Rudolf Kassner wurde als siebtes von zehn Kindern einer wohlhabenden Familie geboren - sein Vater war Besitzer einer Zuckerfabrik und Pächter kaiserlicher Domänen. Mit neun Monaten erkrankte Kassner an Poliomyelitis; eine lebenslange, schmerzhafte Lähmung der Beine war die Folge. Darüber hinaus blieb seine Kindheit und Jugend frei von äußeren Bedrängnissen. Den Elementarunterricht erhielt er - wie es beim wohlhabenden Bürgertum üblich war - privat, ging von 1888 an in das Gymnasium in Nikolsburg, begann 1892 mit dem Studium in Wien, das er in Berlin fortsetzte und 1896 in Wien mit der Dissertation Der ewige Jude in der Dichtung bei Jakob Minor abschloss. Die Schul-und Studienzeit war - wie auch die folgenden Jahre - erfüllt von intensiv-systematischer Lektüre, zahlreichen Theaterbesuchen, Begegnungen, Freundschaften und Briefwechseln mit bedeutenden Intellektuellen und Künstlern der Epoche (A. Gide, R. M. Rilke, A. Rodin, A. Kippenberg, Harry Graf Kessler, K. v. d. Heydt, Fürstin Marie v. Thurn und Taxis, R. Borchardt, H. v. Hofmannsthal, E. v. Kahler, Fr. Gundolf, O. Gulbransson u. a.).
Nach dem Studium unternahm Rudolf Kassner Reisen nach Nordafrika, Indien, Burma, Ceylon, Tiflis, Bokhara, Samarkand, Ägypten und Russland (bis zum Kaukasus, Kurland, Taschkent und China) sowie nach Süd- und Westeuropa. Während seines ersten Paris-Aufenthaltes (1902) mietete er sich im kleinen Hotel De France ein, in dem er 1905 auch seine erste literarische Gestalt, Joachim Fortunatus aus Moral der Musik, einquartierte und wo auch 1902 Rilke abgestiegen war, dessen Roman Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) teilweise in dem Hotel spielt. 1909 kam er durch die Fürstin Marie von Thurn und Taxis mit Rilke in Kontakt, mit dem ihn bald eine lebenslange Freundschaft verband (Rilke widmete Rudolf Kassner 1922 die 8. Duineser Elegie, Kassner dedizierte Rilke 1924 Die Verwandlung). Äußerlich verlief Rudolf Kassners Leben - sieht man von den zahlreichen Reisen ab - ruhig. 1914 heiratete er in Wien Marianne Eissler, lebte fortan in München, Wien und bei der Fürstin von Thurn und Taxis in Lautschin; 1919 wurde er durch Geburt wie Rilke tschechoslowakischer Staatsbürger. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Rudolf Kassner zurückgezogen überstand, ließ er sich auf Vermittlung von C. J. Burckhardt krank und erschüttert von den Ereignissen des NS-Terrors in der Schweiz nieder, wo er von Werner Reinhart, der schon Rilke in den letzten Lebensjahren uneigennützig und großzügig unterstützt hatte, nach einem kurzen Aufenthalt in Ermatingen, als persönlicher Gast im Hotel Bellevue in Sierre eingemietet wurde. Hier schrieb Rudolf Kassner seine letzten großen Essays und korrespondierte mit Gelehrten, Künstlern und Philosophen. In den letzten Lebensjahren wurde Rudolf Kassner Ehrenmitglied des österreichischen PEN-Zentrums und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; er erhielt 1949 den Schweizer Gottfried-Keller-Preis, 1953 den Großen Österreichischen Staatspreis und 1955 den Friedrich-Schiller-Gedächtnispreis. Als Nachdichter und Übersetzer war er gefragt und anerkannt. Sein Nachlass wird in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt.
Der Essay - eine Literaturform zwischen Dichtung und Poesie - ist ein
bewusst literarisch-ästhetisch gestalteter Prosatext kürzeren bis mittleren Umfangs über einen beliebigen Gegenstand [...] wie er im deutschen Sprachraum seit der Mitte des 19. Jh.s in Zeitschriften oder Sammelwerken [...] publiziert und traditionellerweise vom Bildungsbürgertum rezipiert wurde. Die Anregung zu dieser Gattung kam aus der französischen und angelsächsischen Literatur […] Der thematische Schwerpunkt des Essay liegt im Bereich des kulturellen Lebens und verlagert sich seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend zur Kritik [...] Eine Theorie des Essays kann von der Auffassung als "Möglichkeitsaussage" ausgehen, die die Beziehung des Autors zu seinem Gegenstand als intuitiv und assoziativ erfasst und damit eine Abgrenzung […] von der methodisch festgelegten, falsifizierbaren wissenschaftlichen Aussage ermöglicht. Diese Charakterisierung verweist den Essay zugleich in den Bereich der künstlerischen Darstellung, in dem er als direkte Autorenaussage gegenüber fiktionalen Texten abzugrenzen ist. (Bleckwenn, H.: Essay. In: D. Krywalski (Hg.): Handlexikon zur Literaturwissenschaft. München 1976, S. 121 f.)
