Johanna Anderka kam am 12. Januar 1933 in Mährisch-Ostrau zur Welt und besuchte in ihrer Geburtsstadt auch die Volksschule. Im Frühjahr 1945 flüchtete sie mit ihrer Mutter nach Nordböhmen, im Juni kehrten sie jedoch wieder nach Ostrau zurück, wo sie in einem tschechischen Lager interniert waren, bevor sie ausgesiedelt wurden. In Deutschland setzte Johanna Anderka ihre Schulausbildung fort. Seit dem Jahre 1950 lebt sie in Ulm, wo sie lange Jahre als Verwaltungsangestellte in einer Krankenkasse arbeitete. Seit Februar 1993 ist sie pensioniert.
Johanna Anderka schrieb seit frühster Kindheit. An die Öffentlichkeit trat sie jedoch erst Mitte der 1970er Jahre. Ihre erste größere Veröffentlichung war ihr Roman Ergebnis eines Tages (Elke Schwarz-Verlag in Baden-Baden), der im Jahre 1977 erschien. Seit über 15 Jahren werden Gedichte und Geschichten von Johanna Anderka in der Zeitschrift Sudetenland veröffentlicht. Ihre Beiträge wurden auch in Anthologien und anderen Zeitschriften veröffentlicht. Obwohl Johanna Anderka auch lyrische Prosa, Essays und Buchrezensionen schreibt, tritt sie vor allem als Lyrikerin hervor. Es wurden ihr zahlreiche Preise verliehen: 1. Preis im Prosa-Wettbewerb „Mauern“ der Literarischen Union in Saarbrücken (1977), Nikolaus-Lenau-Preis der Künstlergilde Esslingen (1985, 1987, 1989 und 1991), Kulturpreis für Schrifttum der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1988), Hafiz-Preis (Lyrik und Prosa, 1988 und 1989), Literaturpreis der GEDOK Rhein-Main-Taunus (Prosa, 1990), Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis (1992) und Inge-Czernik-Preis für Lyrik der Edition L. (1994).
Anderkas lyrische Begabung lobte beispielsweise Christine Lammel: „Wenn an Lyrik der Anspruch gestellt wird, das auszudrücken, was sonst nur schwer auszusprechen ist, dann ist Johanna Anderka diesem Anspruch gerecht geworden.“ Über ihr schriftstellerisches Talent sprach in einer Rezension auch Vera Lebert-Hinze:
Die Lyrikerin versteht es, die Aussagen auf das Wesentliche zu verkürzen, jedoch geht diese Reduktion nicht auf Kosten sprachlicher Schönheit und Intensität. Bei aller Sensibilität und Emotionalität ist den Gedichten eine gewisse Rationalität eigen. Sie weisen zupackende Wörter aus, die die Waage halten mit geträumtem Anderem. (In: Der Literat 5/1992).
Über Anderkas prosaistische Werke äußerte sich Gerold Effert:
Sie versteht es, in einer Bilderkette Traum und Erinnerung bruchlos miteinander zu verbinden, die Ängste einer Kindheit in schweren Tagen überzeugend zu beschwören, aber auch die seltenen und darum so kostbaren Augenblicke des Glücks. Die sprachlich geglückte, atmosphärisch dichte und eindrucksvolle Prosa, der man an vielen Stellen die Nähe zur Lyrik anmerkt, ist wie 'ein starker Traum voll leuchtender Farben' [...] (In: Sudetenland 1 /1993).
