Rilke ist kein genuin mährischer Dichter, doch blieb sein kurzer Aufenthalt in der Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen 1890/91 wichtig für sein Leben und Werk. Die Kindheits- und Jugendjahre R.s stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages.
Rilke, Sohn des Eisenbahnbeamten Josef Rilke (1838 - 1906), der nach anfänglichen Erfolgen als Berufssoldat - vorübergehend war er Festungskommandant von Brescia - aus gesundheitlichen Gründen und wegen privater Empfindlichkeiten beim Militär scheiterte -, und der aus gutbürgerlichem Hause stammenden, ehrgeizig ambitionierten und bigotten Sophie (Phia) Entz (1851 - 1931), wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. In einer Mietwohnung in der Prager Heinrichgasse verlebte Rilke eine Kindheit, die geprägt war durch den Wunsch der Mutter, den Knaben in Erinnerung an eine frühverstorbene Tochter bis zur Schulzeit als Mädchen zu kleiden. In der Familie wurde die Legende gepflegt, dass die Vorfahren des Vaters aus einem alten Adelsgeschlecht stammten, das Güter im sächsischen Langenau (vgl. Cornet) und Linden im 14. Jahrhundert besessen hatte, und dessen Wappen Onkel Jaroslav, der nach dem Tode des Vaters für Rilke die Ausbildung Rilkes übernahm, anlässlich der Nobilierung 1873 wählte. Die Voreltern der Mutter waren aus dem Elsass nach Prag gekommen und hier zu Wohlstand gelangt. Diese Verklärung der Vergangenheit der Eltern konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Familie sich den Lebensstandard, den sie nach außen zeigte, nicht leisten konnte und deshalb auch bei der Ausbildung des Knaben gespart werden musste.
Die selbstverständliche Bildung, die etwa Hugo von Hofmannsthal oder Franz Werfel und die zeitgenössischen Prager und Wiener Intellektuellen und Schriftsteller im Elternhaus erfahren hatten, blieb Rilke versagt. Bis ins Alter zeigte er große - sogar peinliche - Leselücken. Dafür erhielt er durch den Gesellschaftstick der Mutter und die elegant-militärische Schwerenöterei (so Max Brod) des Vaters eine vorbildliche Erziehung in aristokratischem Verhalten und Auftreten, Eigenschaften, die ihm die Zuwendung der Damenwelt und behütende Freundschaft großbürgerlich-aristokratischer Familien brachten. Dazu förderte die Mutter die Phantasie des Sohnes, lobte seine ersten literarischen Versuche und parlierte mit ihm in der Öffentlichkeit Französisch - die Tschechischkenntnisse des Sohnes lehnte sie als ständisch unpassend ab. Sensibel von Natur, kaum von Gleichaltrigen beachtet, konnte Rilke kein soziales Verhalten lernen und entwickeln; freies Spielen mit Gleichaltrigen erlebte er nur in der Sommerfrische. Als Kind blieb er eine Minderheit in der Minderheit (Holthusen). Im Rückblick hat Rilke die Kindheitsjahre zu Leidensjahren stilisiert, doch gibt es keine zeitgenössischen Zeugnisse, die diese subjektive Wertung objektiv bestätigen. Aus der produktiven Spannung zwischen subjektivem und objektivem Erleben entwickelte Rilke seine künstlerische Existenz.
1882 bis 1886 besuchte Rilke die von Piaristen geleitete Volksschule, die auch Fritz Mauthner, Egon E. Kisch und Franz Werfel zu verschiedenen Zeiten besucht hatten. In diesen Jahren entfremdeten sich die Eltern zunehmend; 1884 verließ die Mutter die familiäre Gemeinschaft, ohne dass die Ehe geschieden wurde. Während Rilke zum Vater eine gute, menschlich treue Beziehung bis zu dessen Tod unterhielt, blieb er zur Mutter auf Distanz, besuchte sie wohl gelegentlich an ihrem späteren Wohnsitz in Arco nördlich des Gardasees, doch blieb die Bindung formell, pflichtbewusst.
