Richard Alfred Seyß-Inquart wurde in Iglau (Hauptplatz 3) als Sohn des Gymnasialdirektors Emil Seyß-Inquart[1] und seiner aus einer wohlhabenden protestantischen schwäbischen Familie stammenden Gattin Augustine Hyrenbach (geb. Inquart in Villach/Österreich, gest. 8.11.1924 in Wien) geboren. Obwohl die Ehe katholisch war, wurden die ihr entstammenden Kinder[2] religiös gemischt erzogen, bzw. die Söhne römisch-katholisch und die Töchter protestantisch, was wohl Einfluss auf ihre religiöse Instabilität hatte. Sowohl Richard als auch der jüngere Arthur[3], der spätere, von Hitler zum Reichsstatthalter der Niederlande und zum österreichischen Bundeskanzler ernannter Politiker, haben ihr ganzes Leben lang mit ihrer Einstellung zum Katholizismus gekämpft, um sich schließlich doch der katholischen Kirche zuzuwenden.
Unklarheit herrscht unter den Forschern bezüglich des angeblichen slawischen Ursprungs des Familiennamens Seyß. Dem Geburtenbuch ist zu entnehmen (Urkunde vom 20.1.1906), dass die Familie anlässlich des Umzugs nach Wien zu Ehren eines Onkels mütterlicherseits den Namen Inquart angenommen hatte, sodass alle Mitglieder seitdem den Doppelnamen Seyß-Inquart trugen.
Richard Seyß-Inquart besuchte die Volksschule in Stannern. Nachdem sein Vater zum Direktor des deutschen Staatsgymnasiums in Olmütz ernannt worden war, besuchte er dort das Gymnasium. Schon aus dieser Zeit stammt sein erstes gereimtes Rätsel, das im „Mährisch-Schlesischen Korrespondenten“ veröffentlicht wurde, und drei Skizzen, die später im „Mährischen Tagblatt“ erschienen. Bereits am Gymnasium zeigte sich seine Vorliebe für Klassiker und er beschäftigte sich intensiv mit den Dichtern des Vormärz, August Graf von Platen (1796-1835), Nikolaus Lenau (1802-1850) und Heinrich Heine (1797-1856). Nach Absolvierung des deutschen Staatsgymnasiums in Olmütz studierte er 1901–1903 an der Universität Wien Jura, hörte aber auch Vorlesungen beim Germanisten Richard Heinzel (1838-1905), dem Philosophen und Theologen Laurenz Müllner (1848-1911) und dem Musikästhetiker Richard Wallaschek (1860-1917), wobei letzterer sein Interesse für Musik weckte. Das zweite Studienjahr verbrachte Seyß-Inquart unter Obhut seines Onkels, des Ingenieurs Knapp in Prag.
In dieser Zeit wurde er Erzieher im Hause des Erzherzogs Leopold Salvator[4], weiter des oberösterreichischen Statthalters Artur Bylandt-Rheidt[5] und des nachmaligen Ministers des Innern, bei dem er Bekanntschaft mit einem Neffen des Grafen, dem Priester der Erzdiözese Prag Dr. Emanuel von Waldstein[6] machte, der ihm auf die Idee brachte, Priester zu werden.
Deshalb trat Seyß-Inquart 1905 ins theologische Seminar in Wien. Seine Studien vollendete er nach einer kurzen und schweren Erkrankung in Olmütz. Am 24. Juli 1910 empfing er in Wien die Priesterweihe und nach einer einjährigen Tätigkeit als Kaplan bei der Staatsbahn in Wolkersdorf bekam er durch Vermittlung des Monsignore Antonio Cecconi bis 1920 eine Stelle als Religionslehrer am k.k. Taubstummeninstitut in Lainz sowie am Waisenhaus in Wien 13, wo auch sein Vater im Ruhestande lebte. In den Jahren 1914-1918 war er als Feldkurat in Wiener Armeespitälern tätig.
Laut dem Eintrag in der Geburtsmatrikel trat Richard Seyß-Inquart am 25.8.1920 wegen seiner Eheschließung aus der katholischen Kirche und dem Klerikerstand aus und wandte sich der altkatholischen Kirche zu, erhielt jedoch 1933 den päpstlichen Dispens und kehrte laut dem Pfarramt St. Stephan in Wien am 28.6.1934 in die römisch-katholische Kirche zurück. Zur gleichen Zeit stellte er seine literarische Tätigkeit ein, die in katholischen Kreisen wegen ihrer Leidenschaftlichkeit auf Widerstand stieß.
Seit 1921 engagierte sich Seyß-Inquart sehr aktiv als Seelsorger. Zuerst arbeitete er als Adjunkt im Gefangenenhaus des Wiener Landesgerichts II und in Stein an der Donau im Justizdienst, 1922 als Kontrolleur in der Strafanstalt Göllersdorf und ab 1923 als Direktor des Jugendgerichtsgefangenenhauses in Wien 3. Nachdem er 1928 zum Leiter der neu eingerichteten Bundesanstalt für männliche Erziehungsbedürftige in Kaiserebersdorf - Wien 11 bestellt worden war, die er mitbegründet hatte, konzentrierte er seine Tätigkeit auf eine der von Viktor Frankl[7] eingeführten kostenlosen Jugendberatungsstellen, später auch auf die Caritas-Beratungsstelle für schwererziehbare und gefährdete Jugendliche. Zu seinen wichtigsten Aufgaben zählte die soziale Wiedereingliederung kriminell gewordener Jugendlicher und unmündiger männlicher Straftäter durch individuelle erzieherische und psychologische Maßnahmen und Berufsberatung.