Johanna Anderka wurde von den bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsereignisse geprägt - Veränderungen, Abschiede, Umzüge. Angst war für sie die „immerwährende Schwester“ (Nachstadt, S. 51). In dem Werk Nachtstadt. Träume und Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg (1992) heißt es:
Die Angst ist eine schwarze Spinne, die an ihrem Faden von der Decke hängt. Krieg heißt die Spinne, Zerstörung, Ausgeliefertsein, Verlassenwerden und Verlassenmüssen. Sie nährt sich von der Hilflosigkeit der Groben, ihrem Versagen. Sie frißt den Panzer der Behütung auf. Kindsein heißt die Spinne, Kleinsein, Schwachsein, Bravsein, um geliebt zu werden. (Ebd., S. 52)
Dem Kind mangelte es an Wissen und Erfahrungen, es musste sich im Laufe des Krieges sogar an das Töten und Sterben gewöhnen. Der Vater kämpfte an der Front, das Kind musste von ihm im Jahre 1944 Abschied nehmen. Als dann die Front näher rückte, trugen die Frauen allein jegliche Verantwortung für ihre Familien. Auf die angstvolle Flucht folgte der unfreundliche Empfang in der Fremde, Lagerleben, Holzbaracken, Aufseher, traumlose Nächte, harte Arbeit.
Wie im Werk Nachtstadt erinnert sich Johanna Anderka an die Kriegszeit - an das Kind von damals - im Buch Bewahrte Landschaft (1999). Dabei wird das „´Bewahrte´ nicht in Verklärung gehüllt, vielmehr mischt sich das Gold der Frühe, das Grau der Schatten, die die Angst wirft, bis ins Riesengroße, bis ins Schwarze der Nacht“ (V. Lebert-Hinze. In: Der gemeinsame Weg. Oktober 1999).
Erfüllt vom „nicht benennbaren Schmerz des Verlustes“ (Nachstadt, S. 53), weit entfernt von dem Kind, das man damals war, doch „ihm immer noch verhaftet“ (Bewahrte Landschaft, S. 5), kehrt die Autorin nach vielen Jahren in das Heimatland zurück und besucht ihre Kindheitsstadt. Sie findet das Elternhaus verändert vor, „die Jahre haben es das Leben gekostet, haben es schäbig und unbewohnbar gemacht“ (Nachstadt, S. 17). Die in Erinnerungen bewahrte Vergangenheit und die Gegenwart werden mit den gespeicherten Erinnerungssplittern vom Weggehen und Verlassenmüssen und den neuen Eindrücken konfrontiert. Obwohl einiges enttäuschend sein mag, bleiben ihre Bemerkungen vorwurfslos – sie weiß, dass ihr hier nicht nur vieles weggenommen, sondern auch geschenkt wurde. Das Heimatland bedeutete ihr nicht nur das Finstere - Gewalt, Hass, Rache und Angst -, sondern auch die Wärme und ein Gefühl der Vertrautheit.
Anderkas Werk Gegen die Fremdheit gesprochen (1994) wurde ins Tschechische übersetzt und zweisprachig herausgegeben. Auch dieses Werk basiert auf den bei der Reise in die alte Heimat gewonnenen Eindrücken und Kindheitserinnerungen. In Prosa und Vers thematisiert die Autorin historische Ereignisse der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit (das Attentat auf Heydrich, die Vernichtung der Stadt Lidice, die Nachkriegsereignisse in Aussig, den Brünner Todesmarsch, Vertreibung und Abtransport im Güterwaggon usw.) und bietet poetische Schilderungen der Natur und der mährischen und böhmischen Städte (Proßnitz, Klenowitz in Hanna, Kremsier, Dukovany, Prag, Kolín, Brünn, Křišťanov).
Auch hier versucht sich Johanna Anderka in die Seele des Kindes von damals einzufühlen und vergleicht das mit kindlichen Augen Gesehene mit der gegenwärtigen Realität: „Die Wirklichkeit ist anders und wert, betrachtet zu werden" (Ebd., S. 38).
Johanna Anderka betont wiederholt, dass sie ein kleines Kind war, als man sie lehrte, „im Anderssprachigen den Bösen zu sehen“ (Ebd., S. 118) und akzentuiert die Sinnlosigkeit des Krieges, spricht vom erlebten Leid auf beiden Seiten – der deutschen sowohl als auch der tschechischen Seite. Anderka erwähnt auch die Tatsache, dass trotz der Feindseligkeit auch die Liebe ihren Platz fand - in einer Erzählung lässt sie einen Deutschen und eine Tschechin miteinander die Ehe schließen. Ähnliche Themen klingen auch in weiteren Erzählungen Anderkas an, so in Das Puppenhaus, Über die Freude oder Zweierlei Dinge.