Von 1886 bis 1890 wechselte Rilke auf die kostenfreie Militärunterrealschule in St. Pölten, um hier seine Ausbildung, die in die Offizierslaufbahn führen sollte, zu beginnen. Bald zeigten sich die Mängel der elterlichen Erziehung - unfähig sich in die Gemeinschaft zu integrieren, wurde Rilke zum Einzelgänger, den die Mitschüler wohl als Dichter achteten, der aber eigentlich nicht zu ihnen gehörte. Später hat Rilke diese Jahre als Leidenszeit beschrieben, doch können die Leiden nicht so groß gewesen sein, da er nicht nur beachtliche Schulleistungen - besonders in den intellektuell-kognitiven Fächern - erbrachte, sondern auch von verständnisvollen Lehrern gefördert wurde. Der literarische Topos, unter der Schule zu leiden (vgl. hier etwa Hermann Hesse, Thomas Mann, Robert Musil), zeigte um die Jahrhundertwende modisch exaltierte und gesellschaftlich erwartete Ausprägungen. Rilke galt als angenehm guter Schüler, durfte als Zeichen seiner Leistungen zwei Litzen am Kragen tragen und genoss offensichtlich auch die humane Atmosphäre des österreichischen Bildungswesens, die in Zivil- und Militärschulen gepflegt wurde. Dass der Abschied aus dem Elternhaus dem Kind schwerfiel, spiegelt die Skizze Pierre Dumont (1894) wider, doch zeigte die Trennung bei Rilke keine bleibende Wirkung.
1890 bis 1891 besuchte Rilke die Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen (die sadistische Knabenquälereien, die in Internaten keine Seltenheit waren und sind, hat R. Musil in der Erzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törless am Beispiel von Mährisch-Weißkirchen beschrieben). Rilke trat hier seine Ausbildung verspätet an, war häufig krank, wurde nach Hause entlassen, kam wieder, nahm Reitstunden, scheiterte, suchte Trost in Gedichten, bat den Vater, ihn aus der Schule zu nehmen und konnte, nachdem es zwischen den Eltern erneut zu Spannungen gekommen war, weil der Vater das Scheitern des Sohnes dem Einfluss der Mutter zuschrieb, die Ausbildungsstätte ohne Abschluss verlassen. Während Rilke später diese Militärschulzeit als eine Bedrohung seines Lebens bezeichnete und nahezu psychoanalytisch aufzuarbeiten versuchte, schwärmte er noch lange vom ritterlichen Leben und vom Militär, in das er nach der Genesung zurückkehren wollte. Wie disparat diese Zeit auf den Heranwachsenden wirkte, zeigen vier literarische Zeugnisse aus unterschiedlichen Lebensepochen:
1899 begann Rilke mit der Niederschrift des Cornet, 1904 hat er den Text bearbeitet und 1906 als Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke veröffentlicht. Die Erzählung begründete seinen Weltruhm und verbindet frühe Liebeserfahrung, Verführung und Heldentod zu einer sprachlichen Ekstase. Später hat sich Rilke deshalb von diesem Text etwas distanziert. Bis heute ist der Cornet ein literarisches Dokument für die heldenhafte zeitgenössische Kriegsverherrlichung und macht auch deutlich, dass R.s Leiden in der Militärschule nicht so nachhaltig gewesen sein können.
Im Mittelpunkt einer Erzählung, die Rilke 1902 unter dem Titel Die Turnstunde in endgültiger Fassung veröffentlichte, steht eine tödlich verlaufene Turnstunde in der Militärerziehungsanstalt - ein schmächtig-ängstlicher Schüler will seinen Kameraden seinen Mut beweisen und stirbt nach einer beachtlichen Sportleistung zum lähmenden Entsetzen der Mitschüler.
1907 schrieb Rilke einen Brief an seine Tochter, in dem er begeistert von seinen Reitstunden in der Militärschule schwärmt und die alten Wunschträume von Heldentum und Kriegersieg auferstehen lässt, um am Ende sein eigenes Versagen einzugestehen - ein Ton des Leidens oder der Verzweiflung ist in dem Bericht und dem ironisierenden Schluss nicht zu erkennen.
1920 antwortete Rilke in einem langen Brief auf ein Schreiben des Generalmajors Cäsar von Sedlakowitz, der als junger Offizier Deutschlehrer Rilkes in der Militärschule gewesen war und im Alter die Verbindung zu seinem berühmten Schüler wieder aufzunehmen wünschte. Rilke verbarg hinter einigen verbindlichen Floskeln nicht die mittlerweile zum Trauma gewordene Ablehnung seiner Militärschulzeit.
