wurde, war Ulrich langsam in die fremd vertraute Stadt hineingegangen, die sich vor ihm auftat. (MoE, 1978, S. 671f.).
Ulrich, der Protagonist des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, zeigt autobiographische Elemente, doch - Ulrich ist kein autobiographisches Abbild Musils - spiegelt er Eigenschaften aller Romanfiguren als Möglichkeit seiner Existenz.
Vor der Diskussion des Schaffens Musils nach seinem Studienabschluss in Wien, müssen drei Bereiche des Gesamtwerkes vorgestellt werden, die zum Verständnis konstitutiv sind, wie die frühe Begegnung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches, dessen Denken bis zu seinem Tod starken Einfluss auf Musils Weltsicht und literarisches Werk hatte.
1. Die Tagebücher von Robert Musil sind zur Erforschung seiner Vita und seines Werkes von großer Bedeutung, wobei die Orientierung erschwert wird, da Musil stets mehrere Tagebücher parallel führte. Der Wechsel von objektiver und subjektiver, wirklicher und möglicher Perspektive, der in den Tagebüchern vorherrscht, ist auch für das Erzählwerk charakteristisch.
2. 1981 hat Adolf Frisé Musils Briefe aus den Jahren 1901 - 1942 in einer umfassenden Ausgabe herausgegeben, wobei er neben 180 Briefe Musils auch Entwürfe und Briefe von seiner Frau Martha sowie Briefe an und über Musil in die Edition einbezog. Aus diesen Briefen lässt sich Musils Selbstverständnis als Schriftsteller erkennen; sie zeigen seine Arbeits- und Lebensbedingungen.
3. Einen großen Raum im Gesamtschaffen Musils nehmen Essays und Vorträge ein, die in zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und vereinzelten Drucken erschienen sind. Ohne auf Vollständigkeit zu rekurrieren, seien einige grundlegende Schriften genannt:
1911 veröffentlichte Musil im „Pan“ seinen ersten Essay Das Unanständige und das Kranke in der Kunst, in dem er sich gegen die tradierte Form mimetischer Darstellung wendet. Mit den Formen herkömmlichen Erzählens setzte er sich in den Essays Über Robert Musil's Bücher (1913), Analyse und Synthese (1913) und Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) auseinander. Im letztgenannten Essay führte Robert Musil die für sein Werk grundlegende Unterscheidung von Ratioidem (= vernunft- und regelmäßig) und Nichtratioidem (= gefühls- und assoziationsmäßig) ein. Das Nichtratioiden ist Teil der Poetik und ermöglicht dem Dichter „immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken [...] den inneren Menschen zu erfinden“ (a.a.O. S. 1028). Die Konsequenz dieser Unterscheidung zeigte Musil in Literat und Literatur, Randbemerkungen dazu (1931). Hier unterscheidet er den literarischen vom wissenschaftlichen Diskurs und verweist auf den Erlebnischarakter der Dichtung.
Dem Theater und dem Film wandte sich Musil in der Mitte der zwanziger Jahre zu (Der Untergang des Theaters, 1924; Ansätze zu neuer Ästhetik, 1925); gegen das „Handlungstheater“ stellte er die Forderung, das Spielgeschehen aus der Sprachsemantik zu konstituieren und - wie im Stummfilm - der Bildhaftigkeit der Sprache zu vertrauen (Bücher und Literatur, 1926).