Rudolf Kassner nimmt in der Essayistik des 20. Jahrhunderts eine zentrale Stellung ein, zumal er ausschließlich als Essayist an die Öffentlichkeit getreten ist und sich in seinem Werk auf die geistige Welt der ersten Hälfte des Jahrhunderts konzentriert. Wie kaum eine andere literarische Form fordert der Essay den Diskurs von Autor und Leser, wobei sich nach Just (1973) drei Stufen unterscheiden lassen:
- Publizistik (Tages-, Wochen-, Monatspresse) rekurriert auf aktuelle Anlässe, setzt sich mit Politik, in der Dichtung vornehmlich mit dem Drama auseinander (Hauptvertreter: K. Kraus, A. Kerr, H. Bahr, M. Harden).
- Zeitkritik (Monats- und Vierteljahresschriften) greift aktuelle Ereignisse auf, doch bleibt sie distanziert, da zwischen dem Ereignis und dem Essay ein längerer Zeitraum liegt (Hauptvertreter: R. v. Schaukal, F. Mauthner, F. Blei, J. Hofmiller).
- Essayistik als Kulturanalyse in Buchform, wobei erzählerische Elemente neben epische Texte und Dialoge treten können (Hauptvertreter: R. Kassner, R. Borchardt, H. v. Hofmannsthal). Nicht zufällig findet diese letzte, anspruchsvolle Stufe ihre paradigmatische Ausprägung bei Autoren, die der Habsburgermonarchie entstammen und ihrer Kultur verpflichtet bleiben. Rudolf Kassner ist zweifellos der bedeutendste Repräsentant.
Rudolf Kassners Gesamtwerk stellt eine große Einheit dar; bereits das Frühwerk enthält alle Themen, sodass sich Beziehungen zwischen Werk und Lebensphasen nur unter starken Vorbehalten aufzeigen lassen. Sicher gab es zahlreiche Einflüsse, doch sind deren Wirkungen niemals unmittelbar nachweisbar. Allgemein lässt sich festhalten, dass im Frühwerk ästhetische, in der mittleren Phase philosophische und im Alter religiöse Fragen in den Vordergrund treten. Die Gliederung des Gesamtwerkes in drei Schaffensperioden geht auf Rudolf Kassner selbst zurück (I. 1895-1908; II. 1910-1938; III. 1938-1953):
Zu I.: Ausgehend von der englischen Lyrik und dem Mittelalterbild der präraffaelitischen Malerei erörtert Rudolf Kassner (1900) gleichzeitig Lebens- und Kunstvorstellungen der Jahrhundertwende und weist in der Gestaltung und Argumentation bereits auf die universale Physiognomik, die sein Hauptwerk prägen wird. Außerdem zeigt er die Widersprüchlichkeit von Kunst und Leben auf, ein Gestaltungsproblem, das sich auch bei Th. Mann, H. v. Hofmannsthal, St. George und R. M. Rilke findet, wobei Rudolf Kassners Essays häufig für Rilke und Hofmannsthal die Inhalte und Motive aufzeigten. Die Gedanken des ersten Werkes finden sich auch in den folgenden Schriften wieder, wobei jedoch an die Stelle der Analytik der dramatische Dialog, Anekdoten, Gleichnisse und Parabeln treten, die dem neuen, assoziativ-simultanen Stil eine charakteristische Ausprägung verleihen. In seinen frühen Schriften entfaltet sich Rudolf Kassners Essayistik, eine Gattung, die er selbst immer wieder kritisiert und abgelehnt hat.