Zwiespältig blieb Rilkes Beziehung zum Militär, zu seiner eigenen Jugend, zu Schule und Familie: In den frühen Dichtungen, wie etwa in der Antwort auf Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder, den vaterländischen Gedichten Drum haltet fest den Säbel..., der geplanten Geschichte des dreißigjährigen Krieges, in den Fünf Gesängen zum Kriegsausbruch 1914 und in der Klage über die Entlassung aus dem Militär 1916 wird die Ambivalenz deutlich.
Nach der Militärschulzeit besuchte Rilke kurz die Handelsakademie in Linz, um sich ab 1892 privat und im Deutschen Gymnasium der Prager Neustadt auf die Matura vorzubereiten, die er 1895 glänzend bestand. In diese Zeit fiel auch seine erste Liebesbeziehung zu Valerie von David-Rhonfeld, der Nichte des tschechischen Dichters Julius Zeyer; gleichzeitig publizierte er den ersten in sich geschlossenen Lyrikband Leben und Lieder (1894), in dem sich unreife, schwärmerische Texte und viel gereimtes Gerede findet. 1895 begann Rilke ein Studium der Kunst- und Literaturgeschichte und Philosophie in Prag und wechselte 1896 zum Sommersemester an die Universität in München zum Studium der Rechts- und Staatswissenschaft, das ihm sein Onkel Jaroslav, dessen Söhne gestorben waren, als erhofftem Erben der Anwaltskanzlei finanzierte, doch Rilke wandte sich der Kunst und Literatur zu, belegte Philosophie, zwei Semester Ästhetik und Darwinsche Theorie. Gleichzeitig erschienen seine Frühwerke Larenopfer (1895), Wegwarten (3 Hefte, 1896), Traumgekrönt (1896), Im Frühfrost. Ein Stück Dämmerung. Drei Vorgänge (1897), Advent (1897), Zwei Prager Geschichten (1897/99); die Aufführung der dramatischen Szene Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens (1896) blieb wirkungslos. Rilke zeigte sich in dieser Zeit als Vielschreiber unter dem Einfluss von Heinrich Heine, Detlev von Liliencron und Maurice Maeterlinck. Seine Texte wirken modisch ansprechend, doch verraten sie noch keine eigenständige künstlerische Qualität - doch eine Wendung, Wandlung, zeichnete sich ab.
In München traf R. mit J. Wassermann (1873-1934) zusammen, der ihn auf die Philosophie Kierkegaards und den Roman Niels Lyhne von Jens Peter Jacobsen verwies und ihm die Begegnung mit Lou Andreas-Salomé (1861-1937) vermittelte, die bald zu einer lebenslangen Freundschaft wurde. Lou Andreas-Salomé, verheiratet in einer nie vollzogenen Ehe mit dem Westorientalisten Friedrich Carl Andreas, war bereits eine anerkannte Autorin, deren Roman Im Kampf um Gott (1885) und Erzählung „Ruth" (1895) ebenso Beachtung gefunden hatten wie ihre Beziehung zu Nietzsche. Gemeinsam verbrachten Rilke und Lou Andreas-Salomé den Sommer 1897 in Wolfratshausen südlich von München - Rilke schrieb Gedichte, die z. T. erst später veröffentlicht wurden (Dir zur Feier, 1897/98; Christus. Elf Visionen, 1896/98; Lösch mir die Augen aus, 1897) und zeigte in der Erzählung Der Apostel (1896) Einflüsse der Philosophie Nietzsches; erstmals wird hier - wenn auch in verschwommenen Bildern - die ästhetische Religiosität Rilkes sichtbar, die im Dichter den wahren Priester und in der Kunst die vollendete Religion feierte: „Der Künstler ist die Ewigkeit, welche hinausragt in die Tage".
