Heinrich Herbatschek: Im Ausgedinge


Unvollendet
Jahr der Publikation
1909
Publikationsort
Leipzig
Gattung
Drama
Bibliographische Daten
Heinrich Herbatschek: Im Ausgeding: Drama in einem Akt. Leipzig 1909
Art der Veröffentlichung
Separate Veröffentlichung

Das Drama Im Ausgedinge ist eine realistisch-naturalistische, eher situationsgebundene als milieuverliebte Miniatur, die aus insgesamt acht kurzen Szenen besteht. Es spielt sich in einem klar umgrenzten Raum ab, in dem anhand einer geringen Figurenzahl ein konfliktreiches Familiengeschehen dargestellt wird. Eine zeitliche und örtliche Verankerung des Dramas ist nicht ersichtlich, aber man kann davon ausgehen, das es sich auf Herbatscheks Gegenwart bezieht. Im Duktus eines Amateurstücks – einschließlich einer leichten Unbeholfenheit im Auftreten der Figuren, doch unter Beibehaltung der notwendigen Theatralik – und mit dem Verweis auf einige ernsthafte, insbesondere soziale Probleme der vorletzten Jahrhundertwende zielt das Stück auf ein literarisch weniger geschultes Publikum. Sehr oft balanciert es zwischen Ernsthaftigkeit und Komik. So bedeutet beispielsweise der Schluss des Stückes eigentlich kein offenes Ende. Es handelt sich eher um eine ins Tragikomische gebogene Szene mit aposiopetisch-elliptischem Abbruch der Handlung und ein den Leser in Verlegenheit bringendes Ausbleiben des erwarteten Todes des Hauptprotagonisten.

Das Drama bietet eine übersichtliche Figurenkonstellation, sieben Dramatis Personae beteiligen sich – mit kleinerem oder größerem Engagement – an der insgesamt einfachen Handlung. Der alte Bennisch wird von der Witwe Mühlmann, die sich in seine Gunst hineinzuschmeicheln versucht, heiß umschwärmt. Bennischs Hauptanliegen ist allerdings das Glück seiner einzigen Tochter Anna, die er nach dem Tod seiner Gattin allein erzog und die inzwischen mit einem jungen Mann, Johann Kreitner, verheiratet ist. Die wahre Natur Kreitners konnte keiner von ihnen erkennen. Bennisch leidet unter Vorahnungen und dunklen Fantasien, er fühlt, dass er nun eine Last für das Haus ist. Dies hängt auch mit dem Umstand zusammen, dass sein Schwiegrsohn ein Geheimnis verbirgt und dass er sich der Familie inzwischen entfremdet hat. Bennisch flüchtet sich in Träume über seine verstorbene Frau und hegt Todesgedanken. Aus dem vagen Vorgefühl erwächst bei ihm der Zwang, Johann genauer zu beobachten, um seine Absichten festzustellen. Und einmal ertappt er ihn tatsächlich beim Flirten mit der Tochter der Witwe Mühlmann, Agnes. Johann bagatellisiert und relativiert seine Schuld, wobei er dem Vater Bennisch sogar Vorwürfe bezüglich seines Ausgedingerdaseins macht. In diesem Augenblick bricht für Bennisch eine Welt zusammen. In der Vorahnung des Todes lässt Bennisch den örtlichen Pfarrer herbeirufen. Inzwischen verschwindet Johann aus dem Hause und auch die Witwe Mühlmann stellt fest, dass ihre Tochter Agnes das Geburtshaus insgeheim verlassen hat – wahrscheinlich ist sie mit Johann Kreitner geflüchtet. Der herbeigerufene Pfarrer besänftigt Bennisch mit einer kurzen frommen Rede, wobei der Tod Bennischs nur angedeutet, jedoch nicht inszeniert wird.

Herbatschek arbeitet zum erheblichen Teil mit klischeehaften Bildern und schematischen, stereotypen Figuren, deren Arrangement dem ganzen Drama einen unverwechselbaren Charakter aufprägt: die durchtriebene Witwe, die es auf einen älteren Witwer und vor allem dessen Eigentum abgesehen hat (Frau Mühlmann), die musterhaft dankbare und kindlich ehrerbietige und gehorsame Tochter (Anna), das moralisch schwache und leicht verführbare Mädchen (Agnes). Der Schauplatz ist ein anonymes Dorf, aber es handelt sich um kein Raumdrama, denn im Vordergrund steht die Familie Bennisch bzw. Kreitner und ihre Situation im sozialen, psychologischen und ethischen Umfeld. Die Familienkonstellation sorgt für Konflikte, bei denen die aktuellen oder die in der nahen Vergangenheit wurzelnden, latenten Probleme an die Oberfläche dringen.

Herbatschek greift hier ein um die Jahrhundertwende brennendes gesellschaftliches Thema, ja ein ganzes Phänomen auf, das sich auf die soziale Existenz des Menschen im höheren Alter bezog, nämlich die Problematik des Ausgedinges und des Ausgedingers, jenes älteren Menschen, der eine von seinen Nachkommen abhängige, in vielen Fällen armselige Existenz führten musste.  Die Institution des Ausgedinges spielte eine starke soziale Rolle im Sinne der moralischen Ökonomie, d. h. jener von moralischen Werten getragenen Wirtschaftsweisen, die auf gegenseitiger Unterstützung aufgebaut sind. Die Brisanz des von Herbatschek dargestellten Konflikts besteht im Zusammenstoß ebendieser Existenz (durch die ältere Generation repräsentiert, Bennisch) mit der triebhaften Natur des jungen Menschen (durch die jüngere Generation repräsentiert, Johann Kreitner), und zwar im Zeitalter der Geldherrschaft, in dem die ethischen Belange an Bedeutung verlieren und das Ethos nur von einigen Auserwählten getragen wird (durch die jüngere Generation repräsentiert, Anna).

