Heinrich Herbatschek: Skizzenbuch
- Jahr der Publikation
- 1929
- Verlag
- Frisch
- Publikationsort
- Wien
- Gattung
- Kürzere Prosa (Novelle, Erzählung usw.)
- Bibliographische Daten
- Herbatschek, Heinrich: Skizzenbuch. Wien: Frisch, 1929
- Art der Veröffentlichung
- Separate Veröffentlichung
Die Nähe des Skizzenbuches zum Duktus repräsentativer Texte der Jung-Wiener, hauptsächlich in Bezug auf die Stil- und Ideenmerkmale, ist unumstritten. Herbatschek lässt meistens einen wortgewandten und geschliffenen personalen Erzähler agieren, der die erlebte Rede und den inneren Monolog verwendet. Herbatscheks Skizzen spiegeln diverse Verfallsphänomene wider, sie sprengen aber völlig den Zeitrahmen und wurzeln im Zeitlosen. In der ersten und in vieler Hinsicht tonangebenden Skizze, „Narzissenfest“, inszeniert Herbatschek die Genfer Seelandschaft als Handlungsort mit einem weltmännisch-internationalen Flair. „Narzissenfest“ spielt sich zum Teil in einem noblen Berghotel, allem Anschein nach in Montreux, ab. Der Hauptprotagonist der Skizze, Konrad Sporck, ein Ästhet und Solitär aus dem Geschlecht der Wiener Narzissen, wartet hier auf ein Ereignis, das die klaffende Leere in seinem bisherigen Leben füllen und eine Wende durch Erkenntnis herbeiführen würde. Das „Narzissenfest“ liest sich wie ein Ausschnitt aus dem Leben des viel bekannteren Propheten des Narzissmus, der Hauptgestalt der für die Moderne paradigmatischen Erzählung Der Garten der Erkenntnis von Leopold Andrian. Die Handlung ist auf die Wiedergabe von anscheinend belanglosen Gesprächen und Erlebnissen reduziert. Der Text verfügt über ein Arsenal von Stimmungen, Duft-, Licht- und Farbwahrnehmungen. Die Außenwelt zerfällt in impressionistischer Manier, sie manifestiert sich spontan durch augenblicksartige Erscheinungen, von denen der Erzähler berichtet. Das verwendete Handlungsmuster ist auf den ersten Blick banal. Auf der Darstellungsebene geht es um den Weg des Hauptprotagonisten zur Blumenfeier, welcher auf der symbolischen Ebene als die radikale Versenkung des Individuums ins eigene Ich und in die nicht besonders weit entfernte Vergangenheit zu verstehen ist. Dazu trägt auch der spezifische Handlungsraum bei, die Genfer Seelandschaft, die eine moderne Transformation der ursprünglich regionalen, politisch oder national aufgeladenen Räume aus den früheren Werken Herbatscheks zu sein scheint. Der Verlauf des Narzissenfestes ist durch einen tragischen Vorfall gekennzeichnet – durch den Tod einer unbekannten Dame, die sich beim abschließenden Zeremoniell in den See stürzt. Aus den Anspielungen des Erzählers kann man darauf schließen, dass es sich um die Mutter Konrads handelt, die kurz nach der Ankunft in Montreux freiwillig aus dem Leben scheidet. Konrads Vater, ein Lebemann und Lebenskünstler, lernte vor vielen Jahren seine Frau gerade während des Narzissenfestes kennen. Offensichtlich unterhielt er aber auch weiterhin Beziehungen zu anderen Frauen. Allem Anschein nach hatte er vor vielen Jahren mit einer von ihnen das Mädchen namens Thekla gezeugt, das nun – samt ihrer Mutter –Konrad im Berghotel rein zufällig begegnet, und zwar unmittelbar vor dem Anfang des Festes. Thekla ist, wie man vielleicht erwarten könnte, keine schwächliche Femme fragile aus dem Lehrbuch der Wiener Moderne. Sie weist auch keine stilisierte Laszivität oder Verlogenheit