1898 begann Rilke ein Wanderleben, das die nächsten 20 Jahre ausfüllen sollte; als Gast aristokratischer und großbürgerlicher Familien, meist als Gast von Frauen, auf die er eine erotisierend-ästhetisierende Wirkung hatte, lebte er in Schlössern, Burgen, Palästen, Hotelzimmern. Das unstete Wanderleben führte ihn nach Arco, Venedig, Florenz und Viareggio (Florentiner Tagebuch, 1898, 1902; Zwei Prager Geschichten, 1897/99; Ewald Tragy, 1898, posth. 1929); 1899 reiste er mit Lou Andreas Salomé und ihrem Mann nach Russland, wo er seine künstlerische Heimat zu finden hoffte, schrieb in der Rolle eines russischen Mönches den ersten Teil des Stunden-Buches, das er bis 1903 (Buch der Pilgerschaft; Das Buch von der Armut und vom Tode) vollendete, führte das 1897 begonnene Schmargendorfer Tagebuch weiter, bereiste 1900 noch einmal in Begleitung von Lou Andreas Salomé Russland, wo er mit L. Tolstoi zusammentraf, der ihn stark beeindruckte und ihn auf die Natur und die Schöpfung als lebensbestimmende, lebensprägende Kräfte verwies. Aus Russland zurückgekehrt, fand er noch 1900 Verbindung zur Malerkolonie in Worpswede; die Bindung an Lou Andreas Salomé verlor ihre Unmittelbarkeit, neue Freundschaften entstanden (Heinrich von Vogeler; Paula Modersohn-Becker). In Worpswede vollendete er die Geschichten vom lieben Gott, ironisch reflektierende Erzählungen, und hier heiratete er 1901 die Bildhauerin und Rodinschülerin Clara Westhoff (1878 - 1954), gründete in Westerwede einen Hausstand, war jedoch nicht in der Lage, Frau und Tochter Ruth (geb. 12. 12. 1901) zu erhalten; die Eheleute trennten sich, blieben jedoch durch ihr ganzes weiteres Leben freundschaftlich verbunden. 1902 ging Rilke erstmals nach Paris, in eine Stadt, die sein Leben prägen sollte und in die er immer wieder zurückkehrte, er lernte P. Cézanne und A. Rodin, dessen Privatsekretär er 1905/06 werden sollte, kennen, veröffentlichte die Studien Worpswede und Auguste Rodin, reiste nach Rom, begegnete erstmals der schwedischen Pädagogin Ellen Key und begann 1904 mit der Niederschrift der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (vollendet 1910), seinem einzigen Roman, in dem die Pariser Erfahrungen und Erlebnisse einer Reise nach Dänemark und Schweden Niederschlag fanden. Nach der Rückkehr aus dem Norden entfernte er sich unter der Wirkung Rodins von seinem Subjektivismus und suchte in der objektiven Darstellung der „Dinge" neue „handwerkliche" Formen und Gestaltungen; gegen die religiös stimmungshafte Lyrik, die er unter dem Einfluss Tolstois und der russischen Erlebnisse geschrieben hatte, trat der genaue Ausdruck. Unter Rodins Einfluss entwickelte Rilke die Forderung nach objektiv-unpersönlichem Schauen, das auf die Realität gerichtet dem gemachten Kunstding seinen Sinn und Wert gibt. Aufgabe der Kunst ist es für Rilke nunmehr, die Wirklichkeit in Kunstdinge zu wandeln - die Rühmung dieser Wandlung wird in den späten Gedichten zu einem zentralen Thema.
Rilkes äußeres Leben blieb unstet: Nach einem vorübergehenden Zerwürfnis mit A. Rodin nahm er das Reiseleben wieder auf (Capri, Neapel, Provence und Avignon) und schrieb 1909 die beiden Requien (für Paula Modersohn-Becker und Wolf Graf Kalckreuth). 1909 trat die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe in Rilkes Leben. Die Bekanntschaft, die durch Rudolf Kassner vermittelt worden war, wurde für Rilke zu einer großen Freundschaft im unsteten Leben. Die Fürstin ermöglichte ihm erstmals 1910 bei seinem Aufenthalt in Schloss Duino bei Triest uneingeschränkt literarisch zu schaffen; sie begleitete und leitete Rilkes Lebensweg und wies ihn auch ohne empfindsame Schonung auf seine künstlerischen und personalen Verpflichtungen hin. Ohne die fördernde Teilnahme dieser Frau hätte Rilke sein spätes lyrisches Werk nicht geschrieben. 1910 reiste er nach Algier und Tunis, 1911 nach Ägypten, 1912/13 weilte er in Toledo; 1912 entstanden auf Schloss Duino die ersten beiden Elegien, die Anfänge der 3., 6., 9. und 10. Elegie und das Marien-Leben. Als der Krieg 1914 ausbrach, begrüßte Rilke dieses Ereignis mit dem Zyklus Fünf Gesänge, trat zu Lulu Albert-Lasard, einer jungen Künstlerin, die er in Irschenhausen kennengelernt hatte, in enge Bindung und verstummte nahezu vollständig unter dem Eindruck des Krieges. Zurückgezogen las Rilke in den Kriegsjahren Tolstoi, Hölderlin, Hamsun und Gundolfs Shakespeare, studierte die Philosophie Bachofens, übersetzte Labé und Michelangelo. 1914 zur Infanterieausbildung in Wien eingezogen, fand er Verwendung im Kriegsarchiv, wurde 1916 aus dem Heer entlassen und wohnte dann - abgesehen von kurzen Reisen (1916 Gast von Herta König auf Gut Böckel) - bis 1919 in München. 1919 begegnete er Wera Ouckama-Knoop, einer Künstlerin, die in frühen Jahren verstarb: ihrem Gedächtnis widmete er den zweiten Teil der Sonette an Orpheus.
