Ludwig Erik Tesar: Jesse Wittich
Roman- Jahr der Publikation
- 1913
- Verlag
- Juncker; Der Kentaur
- Publikationsort
- Berlin-Charlottenburg; Leipzig/Wolgast
- Gattung
- Roman
- Bibliographische Daten
- Jesse Wittich. Roman. Juncker, Berlin-Charlottenburg 1913; Der Kentaur, Leipzig u. a. 1913 [Die Kentaurbücher].
- Art der Veröffentlichung
- Separate Veröffentlichung
Die Handlung des (wahrscheinlich 1909-1911 entstandenen und unter dem Pseudonym Ludwig Erde erschienenen) Romans Jesse Wittich, auf dessen sprachliche und erzähltechnische Gestaltung wenig Wert gelegt wurde, ist kurz berichtet: Jesse Wittich, ein junger Lehrer für Naturwissenschaften, wird an eine Wiener Schule versetzt. Mit seiner kompromisslosen Kritik an der Schule gerät er bald in eine Außenseiterrolle. Nach dem Mord und Selbstmord zweier Schüler wird er von seiner Klasse in einen Zusammenhang mit dem grausigen Geschehen gebracht, Disziplinarprozess und Entlassung sind die Folge. Ob sein Abschiedsbrief auf Selbstmord hinweist, bleibt offen. (Dass dieser Roman, der autobiographische Züge aufweist, ihn persönlich vor dem Selbstmord bewahrt habe, bekennt Tesar in seinem Brief an Ludwig v. Ficker vom 26.1.1913.)
„Der Lehrer hat aber nicht Fachmensch zu sein, er muß danach trachten, ein vollkommener Mensch zu werden“: der Roman Jesse Wittich zeigt, wie ein Lehrer mit diesem (1909 von Tesar in einem Vortrag erhobenen) Anspruch in der Schule scheitert.i Der radikale Reformlehrer Wittich hofft (vergeblich) darauf, dass die Schüler sein antiinstitutionelles Verhalten mit der Aufgabe der Schülerrolle, der „Entschulung“ ihres eigenen Verhaltens honorieren. Er hasst sie, weil sie ihn zum Lehrer machen, und quält sie im Unterricht mit langen Selbstgesprächen. Seine Versuche, in der Schule Fuß zu fassen, scheitern, weil er in ihr als Lehrer nicht Gestalt annehmen kann. Er ist der Ansicht, der Lehrer flüchte aus Feigheit vor der Selbständigkeit und Unbequemlichkeit in den Trott und die Versorgung des Beamtenstandes, prangert aber auch den Zwang zur Aufgabe der eigenen Individualität zugunsten jener der Schüler an. Ein großer Teil des Romans spielt nicht in der Schule, sondern besteht in (von Otto Weininger angeregten) Reflexionen über die Ehe und die Domestizierung der Sexualität. Wittichs Ehe beraubt ihn wie die Schule des intensiven Lebensgefühls, nach dem er sucht; beide funktionieren nach dem gleichen Vertröstungs- und Illusionierungsprinzip. Er flieht vor den eigenen Problemen in Kunst und Mystik. Der Roman reflektiert die Kehrseite des pädagogischen Fortschritts, protestiert gegen die Persönlichkeitsverformung des Lehrers in der Schule und zeigt etwas von den Wünschen und Motiven, die die Schulkritik der Reformpädagogik angetrieben haben. Ob die Schulkritik des Romans der Grund für seine Beschlagnahmung durch die Staatsanwaltschaft in Berlin im Jahre 1914 war, muss offenbleiben.