auf, eine inzestuöse Beziehung mit Konrad kommt ebenfalls nicht zustande. Thekla stellt eher ein Surrogat Gottes dar – wie übrigens ihr Name verrät (vom altgriechischen Namen Theokleia – die von Gott Gerufene). Dementsprechend mahnt sie Konrad zur Reflexion und Erkenntnis. Theklas Mutter, die ehemalige Geliebte von Konrads Vater, ist eine Femme fatale, nur insofern die Begegnung mit ihr den Selbstmord ihrer lebenslangen Rivalin, der Mutter Konrads, herbeiführt. Hinter dem impressionistischen Arrangement der Skizze verbirgt sich eine feinsinnig durchdachte Rollenkonstellation: der gleichgültige Ästhet und autistische Moralprediger Konrad, Thekla als verkörperte Provokation und Warnzeichen eines nicht mehr existierenden Gottes, Theklas Mutter als Schicksalsfrau, Konrads Vater als Prototyp des modernen Menschen ohne moralischen Code, Konrads Mutter als tragische Opferfigur. Herbatschek zeigt dabei eine beinahe juristische Zurückhaltung und Umsicht, er bewegt sich um jeden Preis im Rahmen des gesetzlich Erlaubten und vermeidet Exzentrizitäten. Insgesamt lässt sich in „Narzissenfest“ beobachten, dass die in der Moderne enttabuisierten Themen zwar aufgeworfen, aber sofort uminterpretiert oder verschleiert werden. Bis zum Ende werden einige Geheimnisse gewahrt, beispielsweise das Geheimnis des Todes von Konrads Vater, für weitere sorgen die unzähligen Leerstellen in der Handlungsstruktur. Die rückwärtsgewandte, in Impressionen und symbolische Gesten zerfallende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gibt schließlich das Geheimnis von Konrads Leben preis – bis zum Narzissenfest hielt ihn nämlich „eine Kraft zurück, deren Quell ihm nicht bewußt war.“ Die erkannte Wahrheit über seine Familienverhältnisse, über seinen leichtsinnigen Vater, die Folgen seines verantwortungslosen Handelns und der daraus resultierende Tod seiner Mutter generieren eine klare Botschaft: Für frivole Abenteuer, auch für diejenigen der Väter, wird man früher oder später bezahlen. Auch in der modernen Welt, oder vielleicht gerade in der modernen Welt, muss man der Freiheit Grenzen setzen, und zwar durch die aufklärerischen Werte Vernunft und Moral. Das Leben, das sich als Fest, Rausch und Schönheit gestaltet, ist im Endergebnis lebensgefährlich. In das komplizierte ästhetische und dekadente Arrangement des Narzissenfestes fand also – mit einer beinahe didaktischen Raffinesse – eine moralisierende Mahnung Eingang. Die ästhetische Moderne wird in Narzissenfest postuliert und zugleich mit ihren eigenen Mitteln überwunden. Das unrettbare Machsche Ich bemüht sich doch um eine Rettung.
Auch weitere Skizzen des Prosabandes bieten mannigfaltige Facetten der ästhetischen Moderne – mit Modifizierungen. Das in „Narzissenfest“ erörterte Thema Suizid wird in der Skizze „D´Ferdinandsbruck´n“ wieder aufgegriffen. Der für viele Texte der Wiener Moderne typischen, psychologisierenden Perspektive geht hier noch ein historischer Exkurs voraus. Es werden drei Ereignisse aus der Geschichte der Wiener Ferdinandsbrücke festgehalten und durch die Thematik des Todes verbunden: die Legende von ihrer Gründung im 14. Jahrhundert, das turbulente Geschehen im Revolutionsjahr 1848 und das Ende des Ersten Weltkriegs. Die Brücke symbolisiert jeweils die durchlässige Grenze zwischen Leben und Tod – in welcher Form und Epoche auch immer er auftritt.