1919 besuchte Rilke auf Einladung des Lesezirkels Hottingen die Schweiz, las in St. Gallen, Luzern, Basel, Bern, Winterthur und verweilte im Februar 1920 in Locarno. In der Schweiz entstand bald ein freundschaftlicher Kontakt zur Familie des bürgerlichen Mäzen Werner Reinhart, der dem Dichter ein sorgenfreies Leben - erst bis 1921 in Berg am Irchel, dann im Chateau Muzot, das Reinhart für Rilke erwarb - schenkte. Umhegt von Freunden und tatkräftig unterstützt von der Cousine Reinharts, Nanny Wunderly-Volkhart, wurde Muzot, ein verfallenes Schlösschen aus dem 13. Jahrhundert, bald Heimat und Lebensmitte des Dichters. Hier fand R. auch eine tiefe Beziehung zu Baladine Klossowska (= Merline), die auf das späte Schaffen Einfluss gewann; in Muzot vollendete Rilke 1922 die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, in denen er die Welt als positive Erfahrung preisend rühmt. In dieser Welt ist der Tod die abgewandte Seite des Lebens; in dieser Welt gibt es keine Trennung von Diesseits und Jenseits, sondern nur die Einheit des Weltinnenraumes, in dem die Engel sind und den Auftrag der Erde singend und in der Kunst erlösend in „reinem Bezug" bewahren. Die Duineser Elegien gestalten das Leben des modernen Menschen als Mythos der allgemeinen Lebensform. Dichtung wird zur Selbstdeutung und zur Wandlung des Lebens in zeitloses Sein. Zum Erlöser wird der mythische Sänger Orpheus, der die toten Dinge ins Sein hält und in der Wandlung zum Archetyp des Künstlers wird.
Gleichzeitig mit den späten Gedichten entstanden Rilkes Der Brief des jungen Arbeiters, die Übersetzung der Werke Valérys und französische Gedichte - Lyrik, die wie die Briefe von stilistischer Vollendung ist, die eine neue, reduziert einfache Formgestaltung realisiert und in neuen Themen - Natur, Frühling, Dank - an Texte des späten Goethe erinnert.
In den folgenden Jahren reiste Rilke vielfach durch die Schweiz; seine Gesundheit verschlechterte sich und Sanatoriumsaufenthalte - vornehmlich in Val-Mont - häuften sich. Ein Briefwechsel in Gedichten mit der Wiener Lyrikerin Erika Mitterer knüpfte noch einmal an frühe künstlerische Konzepte an, eine letzte Reise führte den Schwerkranken 1925 nach Paris. Im folgenden Jahr verbrachte er die meisten Monate im Sanatorium, gepflegt und umhegt von Nanny Wunderly-Volkhart, die er in den letzten Tagen als einzige bei sich duldete - Freunde, auch seine Frau Clara Westhoff weilten in der Nähe, ohne zu ihm gelangen zu können. Am 29. 12. 1926 starb Rilke qualvoll an einem Blutkrebsleiden - das Gebet des Stunden-Buches von 1903 O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod... hat sich in Schmerzen erfüllt. Am 2. 1. 1927 wurde Rilke auf dem kleinen Friedhof der Kirche von Raron bei Brig beigesetzt - nur wenige folgten ihm auf dem letzten Weg: Nanny Wunderly-Volkhart, Werner Reinhart, Anton und Katharina Kippenberg, Regina Ullmann, Lulu Albert-Lasard. Rudolf Kassner teilte den Tod der Fürstin mit, die einen Lorbeerkranz auf das Grab legen ließ; die Grabinschrift hatte Rilke selbst bestimmt: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust // Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern".