Obwohl aber „Krieg und Vertreibung für Johanna Anderka persönliches Lebenstrauma und schriftstellerisches Lebensthema sind“ (Ulmer Kulturspiegel vom 12. Mai 1999) und sie „immer wieder die Sehnsucht nach Geborgenheit in den Mittelpunkt ihrer Gedichte stellt“ (Wiesbadener Kurier vom 7./8. März 1992), verarbeitet sie nicht nur eigene Erlebnisse. Sie reagiert auch auf das aktuelle Weltgeschehen. So thematisiert sie wiederholt den Wahnsinn des Krieges, sei es der Zweite Weltkrieg, der Golf-Krieg, der Krieg im Kosovo (1999) oder den Terror-Anschlag am 11. September 2001.
Im Gedicht Angst heißt es: „Meine alten Gedichte/ die ich lese nachts/ die Angst des Kindes/ in Silben gepreßt/ Machtlos bin ich/ wie damals/ wieder ausgeliefert/ dem Unsprechbaren…“ (S. 7). Das Wort „Angst“ zieht sich durch Anderkas „ausgereifte, ausgefeilte lyrische Prosa“ (Lebert-Hinze: Der gemeinsame Weg, Nr. 96/1999), durch ihre Kindheitserinnerungen und ihre „wohlgestalteten, sprachmelodisch ausgewogenen Verse“ (Lebert-Hinze, Sudetenland 2000).
Die meisten Texte von Johanna Anderka haben einen Bezug zu ihrer Kindheit. Auch wenn sich die Beschäftigung mit der Nachkriegszeit wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten zieht, betont die Autorin, dass sie sich jedoch keinesfalls zu den alles verlorenen verklärenden Heimatdichtern zähle. Warum sie über die Heimat schreibt, erklärt Johanna Anderka, wie folgt:
Heimat, sagt man, kann überall sein: wo man Freunde hat, geliebt wird, Geborgenheit findet und Sicherheit. Man kann Heimat neu schaffen, wenn man sich dem Leben öffnet und guten Willens ist. Aber die Heimat, die man verlassen mußte, die einem genommen wurde – kann man sie je vergessen? Viele Erinnerungen verwischt die Zeit, Bilder verändern und verklären sich, Wunschdenken färbt sie bunt und golden. Einzelheiten gleiten aus dem Zusammenhang und bekommen ein neues Gesicht. Aber manches bleibt. Sind es nicht die kleinen Geschichten, nicht selbst erlebt, aber oft und oft gehört und tief eingeprägt, diese eigentlich belanglosen und doch so vertrauten, geliebten Geschichten, die die Zeit überleben und bleiben? […] Etwas, mit Worten nicht Wiederzugebendes, sich nicht Fassenlassendes wird lebendig, wenn ich an diese Geschichten denke. Etwas Verlorengeglaubtes ist wieder da und zeigt mir, daß die Heimat der Kindheit nie verloren gehen kann. […] Und ich wünsche mir, sie weitergeben zu können, diese kleinen, belanglosen Geschichten, um mit ihnen noch eine Weile am Leben zu erhalten, was doch längst schon zum Vergessen, zum Sterben verurteilt ist – die Erinnerung an meine Heimat. (Die kleinen Geschichten. In: Heimat Beskidenland. S. 123-126)
Ihre erste Wiederbegegnung mit der alten Heimat erfolgte erst im Jahre 1987. Seit dieser Zeit hat die Autorin zwei Lesereisen quer durch die Tschechische Republik unternommen - die erste im Jahre 1992, die zweite ein Jahr später. Am 7. Oktober 1997 las Johanna Anderka an der Universität in Ostrau.
Štepánka Hetfleischová