Zur zeitgenössischen Politik bewahrte Musil stets deutliche Distanz (Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes, 1913; Europäertum, Krieg, Deutschtum, 1914; Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, 1921; Das hilflose Europa als Reise vom Hundertsten ins Tausendste, 1922). Ausgehend von der Forderung, dass politische Ethik exakt funktionieren müsse, (vgl. Spinozas Begriff des „more geometrico“), bejaht er als konservativer Autor den Krieg als „berauschendes Gefühl“ (Luserke a.a.O. S. 73) und deutet den Pazifismus nach 1918 als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung (Werke 8, 1090). 1934 hielt Musil einen Vortrag Der Dichter in dieser Zeit, der sich nicht nur mit dem Titel auf Hugo von Hofmannsthal („Der Dichter und diese Zeit“, 1907) bezog. Das hier vorgestellte dichterische Selbstverständnis stieß nicht nur bei den Teilnehmern des „Ersten Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur“ in Paris 1935 auf Unverständnis, da eine politikfreie Position in Europa in einer Zeit, in der die Verfolgung von Autoren durch die Nationalsozialisten alltäglich wurde, nicht tolerierbar war. Auch in der Rede Über die Dummheit, die Robert Musil 1937 auf Einladung des österreichischen Werkbundes hielt, bleibt die politische Kritik verhalten.
Neben diese drei literarischen Formen trat die Sammlung von Prosastücken Nachlaß zu Lebzeiten (1936; ausgeliefert bereits 1935) mit Kurzgeschichten, Anekdoten, Skizzen u.a., in der auch die Erzählung Die Amsel (erstmals 1928) erneut publiziert wurde. Mit dieser Sammlung versuchte Musil, der in den Jahren nach dem Erscheinen des I. und II. Bandes des Romans Der Mann ohne Eigenschaften 1930/32 keine literarische Arbeit vorgelegt hat, in der literarische Diskussion präsent zu bleiben.
Nach dem Studium der Psychologie, Philosophie, Mathematik und Physik im Wintersemester 1903/1904 in Berlin - Musil lebte hier zusammen mit seiner Brünner Geliebten Herma Dietz († 1907) - veröffentlichte er zwei wissenschaftlich-technische Aufsätze (Die Kraftmaschinen des Kleingewerbes; Die Beheizung der Wohnräume) und schloss in den folgenden Jahren neue Bekanntschaften/Freundschaften mit Johannes Allesch, Alice von Charlemont und Franz Blei. 1906 lernte er Martha Marcovaldi (geb. Heimann, verw. Alexander; 1874 - 1949) kennen, die er nach ihrer Scheidung 1911 heiratete. In den Jahren seit 1902 schrieb er aus Langweile, wie er selbst festhielt, die Erzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (abgeschlossen 1905, erschienen 1906). Der Törleß - vordergründig ein modischer Pubertätsroman - erzählt die Individuation eines jungen Menschen, der im Internat keine Geborgenheit findet, bei der Dorfhure Božena Zuwendung sucht und über sexuelle Phantasie und perverse Praxis zu einem eigenen Selbstbild findet. Nicht die Eltern, sondern eine stumpfsinnig zur Perversion führende Institution - das Internat - tritt als Erziehungsinstanz auf und produziert die „Verwirrungen“. Deutlich wird in der Zeitkritik des Törleß auch, in wie starkem Maße die heimlichen Perversionen im Internat zu Affirmationen von Hierarchien führen, Hierarchien, deren einzige Aufgabe es ist, die gesellschaftlich bürgerliche Ordnung, die auf verschleierter Gewalt und Brutalität beruht, zu erhalten. Im Törleß tritt neben und gegen die bürgerliche Welt, die sich in vordergründiger Ehrbarkeit geriert, als zweite Realität die phantasiedurchsetzte, andere Lebensmöglichkeiten evozierende Welt des Internats, gegen die gesellschaftlich wohlgeregelte Ordnung das Chaos der Möglichkeiten.
Die Romanerzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß stellt in Musils Schaffen eine wichtige Wende dar. Bisher gestaltete Musil nach dem traditionell mimetischen Prinzip, d. h. die Darstellung spiegelte abbildlich die Realität. Jetzt tritt der sprachliche Ausdruck, der unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten bereithält, in den Mittelpunkt (vgl. hier Fritz Mauthner 1902 „Beiträge zur Kritik der Sprache, 1902; Hugo von Hofmannsthal „Ein Brief“, 1902; Ludwig Wittgenstein „Tractatus logico-philosophicus“, 1918).