Kaum ein anderer deutscher Dichter hat sich, sein Leben seine Welterfahrung, seine Beziehung zur Welt und Gesellschaft so eindeutig als Künstler verstanden, gedeutet und stilisiert wie Rilke. Dieses Selbstverständnis hatte Wurzeln in den Erfahrungen der Kindheit und Jugend, in seiner komplexen Bindung an ein neurotisiertes Elternhaus, in Erlebnissen der Militärschulzeit, in schmerzvoll genossener Einsamkeit und in der hilfsbereiten Zuwendung mäzenatischer Frauen, mäzenatischer Familien - sie förderten, unterhielten, schützten einerseits den Dichter als Schöpfer und Priester einer ästhetischen Kunstreligion, sie erleichterten andererseits seine Distanz zu bürgerlicher Tätigkeit, seine Hilflosigkeit im Alltag, sein aristokratisch verbrämtes Schnorrertum. Seine Sensibilität, seinen übersteigerten Individualismus, seine Bindungslosigkeit und stilisierte Bindungssehnsucht, die Ausdruck in Tausenden Briefen fand, konnte Rilke nur entwickeln und bewahren, da er der Rolle entsprach, die die Gesellschaft vom Dichterkünstler erwartete. Die Briefe Rilkes erschließen die Fülle der Dichterexistenz und der Lebensdeutung im Dialog mit Zeitgenossen, einem schöngeistigen Dialog, der im Tiefsten monologisch auf die Einsamkeit und Vereinzelung des Dichterlebens unter dem Anspruch der Kunst verweist. Nur über die Briefe führt ein Weg zum einsamen Künstler.
Die Tendenzen des elitären Rückzugs waren schon in der Jugenddichtung deutlich, doch erst mit den Neuen Gedichten (1907/09) fand Rilke zu einer eigenen, unverwechselbar objektiven Sprache, die sich distanziert und dennoch emotional an den Intellekt wendet, Elemente klassischer Formschönheit und romantischer Sehnsucht verbindet und im Nennen, im Machen schöner, unbelebter Dinge das Werk und den Auftrag des Dichters erfüllt. Deutlich wird diese neue Kunstwirklichkeit in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in dem er in der Nachfolge Kierkegaards und Jacobsens den Existenzialismus als ästhetisierende Lebensform vorwegnimmt und auf der Folie des gefällig Schönen die Existenzialangst des modernen Großstadtmenschen gestaltet. Am Ende dieses Romans steht die Parabel vom verlorenen Sohn, der nicht in seinem Vaterhaus aufgenommen werden will/kann. Der Roman - als Tagebuch konzipiert - weist Formelemente der lyrischen Prosa auf, die für die zeitgenössische Literatur ebenso charakteristisch ist wie der Verzicht auf Handlungskontinuität im Bewusstseinsstrom, in dem sich Erinnerungen, Erfahrungen, Reflexionen und Beobachtungen - Fragmente fragmentarisch - zu einem inneren Monolog finden. Der moderne Roman, der an Stelle der rezeptiven Ästhetik die Produktivität des Lesers einfordert, findet hier in der deutschen Dichtung seinen unverwechselbaren Anfang.