Die Titelheldin der Skizze „Nora Hofmann“ ist eine geheimnisvolle, der Spionage verdächtigte Frau. In der Haft erträgt Nora stoisch alle Verhöre, die impressionistisch nur auf Empfindungen reduziert werden. Die als Häftling in einem Kloster untergebrachte Nora zieht die Aufmerksamkeit der Nonne Placida auf sich. Die Skizze kreist ähnlich wie „Narzissenfest“ um die Themen Liebe und Freiheit. Die lesbische Liebe zwischen Placida und Nora steht allerdings nicht im Mittelpunkt des Geschehens, wie man erwarten würde. Nora strebt Freiheit an und will aus dem Gefängnis fliehen, Placida sucht Liebe und hilft Nora aufopferungsvoll bei ihrer Flucht aus dem Kloster. Die grundsätzliche Frage dieser Skizze lautet: Welchen Stellenwert nimmt im Leben des modernen Menschen die Freiheit ein und was alles ist er bereit für die Freiheit zu opfern?
„Der Kompagnon“ (Ein Romanfragment) ist eine Sondierung der Psyche eines Heranwachsenden, Wilhelm Viktors, der isoliert lebt und sich völlig seinen sexuellen Fantasien hingibt. Der Dachboden, auf dem er sich oft bewegt, ist ein Abbild für seine durch Triebe und Schuld zerrissene Seele. Hier trifft er auch die Untermieterin und Geliebte des örtlichen Pfarrers, die er vergewaltigt. Diesen Prototyp der Frau sucht Wilhelm anschließend in jeder anderen Frau. Die geistige Verwandtschaft der Skizze mit Robert Musils Törleß-Roman ist hier kaum zu verkennen.
Im Unterschied zu dem intellektuell veranlagten Konrad Sporck und dem sadistisch orientierten Wilhelm Viktor ist der Hauptprotagonist der mystisch anmutenden Skizze „Herzbub“ ein Symbol für die ästhetisch fundierte Maskulinität und zugleich für das männlich regierte Abendland. Die Kunst, hier durch eine Statue repräsentiert, steht wiederum für das weibliche Prinzip. Die Kunst und der rauschhafte Genuss des Lebens stellen in Herbatscheks Auffassung ein gefährliches und regressives Element dar, ähnlich wie in „Narzissenfest“.
Im dramatischen Fragment „Nach der Scheidung“,das ein Gespräch von zwei jungen Frauen festhält, bietet Herbatschek eine andere Sicht auf die Maskulinität, nämlich Männlichkeit als Last trotz ihrer bewegenden Kraft.
Die in die chinesische Vergangenheit verlegte Skizze „Liebet euch“ erzeugt eine tragikomische Illusion von der humanen Staatsmacht, die als moralische Utopie präsentiert wird. Nu-cha-min, ein in der chinesischen Provinz lebender Gutspächter, setzt sich für die Befreiung Ku-hus, eines Dissidenten, ein, der von der Staatsmacht ungerecht beschuldigt wurde. Nu-cha-min stirbt bei einem Anschlag, der das Staatsoberhaupt paradoxerweise zu keinen weiteren Repressionen, sondern zur Umkehr und humanen Lösungen veranlasst.
In der ästhetisch und dekadent gefärbten Skizze „Das Sujet“ werden die Qualen eines jungen Autors geschildert, der die Unmöglichkeit, ein neues Sujet für seine Texte zu erfinden, thematisiert. Die Fiktionalität und das Schreiben steigen hier zum Symbol für das Leben selbst auf. Alle Lebensentwürfe scheinen dekadent – alt, unbrauchbar, überwunden, ja tot – zu sein. Die ganze Skizze kippt schließlich ins Komische.
Die Erzählung „Der Gottsfopper“, die sich im Ersten Weltkrieg abspielt, überlebt ein österreichischer Soldat, hier ein Sprachrohr Herbatscheks, den Angriff der russischen Truppen. Nach der Rettung muss er einsehen, dass er als moralisierender Idealist und Individualist mit seinen existentiellen Erfahrungen nirgendwo hineinpasst. Er ist plötzlich ein Fremder unter den Eigenen, denn er entfremdete sich von seiner Umgebung, die sich keine Fragen bezüglich der Ethik des Lebens im Krieg stellt
Libor Marek: Zwischen Marginalität und Zentralität. Deutsche Literatur und Kultur aus der Mährischen Walachei (1848–1948). Univerzita Tomáše Bati, Zlín, 2018.