1908 publizierte er Das verzauberte Haus, eine Erzählung die 1911 umgearbeitet unter dem Titel Die Versuchung der stillen Veronika erschien, und 1910 Die Vollendung der Liebe. Beide Erzählungen zeigen den Übergang der Weltsicht. Während Die Vollendung der Liebe noch konventionell die Krise einer Ehe erzählt, reflektiert Die Versuchung der stillen Veronika das Seelenleben der Protagonistin, wobei das Unaussprechbare des seelischen Erlebens, das sich syntaktisch zu immer neuen Möglichkeiten strukturiert, zuletzt in Sprachlosigkeit mündet.
In den Jahren 1909 bis 1914 vollzog Musil auch die Abkehr von der bürgerlichen Sicherheit, die sein Vater durch alle Jahre gefordert hatte, lehnte eine Assistentenstelle an der Universität Graz bei Alexander Meinong ab, arbeitete kurz als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien und nahm auch die Stellung als Redakteur der „Neuen Rundschau“ in Berlin - hier begegnete er Rilke und lernte das Werk Kafkas kennen - nur kurze Zeit wahr. Bei Ausbruch des Weltkriegs ging Robert Musil als Leutnant und Kompanieführer in einem Landsturmbataillon nach Linz, dann nach Südtirol, nahm an der Isonzo-Schlacht teil und wurde nach einer Erkrankung wegen Frontuntauglichkeit Redakteur der „Soldaten-Zeitung“ in Bozen und 1918 als Hauptmann leitender Redakteur im Kriegspressequartier und Mitarbeiter der Wochenschrift „Heimat“ (hier veröffentlichte er 1916 die Erzählung Aus der Geschichte eines Regiments). Nach dem Krieg wurde Robert Musil Fachbeirat im österreichischen Bundesministerium für das Heerwesen (Vortrag: Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere, 1922). Bereits 1922 verließ er den Staatsdienst und begann mit der Arbeit an dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, aus dem er einen ersten kurzen Text 1921 im „Literaria Almanach“ veröffentlichte.
Noch einmal wandte sich Musil der konventionellen, auktorialen Erzähltechnik in den Erzählungen Grigia (1921) und Die Portugiesin (1923) zu, die ergänzt durch die strukturell unterschiedene Erzählung Tonka (1922), die grundlegende Bedeutung für die Moderne hat, in dem Sammelband Drei Frauen (1924) publiziert wurden. Grigia geht auf ein Erlebnis im Fersental während des Krieges zurück und schildert die Zuwendung eines Mannes zu einer Bäuerin und dessen „Liebestod“ in einem Bergwerksstollen, wo ihn die Geliebte verlässt. Die Portugiesin - der Herkunftsname der Protagonistin bleibt unerklärt - verbindet reales Geschehen mit irrealen, vorgestellten Möglichkeiten. Musil erzählt die Geschichte einer Frau, die an einen brutalen Raubritter verheiratet diesem die Treue bewahrt und so seine Rückkehr in die gesittete Welt ermöglicht. Tonka zeigt autobiographische Züge; ein junger Wissenschaftler nimmt ein einfaches Mädchen zur Geliebten, der er Untreue vorhält, als sie schwanger wird. Tonka rechtfertigt sich in keiner Weise und stirbt nach der Geburt des Kindes. Gegen die elaborierte Eloquenz des Mannes tritt die Sprachlosigkeit der Frau, die nur im Ausdruck Aussage gewinnt (vgl. Hofmannsthals Akzentuierung der Gebärde). Zeitgleich mit den drei Erzählungen schrieb Musil seine beiden dramatischen Werke Die Schwärmer (1921, Uraufführung 1929) und die Posse Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (Uraufführung 1923).