Der Hauptprotagonist Bennisch, eine einfach und transparent konstruierte, mit zentralen Botschaften und einem starken didaktischen Impetus versehene Figur, fungiert hier als Herbatscheks Sprachrohr. Er ist der Repräsentant des alten moralischen Codes, der parallel mit der alten Welt verschwindet und in der neuen Welt nur rudimentär vertreten bleibt. Dem entsprechen auch seine relativ langen, didaktisch ausgerichteten Reden, die überraschenderweise Keime von Erzählungen enthalten. Man bekommt auch ein bruchstückhaftes psychologisches Material zu Gesicht, beispielsweise Bennischs Träume, Visionen von seiner toten Frau, kurze Pathografien (diese Textstellen erinnern entfernt an Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel) und moralische Reflexionen. Bennisch idealisiert und adoriert seine Tochter Anna, denn er sieht in ihr ein genetisch fundiertes Abbild seiner Ehefrau, für ihn ist sie „die ganze Mutter“.[1] Bennisch selbst wird allerdings vom Autor nicht idealisiert, sondern nur objektiv, samt seiner Lehrhaftigkeit, festgehalten, dabei wird das Gebot der Mimesis angewendet. In durchaus realistischer Sprache wird lediglich das aufgezeichnet, was in der realen Welt hätte gesagt werden können.

Herbatschek bedient sich bei all dem eines mehr oder weniger technischen Naturalismus, das heißt vor allem der Milieudarstellung, der Dialektverwendung, der Pathographie und der Vergangenheitswirkung. Ein weiteres Indiz für die Anwendung naturalistischer Vorgehensweisen ist das Wirken einer Katalysatorfigur. Diese Rolle übernimmt Johann, der einst zum feststehenden Figurenensamble (Bennisch, Anna, Agnes, Mühlmann) hinzutrat und der nun die Brüchigkeit tradierter Strukturen demonstriert. Er ist der naturalistische Bote aus der Fremde und handlungstechnisch der eigentliche Fremdkörper, der als Agent der modernen Welt mit all ihren Verlockungen und zugleich als Repräsentant der Doppelmoral des Bürgers die festgefügten Beziehungen innerhalb einer lange funktionierenden traditionellen Gemeinschaft – obwohl mit aufgeschobener Wirkung – befällt und ändert. Er sorgt für eine neue Konstellation der alten Elemente des gesellschaftlichen Mosaiks (der Ausgedinger Bennisch als Last, die verbotene Liebe als erlaubte Liebe). Die Reihe von Erscheinungen, welche pathologische Züge aufweisen, ist aber noch länger, z. B. die Störung der bürgerichen Ehe durch die freie Liebe oder der Tod als ökonomischer Faktor.

Im Sinne der naturalistischen Ästhetik ist Im Ausgedinge ein durch die Aufzeichnungsmethode gewonnener Lebensausschnitt mit dem Charakter eines Entwurfes des Milieus und der Lebensbedingunen, eine knappe dramatische Studie mit Tendenz zur soziologischen Erfassung der Realität und zur Aktualität, wobei die eine Stunde dauernde Handlung im Sozialraum der Familie Bennisch einer halben Stunde in der außerliterarischen Realität entspricht. Die Handlung ist im Prinzip eine protokollähnliche Darstellung von Charakteren und eine Fixierung des Zustandsbildes. Dieses Protokollieren wird von einem minimalen Einsatz der Bühneneffekte begleitet. Wohl der einzige auffällige Effekt, den man den Regieanweisungen entnehmen kann, ist der parallel mit dem Dialog der Figuren verlaufende Sturm, der eine Tonkulisse dramatischer Passagen darstellt und der eine Art Verdoppelung oder Hervorhebung der Aussage ermöglicht.

Herbatschek verknüpft die eigene Familiengeschichte mit einem weiteren Problemfeld, das hier parallel zur Sprache gebracht wird, und zwar mit der Kluft zwischen Land und Stadt. Das Land ist Natürliche, Unverdorbene, Nahe, Unvermittelte und in vieler Hinsicht Heilige. In Bennischs Auffassung macht sich die Diskrepanz zwischen der urbanen und der ruralen Daseinsweise insbesondere im ethischen Bereich bemerkbar. Johann verteidigt wiederum sein Recht auf die Genüsse der diesseitigen Welt und macht Carpe diem zu seinem Lebensprogramm. Nach Ansicht von Bennisch ist Johann „halt doch so ein Stadtmensch.“[2] und er verweist auf die unterschiedlichen Attribute, die dem Stadtleben und dem Dorfleben inhärent sind:

Obwohl der alte Bennisch in verschiedenen Rollen (Augenzeuge und Entdecker der Wahrheit, Mentor, Visionär, Kritiker) an das Problem innerhalb seiner Familie heranzugehen versucht, ist seine Bemühung nicht von Erfolg gekrönt. Das Gegenteil ist sowieso ausgeschlossen. Nicht nur Bennisch, sondern auch weitere Akteure sind sozusagen zu einer Art sozialer und moralischer Gefangenschaft verurteilt. Sie bemühen sich nicht darum, ihren Lebensplan oder überhaupt den Lebenssinn in der gewandelten Situation für sich selbst neu zu definieren und eventuell – mit Ausnahme von Anna – eine metaphysische Verankerung zu finden.

 

[1] Im Ausgedinge, S. 7.

[2] Im Ausgeding, S. 8.

Libor Marek: Zwischen Marginalität und Zentralität. Deutsche Literatur und Kultur aus der Mährischen Walachei (1848–1948). Univerzita Tomáše Bati, Zlín, 2018.