Zu II.: Die Erfahrungen der großen Reisen finden ihren Ausdruck in den Werken der mittleren Periode, die durch sprachliche Verknappung ebenso gekennzeichnet sind wie durch „universalen Symbolismus“ und Kritik der Kausalität als Allegorie, durch universale Physiognomik und ein schwebendes Gleichgewicht von Kunst und Philosophie, Bild und Begriff, Ratio und Mystik, wobei die Positionen nicht dialektisch als Gegensätze erscheinen, sondern simultan und synoptisch im Wechsel und im Bild des anderen gegeben sind. Zentral in der mittleren Schaffensperiode sind die Schriften zur Physiognomik und Zahl und Gesicht, in denen Rudolf Kassner dem Unterschied von gelebter und messbarer Zeit nachsinnt und dem Indefiniten der Zahl das Absolute, das Unendliche gegenüberstellt. In diesem Denkansatz haben die Spannungen von Kunst und Leben ebenso wenig Raum wie die Diskussionen des vitalistischen Leib-Seele-Problems oder die Ideologie der Ganzheit, die wiederum ihren Ursprung in der romantischen Universalphilosophie hat. Für Rudolf Kassner wird die Einbildungskraft, vergleichbar dem Infinitesimalkalkül der Mathematik, zum Anfang aller Deutungen; so wird das Gesicht des Menschen nicht psychologisch nach Ursachen fragend, sondern aus der Bewegung phänomenologisch erfasst, wobei alle Gegensätze sich im Erscheinungsbild simultan präsentieren. Gegen die Psychoanalyse, die modisch die personalen und zeithistorischen Probleme zergliedert, stellt Rudolf Kassner in seiner Physiognomik die Psychosynthese, mit der er das mechanistisch rationale Weltbild durch eine rhythmisch-symbolische Mythologie überwindet. Gegen die analytischen Methoden der positivistischen Weltsicht, deutet Rudolf Kassner die Welt als Einheit, als Erfüllung und lebendigen Ausdruck. Auf Parallelen zur modernen Wissenschaft, auf die Ablösung der Substanz durch die Struktur, auf Gestalttheorien (Psychologie) und Ausdruckslehren (Biologie) hat H. Paeschke (1953) verwiesen und verdeutlicht, in welcher Weise Rudolf Kassner gegen die wissenschaftliche Beobachtung in Statistik, Atomphysik, Zellbiologie und Wahrscheinlichkeitstheorie seine Anschauung darstellt, eine „Phänomenologie der Bilder“, die nicht in Analogien sondern in Dramen denkt.
Zu III.: Das Spätwerk Rudolf Kassners löst sich von Zeitfragen, reflektiert autobiographisch die Zeitgeschichte, nicht als Diskurs, sondern in der individuellen Teilhabe; so werden das Ich in der Welt und die Welt im Ich gesehen und das Verwobensein von Mythos und Geschichte als simultaner Akt erfahren. Als erster erkennt Rudolf Kassner die Atombombe als Signum der Zeit und den „Eisernen Vorhang", den er bereits 1933 thematisierte, als Sinnbild der Moderne und verweist darauf, dass der Macher als Techniker das Gesicht verliert und sich auswechselbar, tragik- und schuldunfähig in der Maske vereinzelt. Gegen den Macher mit der Maske tritt die Inkarnation, der Gottmensch, als Ursprung, Ziel und „Mitte“ der Welt, des Lebens. Der Gottmensch bindet Zeit und Ewigkeit („wahrer Gott und wahrer Mensch“) im Drama, er vereinigt Sein und Werden nicht dialektisch, er vollendet die „Umkehr“, seine Erscheinung ist nicht Dichtung, sondern Opfer.