Deutlich wird im Roman die Vereinsamung des Dichters in einer Welt, die durch Realitäten - Wirtschaftsdaten, Kolonialismus, despotische Herrschaft, Machtentfaltung, Realpolitik und Wissensfetischismus - geprägt ist, geschildert. Die intellektuelle Analyse wendet sich in die Existenz zurück, poetisiert das Leben - geistig sensibilisiert wie die Romantik - und erfasst im Dichter - personalisiert im Orpheusmythos - die Gegenwelt zur Trivialität der Mechanik, der Ökonomie, der Macht und Gewalt, der Masse, um das zeitgenössische Schlagwort Le Bons und Ortega y Gassets zu gebrauchen. Gegen die „Welt des Man" (Heidegger) und der banalen Aktualitäten tritt die Kultur der Innerlichkeit. Rilkes Dichtung will die Welt nicht verändern - sie wandelt das Sein, indem sie die Grenze des Sagbaren überschreitet; sie beschwört die vergänglichen Dinge, wandelt sie zu objektivem Dasein und transzendiert rühmend die Lebensgrenze von Angst und Glück in den Weltinnenraum, in dem Engel Sein und Dasein, Dauer bewahren. Die neue Lyrik Rilkes, die in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus strenge Gestaltung findet, stellt der traditionellen Dichtung, die in der Klassik formstreng Ausdruck fand und zur Trivialität der affirmativen Unterhaltungs- und Verbrauchsliteratur verkam, eine hermetische Struktur gegenüber. Diese späte Lyrik setzt an die Stelle des emotionalen Nachvollzugs das intellektuelle Schöpfertum des Lesers, fordert an Stelle der naturwissenschaftlich messenden Gewissheit die Subjektivität des Bewusstseins, spielt Kultur als Spiel und erkennt dem Dichter die Qualität zu, Weltsituationen, Weltinnenraum zu schaffen. In diesem Verständnis moderner Kunst zerbrechen die tradierten Ordnungen - in diesem Verständnis ist der Mensch (vgl. 1. Elegie) in der gedeuteten Welt nicht mehr zu Hause, er ist unbehaust, wie Picassos Les Saltimbanques, von denen die 5. Elegie kündet. In dieser Hermetik werden Bilder, Metaphern, Werte - Held; Liebende; Frühvollendete; junge Tote; Weltinnenraum; Überschreiten; Wandlung; reiner Bezug; Doppelbereich - zu Chiffren des Unsichtbaren. Aufgabe des Dichters ist es, die Dinge ins Unsichtbare, Dasein in Sein zu wandeln, in die Transzendenz zu heben, für die die Engel stehen. Die Kunstwelt R.s ist eine konkrete, objektive, absolute Welt, die nur ästhetisch deutbar ist - in dieser poetischen Welt ist das Kunstding die einzig gültige Gestalt. In dieser Welt findet der Heimatlose Heimat, in ihr wird die Kunst zur neuen, verbürgten, verbürgenden Religion.
Der Umbruch in der Literatur und Kunst, der sich in Europa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzog und dessen Geflecht von Stiltendenzen (Impressionismus, Expressionismus, Jugendstil, Neuromantik, Heimatkunst, L'art pour l'art, Neuklassik, Sprachexperiment und Sprachkrise) häufig unter dem Sammelbegriff Jahrhundertwende subsummiert wird, fand sichtbaren Ausdruck in dem „Dreigestirn" Hugo v. Hofmannsthal, Stefan George und Rainer Maria Rilke, die als die Dichter der literarischen Moderne beim Bildungsbürgertum anerkannt waren - während sich an Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Franz Werfel oder Frank Wedekind die Geister schieden. Wie kein anderer Zeitgenosse - vergleichbar nur noch mit dem Dichter Friedrich Hölderlin, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Norbert von Hellingrath wiederentdeckt wurde - galt Rilke als der Typus des Dichters, der sein gesamtes Leben als Dichterexistenz gestaltete und durch seinen objektiven und absoluten ästhetischen Anspruch die Vorstellung vom Dichter/Künstler prägte, der fern von den Anfechtungen und Ansprüchen des täglichen Lebens nur in der Kunstwelt lebte, einer Kunstwelt, in der weder die Politik noch Ökonomie oder Technik verwirrenden Eingang fanden. Rilkes Rückzug in die Kunstwirklichkeit hatte seine Wurzeln und Anfänge in der Vereinsamung der Kindheits- und Jugendjahre und fand seinen psychischen Ausdruck in sozialer Bindungslosigkeit und in einem übersteigerten Individualismus, einem Individualismus, der von der bürgerlichen