Die Schwärmer, Schauspiel in drei Akten, erhielt 1923 auf Empfehlung von Alfred Döblin den Kleistpreis, doch war die Uraufführung 1929 in Berlin ein Misserfolg, da das Stück sich nicht dem Zeitgeschmack, der psychologisch motivierte Handlungen, moralische Konflikte und expressive Sprache forderte, anpasste, sondern problematische Bezüge zwischen Denken und Handeln, Erkennen und Erfühlen, Individuation und Geselligkeit thematisierte. Vordergründig ist das Schauspiel eine Ehebruchsgeschichte, doch geht es bei dem Konflikt nicht um etwaige Schuld der Protagonisten, sondern um das Problem, ob in einer kommunikationslosen Welt ein Zueinanderfinden möglich ist. In diesem Spiel gibt es keine Entwicklung von Personen; sie stehen sich als „Elemente“, als abgeschlossene Wirklichkeiten gegenüber, und aus diesem Gegenüber entstehen Konstellationen als mögliche dramatische Bezüge.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Stück erfolgreich im Landestheater Darmstadt (1955) aufgeführt, 1956 von Ingeborg Bachmann als Hörspiel bearbeitet und 1984/85 von Hans Neuenfels verfilmt. Nun sprach die Kritik vom „geistvollsten Theater der Gegenwart“ (zit. nach Jens a.a.O. S. 114).
Gleichzeitig mit Die Schwärmer entstand Vinzenz oder die Freundin großer Männer (1921 - Uraufführung 1923), ein Stück, das von Robert Musil als „Posse“ bezeichnet und hinsichtlich Struktur und Gestaltung als Satyrspiel zu Die Schwärmer verstanden wurde. Im Mittelpunkt der Handlung steht Alpha, eine Frau, die bedeutende Männer, die ausschließlich durch ihre Berufe charakterisiert sind, in ihrem Salon vereinigt. Aus dieser Konstellation ergibt sich das Spiel, das Werbung, Scheinselbstmord und Demaskierung der Bürger als Schwindler zeigt. Zuletzt heiratet die kleinbürgerliche Alpha einen reichen Adeligen und ihr geistvoll gebildeter Jugendfreund Vinzenz, der die Handlung beobachtend begleitet, wird Diener. Das Dienermotiv, das in der österreichischen dramatischen Literatur eine lange Tradition hat, erhält hier in der Scheinwelt der Nachkriegsepoche eine neue Figuration: Vinzenz durchschaut als Versicherungsmathematiker, der gelernt hat, Möglichkeiten zu kalkulieren, die Scheinwirklichkeit, präfiguriert auf diese Weise bereits Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaften und verweist auf den Diener Vinzenz in Hugo von Hofmannsthals Komödie Der Schwierige (1921). Das Stück ist durchsetzt von unsinnigen Handlungs- und Sprachelementen, die die Da-Da-Dichtung zitieren; zuletzt ordnet sich aus dem vordergründigen Chaos zu einer sinnhaften Aussage.
1923 wurde Robert Musil zum zweiten Vorsitzenden - den Vorsitz hatte Hugo von Hofmannsthal inne - des „Schutzverband(es) deutscher Schriftsteller in Österreich“ gewählt, und 1924 wurde ihm der Kunstpreis der Stadt Wien verliehen. Trotz dieser Erfolge und der großzügigen Unterstützung mit Vorschüssen durch den Verleger Ernst Rowohlt - seit 1927 lebte Musil in Berlin - mehrten sich die Schulden und die finanzielle Bedrängnis, da er nicht zu haushalten verstand. Während sein literarisches Ansehen zunahm - 1927 hielt er die Rede zur Rilke-Feier - drängte die häusliche Notlage zu einer besonderen Aktivität, die sich in Essays und Vorträgen niederschlug. Zuletzt führt dieser Konflikt zu einer Arbeitshemmung, die 1929 psychologische Behandlung bei Hugo Lukacs, einem Schüler Alfred Adlers, erforderlich machte. Auch die von dem Kunsthistoriker Kurt Glaser 1932 gegründete Musil-Gesellschaft und die Werkbeihilfe, die die Preußische Akademie der Künste auf Vorschlag von Thomas Mann und Oskar Loerke gewährte, half nur vorübergehend.