Eine systematische Darstellung der Gedanken Rudolf Kassners ist nicht möglich, da er sich jeder Wissenschaftlichkeit entzog. Immer verstand er sich als Deutender, dessen Einbildungskraft sowohl die Gestalt als auch das Weltbild schöpferisch hervorbringt und dem im Einzelnen das Ganze und im Ganzen das Einzelne gegeben ist. Gegen die Logik der Gedanken treten Bilder, aus Gedanken und Figuren erwachsen Gleichnisse und Gespräche, die symbolhaft sinnlich bleiben. In Rudolf Kassners Essays geht es niemals um Argumentationen oder antithetische Dialektik; Rudolf Kassner lebt und erlebt Widersprüche, die nicht in Lösungen aufgehen; sie wandeln sich aus dem Entweder-Oder und Weder-Noch in ein Zugleich, das der mystischen Unio verwandt als „Mitte“ bezeichnet und gesehen wird. Nicht naturwissenschaftlich-nomothetische Beobachtung, sondern erfahrende Anschauung liegt der Erkenntnis der „Mitte“, die ein Paradox ist, zu Grunde; diese „Mitte“ hat der moderne Mensch verloren (vgl. Hans Sedlmayr: Der Verlust der Mitte, 1948). Die Einbildungskraft, sie erinnert an die scholastische „forma formans“ (Paeschke 1953, S. 98), fasst die Gegensätze zur Einheit, zur „Mitte“, stellt neben das Wissen die Wahrheit des Gefühls und gegen die Identität die Individuation. Nur das Individuum, das sich handelnd im Anderen erfährt, ist schöpferisch, zur Wandlung fähig und bereit zur „Umkehr“, in der sich der Einzelne gewinnt (vgl. den Begriff „Kehre“ im Denken Martin Heideggers). Die „Umkehr“ ist die Wurzel, in mystischer Sprache der „Grund“ alles Seins, aller Welt, die ursachefrei ist. Ursachen bilden Kausalitäten und führen nicht in die gestalthafte „Mitte“ der Inkarnation, die im Gottmenschen gegen das antike Verständnis des Menschen als Maß der Dinge und das alttestamentliche Gottesbild („Ich bin, der Ich bin“) als Wort Fleisch geworden ist. Im Gottmenschen ruht die „Umkehr“ als höchste Idee und Wirklichkeit („Ich bin die Auferstehung und das Leben“, Joh. 11,25 f.). Erst durch die Teilhabe an der Schöpfung wird der Mensch Gestalt, bildet sich die Einheit von Sehen und Gesicht, die für Rudolf Kassner in dem Paradox „Der Mensch ist nur darum so, wie er aussieht, weil er nicht so aussieht, wie er ist“ Ausdruck findet. Gesichter sind keine Masken, die reproduzierbar sind und in Analogien und Identitäten erfasst werden - Gesichter sind unendliche Vielfalt; in ihnen spiegelt sich das Drama des schöpferischen Lebens. Die Gegenwelt ist die magisch-mystische Weltdeutung, die zeit- und sündlos vor Adams Fall bestand, in der es Wiedergeburt, doch nicht Inkarnation gibt und die nicht in der Ewigkeit sondern im Unendlichen endet (Paradox).
Aus der Wende gegen den Mythos entstand im 19. Jahrhundert die Ideologie, die ihre deutlichste Ausprägung im Fanatismus findet; in der Ideologie gibt es weder „Umkehr“ noch Nachfolge. Hier tritt der Einzelne gegen das Kollektiv (vgl. Rudolf Kassner: Der Einzelne und das Kollektiv, 1931; Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, 1931). In der Welt des Kollektivs gibt es keine Tradition, keine Gnade; hier regiert die Magie des Glücks als Loskugel des Zufalls unter Gleichen. Der Gottmensch spricht nicht von Glück; er wendet sich an erlösungsfähige und erlösungsbedürftige Menschen. Die Einbildungskraft verbindet Seele und Geist und überwindet geschichtsphilosophische Utopien, kausalistische Fortschrittsdialektik und Egalitätsmythen. Sie überwindet den modernen Menschen, der als Dialektiker ver„mittelt“, ohne „Mitte“ zu haben. Er kennt nur das Kollektiv und als Deutung die Psychologie, die ihn kollektivfähig macht und ihn der Gesichtslosigkeit anpasst, eine Gesichtslosigkeit, in der an die Stelle der Ordnung das System, an die Stelle der Freiheit die Statistik, die Wahrscheinlichkeit, der Aberglaube, die Chimäre tritt. In der Gesichtslosigkeit gibt es keine Anschauung; hier verliert die Zahl den magischen Bezug und der Mensch seinen Bezug zur „Umkehr“ und zur Deutung von Inkarnation und Kreuz als Rettung der Welt aus der Anzahl und dem Nichts. „Umkehr“ ist eine Metapher des Weges; nur der Mensch kann „Umkehr“ vollziehen; „Umkehr“ heißt Wandlung - etymologisch mit „wandeln“ verwandt. Freiheit ist „Umkehr“ und „Umkehr“ ist Freiheit, eine Tautologie und ein Paradox, über welchen das Leben errichtet ist. Nicht der Weg führt zum Ziel, sondern der Weg, die „Umkehr“, ist das Ziel. Hier treffen sich Rudolf Kassners Anschauungen mit jüdischen (Kafka: „Es gibt ein Ziel, aber es gibt keinen Weg“), existentiell christlichen (Kierkegaard: „Nicht der Weg ist das Schwierige, sondern das Schwierige ist der Weg“) Einsichten und der Offenbarung des Gottmenschen („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, Joh. 14,6).