1929 führte er den Vorsitz in der konstituierenden Generalversammlung des Vereins für Jugendschutz und gefährdete Jugend und war im Arbeitsausschuss der 1935 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Heilpädagogik tätig.
Im Rahmen seiner literarischen Tätigkeit veröffentlichte Richard Seyß-Inquart 1916 seine enthusiastischen Kriegsballaden unter dem Titel „Sturmglocken“ und 1918 die Gedichtsammlung „In Sturmestagen“. Das Gedicht „Maurizia“, als Sonderabdruck erschienen, ist ein 4strophiges nostalgisches Gedicht, das sich voll Dankbarkeit und Zuneigung an die Ordensschwester Maurizia wendet, die einst dem Autor in schwerer Krankheit pflegte. Viele seiner Gedichte arbeiten mit Naturbildern und sind meist als eine Art Gebet aufgebaut. Seine gelungensten Dichtungen sind jedoch Balladen, die unter dem Einfluß der Goetheschen Poetik stehen. Zu den bekanntesten gehört „Wilk Börje“, in der ein alter Fischer aus dem Norden ein tragisches Geständnis über seine verstorbene Frau Dore macht, die aufgrund seiner Untreue Selbstmord begangen hatte. Im Königreich Dänenland spielt die Handlung der Ballade „Ein Königstod“. Rolf Thorson Ingemar, der tyrannenhafte König von Dänenland heiratet Jung-Sigrid, der er aus Liebe in den Tod folgt. Ähnlich gesinnt und formal aufgebaut sind auch die nächsten Balladen „Totenwacht“, „Die letzte Trost“ oder „Confiteor“, die alle einen Hang zur Schwermut aufweisen. Die meisten Balladen Seyß-Inquarts erschienen in der Wiener „Reichspost“[8], im Jahrbuch „Die Kultur“[9] und in der Zeitschrift „Österreichische Frauenwelt“[10]. Darüber hinaus hielt Seyß-Inquart zahlreiche fachorientierte Vorträge in diversen Vereinen und Gesellschaften sowie im Rundfunk.
Sein Karriereaufstieg seit 1933, als er trotz seiner Krankheit zum Regierungsrat und 1940 zum Oberregierungsrat ernannt wurde, als auch seine Anwartschaft um die Mitgliedschaft in der NSDAP 1938, bezeugen, dass er – offenbar auch dank der Intervention seines Bruders - zu einem „offenherzigen Nazi“ geworden war, wie ihn Herbert Exenberger bezeichnet. Diesbezüglich überraschen die Angaben in Sturms Lexikon, laut denen Richard Seyß-Inquart unter ungeklärten Umständen plötzlich während eines Besuches im Wiener Büro seines Bruders am 11.6.1941 verstarb.
[1] Emil Seyß-Inquart (29.11.1841 Jaroslau/Galizien – 17.10.1920 Wien), Alt-Philologe, Lehrer für Latein und Griechisch, Gymnasiallehrer in Iglau und –direktor in Olmütz.
[2] Kinder: Richard (1883), Robert (1891-1892), Arthur (1892), Hedwig (1881), Irene (1885), Henrietta (1887)
[3] Arthur Seyß-Inquart (22.7.1892 Stannern – 16.10.1946 Nürnberg), Rechtsanwalt und Politiker, 1931 Engagement im Steirischen Heimatschutz (1933 in der österreichischen NSDAP aufgegangen), 1938 Innen- und Sicherheitsminister, österreichischer Bundeskanzler, mitverantwortlich für den „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess verurteilt und anschließend hingerichtet.
[4] Leopold Salvator von Österreich-Toskana (15.10.1863 Alt-Bunzlau/Böhmen – 4.9.1931 Wien), Erzherzog von Österreich, Feldzeugmeister und seit 1916 Generaloberst.
[5] Artur Bylandt-Rheidt (3.2.1854 Prag – 6.7.1915 Baden/NÖ), feudalkonservativer Politiker, 1897/98 Ackerbau-, 1898/99 Unterrichtsminister, 1902-04 Statthalter von Oberösterreich, 1905/06 Innenminister.
[6] Emanuel von Waldstein-Wartenberg (21.3.1840 Wien – 13.11.1894 Prag).
[7] Viktor Frankl (26.3.1905 Wien – 2.9.1997 Wien), Neurologe und Psychiater, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse.
[8] Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Österreich-Ungarns (Wien); 1893-1938.
[9] Die Kultur. Jahrbuch für Wissenschaft, Literatur und Kunst (Wien); 1899-1919.
[10] Österreichische Frauenwelt. Monatsschrift für die gebildete Frau (Brixen/Wien); 1911-1919.