Mittlerweile waren der erste und zweite Band des Romans Der Mann ohne Eigenschaften erschienen, doch wurde das Werk durch die Nationalsozialisten verboten, so dass Musil 1933 nach Wien zurückkehren musste. 1938 als die Nationalsozialisten Wien okkupierten, emigrierte Musil mit seiner Frau nach Zürich, lernte hier Fritz Wotruba kennen, hoffte auf eine Emigrationsmöglichkeit nach Amerika oder Großbritannien, und ließ sich, als diese Hoffnungen scheiterten, 1939 in Genf nieder. In bitterer Armut und nahezu vergessen lebte er hier bis zu seinem Tod durch einen Gehirnschlag am 15. April 1942 - an seiner Trauerfeier nahmen acht Personen teil.
Seit der Mitte der zwanziger Jahre hatte sich Robert Musils Arbeit nahezu ausschließlich auf sein Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften konzentriert, ein Werk, das von seiner Konzeption her unvollendbar war und Musil neben Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1913 - 1927) und James Joyce (Ulysses, 1922) als Begründer der Moderne in der Literatur stellt.
Der Mann ohne Eigenschaften hat eine komplexe Entstehungsgeschichte. Neben den veröffentlichten Texten existieren über 11000 Blätter mit Skizzen, Umarbeitungen, Fragmenten etc., die als Teil des Gesamtwerkes miterfasst werden müssen.
Nach Vorüberlegungen, die bis in die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende zurückreichen, begann Musil 1918 mit der Arbeit an dem Roman, wobei er noch zwischen verschiedenen Titeln schwankte: „Der Anarchist“, „Panonia“, „Der Spion“, „Der Erlöser“, „Die Zwillingsschwester“. 1927 entschied er sich für den endgültigen Titel; das erste Kapitel Kakanien veröffentlicht er im April 1928 in „Der Tag“. 1929 begann Musil mit der Reinschrift des ersten Buches des Romans, der im Oktober 1930 (Kapitel 1 - 123; erster und zweiter Teil des ersten Buchs) bei Rowohlt in Berlin herauskam. Ihm folgte im Dezember 1932 der zweite Band (dritter Teil des zweiten Buchs: Kapitel 1-38). 1938 veröffentlichte Musil das letzte von ihm geschriebene Kapitel Mondstrahlen bei Tage in der Zeitschrift „Maß und Wert“, während das umfangreiche Druckfahnenkapite“ (II. Teil: Ins tausendjährige Reich) zwar gedruckt vorlag, doch wegen der Zeitereignisse nicht mehr korrigiert werden konnte. Es blieb bei der Emigration 1938 unveröffentlicht in Österreich zurück. Nach 1938 hat Robert Musil keinen Text aus dem Roman mehr publiziert. 1952 legte Adolf Frisé eine erste Neuausgabe (ohne Druckfahnenkapitel) vor, die eine heftige und kontroverse Diskussion über die Editionsprinzipien und die Verfälschung der Romanintention entfachte. Eine revidierte Ausgabe von 1978 kam den Einwänden weitgehend entgegen und wird heute als zitierbare, noch nicht den Ansprüchen einer historisch-kritischen Ausgabe entsprechende Publikation, verwendet.