Für Rudolf Kassner ist das 20. Jahrhundert eine physiognomische Epoche; sie vereinigt Mythos und Geschichte im Paradox, stellt den Einzelnen gegen das Kollektiv und zerstört die Einheit von Schöpfer und Welt. An die Stelle der Religion tritt die Kritik, deren Substanz sich in beliebigen Ideologien realisiert. Während die Einbildungskraft schöpferisch bindet und die Polaritäten (Leben - Kunst; Gut - Böse; Sein - Werden) simultan erfährt, trennt das Gewissen, indem es Ideologien verbunden ist. Ideologische Positionen stellen Geschichte gegen das Gegenwärtige, das sich in der Fleischwerdung des Gottmenschen vollzieht. „Die Idee der Gegenwärtigkeit fordert den Einzelnen gegen das Kausale, das Kollektive“ (Acquistapace 152). Zuletzt stellt Rudolf Kassner die Welt des Gottmenschen gegen die Wiederholung des Buddhismus, die im Tod das Nichts sieht und gegen den statistischen Menschen, der nicht an Gnade - nur an Glück als Zufall - glaubt. Rudolf Kassners Gesicht, das gegen Zahl und Kollektiv steht, „gründet in der Substanzialität des Wortes in einer Welt, die nicht vom Gestirn, sondern von der Person, nicht von der Teilhabe, sondern von der Fleischwerdung, nicht von der Wiederkehr, sondern von der Umkehr her gesehen und erfahren werden muss“ (Acqistapace 155).
Rudolf Kassner galt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als bedeutende Persönlichkeit des Kulturlebens - persönliche Begegnungen, Freundschaften, Tagebücher und Briefe geben davon Zeugnis. So schrieb Hugo von Hofmannsthal 1904 an Oscar Brie „[...] Ich glaube, dass er die Möglichkeit des bedeutendsten litterary man, des bedeutendsten Kulturschriftstellers, ist, den wir in Deutschland je hatten“ und R. M. Rilke bemerkt in einem Brief vom 2. Juni 1911 an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis „ist dieser Mensch [...] nicht vielleicht der Wichtigste von uns allen Schreibenden und Aussprechenden“ und einige Zeit später notiert er „die Polarität im Geistigen ist wohl nie auf so kleinem Raum aufgewiesen worden und nie ist einer so innerlich von einem Pole zum anderen vorgedrungen“ (Just 1973, S. 664). Der Literaturhistoriker K. G. Just charakterisiert 1973 „[...] das Gesamtwerk Rudolf Kassners als das universalste, als das wortwörtlich intelligenteste Gesamtwerk in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ (ebd. S. 664).
In der zweiten Hälfte das 20. Jahrhunderts schwand die Wirkung Rudolf Kassners, da sein Werk ohne steten Bezug zu politischen Situationen steht. Das neue, öffentliche Interesse richtet sich auf den Essayisten als politischen Tageskommentator und politischen Kritiker, auf den Produzenten aktueller Glossen und Parodien, auf den ideologischen Analytiker, nicht auf den reflektierend behutsamen Deuter, der den Zusammenbruch von 1945 nicht einseitig als Befreiung, sondern als Bedrohung (Atombombe, Eiserner Vorhang) verstand und sich vom politischen Tagesgeschäft fernhielt. Die Literaturgeschichtsschreibung, die sich an gegenwärtigen Moden orientiert, hat Rudolf Kassner vergessen. In den Lehrplänen der Schulen, die Kulturwissen über Generationen tradieren, fehlt Rudolf Kassner; im Harenberg Lexikon der Weltliteratur (1989) erscheint er weder als Autor noch im Beitrag zum Essay, Wilfried Barner (Hg.) erwähnt Rudolf Kassner in der Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (1994) ebenso wenig wie Dietz-Rüdiger Moser in Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945 (1990). Viktor Zmegac (Hg.) Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1984) weist einmal auf Rudolf Kassner, in Hartmut Steineckes (Hg.) Deutsche Dichter der Zeit (1994) wird Rudolf Kassner zweimal marginal genannt. Dieses Vergessen, die Wirkungs- und Rezeptionslosigkeit, ist symptomatisch und weist auf ein Literaturverständnis, in dem Essayistik Teil der aktuellen Publizistik und der raschen Zeitkritik ist. Für reflektierte Kulturanalyse, in der sich Dichtung und Philosophie, Geschichtsanalyse und Politik, Ästhetik und Ethik vereinen und die vom Leser mehr als nur Interesse an Information fordert, scheint gegenwärtig im geistigen Leben wenig Raum zu sein. (Dieter Krywalski, Geretsried)