Gesellschaft in dem Maße als Lebensidealität verklärt und damit zur materiellen Basis der Künstlerexistenz wurde, in dem an die Stelle individueller Wertordnungen in der Öffentlichkeit das Kollektiv (Masse, Nation, Klasse, Rasse, Volk, Partei, Verein) trat. Die gefährdet erschütterte Gesellschaft feierte in der reinen Kunst, in sensibler Einzigkeit und empfindsamer Sonderung den Künstler als Vorbild, sein Leben als vorbildliche Daseinsform. Aussagen über die dichterische Existenz hat Rilke in vielen Briefen kultiviert (vgl. etwa die Forderungen, die er in den Briefen an einen jungen Dichter, 1929 hg. v. F. X. Kappus, formulierte); sie fanden Aufnahme in einer säkularisierten Sozietät, in der der Künstler/Dichter als Priester des Schönen nahezu religiöse aber gesellschaftlich/politisch wirkungslose Verehrung erfuhr. Die Begeisterung für Rilkes Dichtung, besonders für die sentimental verschwommenen Jugendschriften (Larenopfer; Cornet; Vom lieben Gott und Anderes), war unabhängig vom Alter, von sozialer Gruppenzugehörigkeit, vom Bildungsstand oder der Weltanschauung der Rezipienten; Christen, Atheisten, Sozialisten und national Völkische, Individualisten und Kollektivisten wurden zu Verehrern von Rilkes Dichtungen, wobei ihnen sein reines Dichtertum als hohe, höchste Lebensform galt. Während die frühen Texte bald zum kulturellen Gemeinbesitz der Gebildeten wurden, galten die späten, hermetischen Arbeiten (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Sonette an Orpheus, Duineser Elegien) als verschlossen und nur „Eingeweihten" zugänglich. Dass Rilkes Dichtung eine so breite Rezeption und Bekanntheit erfuhr, ist nicht erklärbar ohne die Arbeit eines Verlags. Ab 1899 erschien die literarische Monatsschrift „Die Insel", ungewöhnlich aufwendig ausgestattet durch namhafte Maler und Zeichner der Zeit: Peter Behrens, Heinrich Vogeler, E. R. Weiß. 1902 wurde in Leipzig der Insel-Verlag als selbstständiges Unternehmen eingetragen, das Anton Kippenberg 1906 bis 1950 leitete. Die seit 1906 publizierten Insel-Almanache stellten regelmäßig die Arbeit des Verlages vor, die Insel Klassiker boten die Werke bedeutender Autoren möglichst preisgünstig an, in der Insel-Bücherei kamen berühmte Werke der Weltliteratur zu volkstümlichen Preisen, anfangs fünfzig Pfenning, heraus. Im Juni 1912 erschien als erstes Buch dieser Reihe Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke in einer Auflage von 30 000 Exemplaren - Zeichen dafür, dass der Insel-Verlag sich schon früh als Rilke-Verlag verstand. (Beimdick/Krywalski a.a.O. S. 358)
Nach 1945 erfuhr die Rilkerezeption einen neuen - zunächst letzten - Höhepunkt. Zahlreiche Werke (vor allem Briefe) wurden aus dem Nachlass ediert, zahlreiche Auswahlausgaben popularisierten und trivialisierten die Gedichte und Erzählungen, zahlreiche ansprechend anspruchsvolle Deutungen (Kunisch, Guardini, Allemann) wiesen den Lesern Zugänge zu den späten hermetischen Texten. In den Schulen wurden Gedichte Rilkes gelernt; in Rilke sah die Nachkriegsgesellschaft - auch Germanistik und Schule - den Dichter, der unberührt von den Zeitereignissen sein Leben vollendete.
Als die Fragen nach der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland eindringlicher wurden, als sich die Einsicht durchzusetzen begann, dass Kunst auch eine Ablenkung vom Elend und eine Affirmation bestehender Zustände sein kann, wandelte sich die Aufnahme Rilkes beim Publikum, zumal die neuen Gebildeten ihre Ideale nicht in einem ästhetischen Ideen- und Formenreich der Kunstwirklichkeit, sondern in Ökonomie und Technik, Umwelt und Friedenspolitik, Demokratie und gesellschaftlicher Verantwortung finden. Wieweit dieses Publikum Rilkes Dichtung als exemplarisch, vorbildlich und verbindlich aufnehmen kann/will, muss sich an einer neuen Deutung seines Oeuvres beweisen. Dabei muss auch die Militärerziehung und die Zeit in Mährisch-Weißkirchen einer differenzierten neuen Analyse unterzogen werden. Bisher sind nur wenige Ansätze zu dieser notwendigen Interpretationsarbeit zu beobachten. (Dieter Krywalski)