Der Inhalt des Romans Der Mann ohne Eigenschaften kann nicht nacherzählt werden, da zum einen die Handlung keineswegs einem Erzählduktus folgt, zum anderen zahlreiche Retardierungen, Reflexionen, Essays und Nebenhandlungen die fortlaufende Handlung nicht zur Entfaltung kommen lassen. Dies ist vom Autor intendiert, da er nur so eine mögliche und veränderbare Realität, die sich aus „Empfindungselementen“ und „Bewusstseinszusammenhängen“ konstituiert, gestalten kann. In dem Roman gibt es keine einheitsstiftende Weltsicht, sondern nur eine durch die Sprachstruktur ermöglichte Welteinheit. Die Handlung vollzieht sich in den ersten drei Teilen auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, die keine mimetischen, sondern syntaktische Funktionen erfüllen:
Das Bewusstsein des Endes der Epoche erscheint in den sprachlichen Widersprüchen der Personen und findet seinen Ausdruck in der sogenannten Parallelaktion, die zum 60. Jahrestag des Regierungsantritts Kaiser Franz Josephs 1918 die Feierlichkeiten zum 35. Jahrestag der Regierung Kaiser Wilhelms II. 1918 kopieren und überbieten will. Zur Vorbereitung der Parallelaktion konstituiert sich ein Festkomitee, das über leeres Gerede nicht hinauskommt. Gegen das gesellschaftliche Geschwätz, das Krieg und Gewalt verbal akzeptiert und verherrlicht und in den Gestalten des „Großschriftstellers“ Arnheim (die Gestalt verweist auf den Politiker und Industriellen Rathenau), Diotima und Graf Leinsdorf deutlich wird, stehen der General Stumm von Bordwehr, der an der Realität und der Realität der Sprache festhält, und die psychisch kranken Figuren - der Prostituiertenmörder Moosbrugger und die Nietzscheverehrerin Clarissa.
Sekretär der Parallelaktion wird Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der das Geschehen analysiert und begleitet und niemals handelnd in die Wirklichkeit eingreift. Beispiel- und modellhaft wird Ulrich zum Typus des Menschen der Moderne als Epoche des Möglichen, des Noch-Nicht, der Utopie.
Die Wiederbegegnung mit der Zwillingsschwester Agathe beim Tod des Vaters erfährt Ulrich als eine „traumhafte Wiederholung“ einer Möglichkeit seiner eigenen Existenz. In den Dialogen zwischen Ulrich und Agathe konstituiert sich eine mögliche Realität. Dabei erkennt Ulrich die atomistische Wirklichkeitsstruktur und versucht nahezu mystisch einen „anderen Zustand“ mit der Schwester zu leben. Doch dieser „andere Zustand“ lässt sich nicht materialisieren, da er nur eine gedankliche Möglichkeit repräsentiert.
Aus der Spannung von Wirklichkeit und Möglichkeit entsteht Ironie als notwendige Erzähldistanz, die verhindert, dass sich identifizierbare Handlungsstrukturen entfalten. So spielt die Handlung wohl in Wien, doch bleibt die historisch-geographische Stadt undeutlich, obwohl sie an ihren Geräuschen erkennbar ist (vgl. Einleitungskapitel), und auch die Handlungszeit (August 1913 bis Frühsommer 1914) ist letztlich für das Geschehen irrelevant. Ulrich als Protagonist nimmt Urlaub vom Leben; damit wird zum einen der Handlungsablauf unterbrochen und zum anderen erinnert der nun eigenschaftslose Mann - Eigenschaften sind Funktionen des Lebens - an die Forderung des Mystikers Meister Eckhart, dass nur der von allen Akzidenzien befreite Mensch, das reine Dasein erfahren kann.
Durchgehend wird der Roman von dem Gedanken durchzogen, dass Wirklichkeit nur eine sprachliche Hypothese, eine Funktion der Grammatik ist, und deshalb jeder Änderung offen entgegensteht. Konsequent erscheint auch die Moral nur als eine Funktion von Bewusstseins- und Realitätselementen und entzieht sich jeglicher Normierung. Begriffe wie moralisch gut und moralisch schlecht sind Funktionen von Handlungen, die sich aus der sprachlich-syntaktischen Struktur einerseits und der Gewichtung der Variablen andererseits erklären. Der Mann ohne Eigenschaften reflektiert die Möglichkeit des „anderen Zustands“ als subjektive sprachliche Utopie, die sich literarisch als Essayismus manifestiert. (Diether Krywalski, Geretsried)