So wenig Otto Rudl „ex origine“ Tiroler gewesen war, so sehr machte er sich im Laufe seines Lebens zu einem solchen. Die Wurzeln des „urwüchsigen Bozner(s) aus dem Sudetenland“ (In: Dolomiten. 8.8.1963, Nr. 182, S. 5) lagen eigentlich weit entfernt vom „Heiligen Land Tirol“, nämlich in Mähren, genauer in Brünn, wo er am 12.12.1870 geboren wurde. Dass diese Stadt nie sein Zuhause werden und er auch späterhin keinerlei Bezug zu seinem Geburtsort verspüren konnte, hat zumindest zwei auf der Hand liegende Erklärungen: Einerseits waren auch seine Eltern, der aus dem Görzischen stammende Anton Rudl und die Weimarerin Mathilde Fischer, nur „Zugereiste“. Andererseits war die Zeit, welche Otto in Brünn verbringen sollte, mit insgesamt vier Jahren zu knapp bemessen, als dass überhaupt eine persönliche Bindung zum Mährischen hätte entstehen können. Der Buchdruckgeselle Anton Rudl war mit seiner Ehefrau, der Schwester eines Mitgesellen, Ende der 1860er Jahre nach Brünn gezogen, um dort eine Beschäftigung zu finden und später eventuell eine eigene Buchdruckerei aufzubauen – die Pläne der jungen Familie scheiterten. Nachdem alle drei Brüder Ottos und auch sein Vater 1873 an Schwindsucht verstorben waren, beschloss Mathilde Rudl mit ihrem kleinen Sohn nach Wien zu ziehen. Hier heiratete sie ein Jahr später den Artilleristen Hans Tauber und übersiedelte mit diesem und ihrem Sohn nach Marling bei Meran.
Über Kindheit und frühe Jugend des späteren Arztes und Schriftstellers ist wenig bekannt, bis auf die Tatsache, dass er das Benediktiner-Gymnasium in der Kurstadt absolvieren durfte, aus welchem neben dem Dichter, Historiker und Politiker Beda Weber nicht wenige andere bedeutende Persönlichkeiten des damaligen Tirol hervorgingen. Neben dem humanistischen Gedankengut hatte Rudl schon in seinen Jugendjahren Burggräfler Dialekt und Brauchtum derart verinnerlicht, dass er Anfang der Neunziger Jahre damit beginnen konnte, eine „lustige Figur“, den „Hiesl“, zu entwickeln, welche gerade vor dem Hintergrund der großteils südtirolerischen Landschaft und in Meraner Mundart zu agieren vermochte.
Die kontinuierliche Arbeit an den Hiesl-Geschichten vollzog sich gewissermaßen Hand in Hand mit dem Beginn des Medizinstudiums in Innsbruck und Rudls Eintritt in die Burschenschaft der „Pappenheimer“: Die alldeutsch gesinnte Studentenverbindung gab eine eigene „Bierzeitung“ heraus, worin alle Mitglieder unter Strafandrohung (von 10 Kreuzern!) sich mit einem möglichst anregenden Beitrag beteiligen sollten; für den aus einfachen Verhältnissen stammenden Rudl war dies Anlass genug, regelmäßig neue Geschichten herauszugeben, welche allmählich auch öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Der Innsbrucker Schriftsteller Rudolf Greinz verhalf dem Studenten schließlich dazu, dass 1895 ein erster Band der Geschichten im Barmeister's Verlag in Leipzig herausgegeben werden konnte. Weitere Bände folgten, u. a. bei Wagner und in der Verlagsanstalt Tyrolia (Innsbruck), dann, zwischen 1938 und 1945 im NS-Gauverlag. Nicht nur vom „einfachen“ Lesepublikum dies- und jenseits der Tiroler Grenzen wurde der „Hiesl“ geschätzt, sondern auch von namhaften „Heimatschriftstellern“, wie etwa Peter Rosegger, welcher nach dem Erscheinen des ersten Hiesl- Bandes darauf hinwies, dass „dieses Buch […] wohl ein Dutzend Mundartdichter auf(wiege)“ (Dolomiten. 15.12.1950, Nr. 288, S. 3) und in seiner Durchführung durchaus an Vorbilder wie Fritz Reuter erinnere (Dolomiten. 21. 6. 1963, Nr. 141, S. 8). Der Maler Franz von Defregger verlieh dem Hiesl, aus Sympathie für das Werk Rudls, Gestalt, indem er eine Skizze der Figur entwarf - Franz von Defregger widmete er daraufhin auch die 1919 in der Tyrolia erschienene vierte und fünfte Auflage Der Hiesl auf Reisen. Nicht nur Rosegger war das Lesen der Geschichten vom eulenspiegelhaften Burggräfler Bauern, der moderne Lebensverhältnisse und Zeitgeschichte ad absurdum führt, „eine Lust“ (Dolomiten. 21.6.1963, Nr. 141, S. 8), sondern einem breiten Publikum über Tirols Grenzen hinaus. Der Erfolg war schließlich derartig enorm, dass den Arzt Dr. Rudl, der in Partschins, Sarnthein und seit 1909 in Bozen tätig war, „kaum jemand gekannt (hat)“ (Tiroler Tageszeitung. 14.12. 1950, Nr. 290, S. 4) – im Gegensatz zu der von ihm erschaffenen Figur, welche ihrem Schöpfer paradoxerweise zu seinem Übernamen werden sollte (Dolomiten. 15.12.1950, Nr. 288, S. 3).
Immer wieder, auch in der Zwischenkriegszeit, erschienen Hiesl-Geschichten, in welchen der naiv-gerissene Bauer zeigte, wie er mit Tiroler Humor, Charakterstärke und einem unerschütterlichen Glauben an die Tiroler Heimat nicht nur dem Krieg, sondern auch dem Faschismus standzuhalten vermochte. Die Resistenz Hiesls gegen zunehmend komplexere Wirklichkeiten speiste sich stets aus der „Kunst“ des Autors Rudl, diese Wirklichkeiten weitestmöglich zu vereinfachen und im „reinen Herzensblick“ seiner Figur mit seinen alldeutsch-tirolischen Werten zu versöhnen: So werden ein erster Kaffeehausbesuch oder eine erste Automobilfahrt des Bauernschelms ebenso zu launig-lustigen Reisen vom Dorfidyll in eine „andere, verrückte Welt“ gestaltet wie die Zeit an der Front und im Lazarett. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Scheitern der alldeutschen Hoffnungen des Autors nimmt seine literarische Aktivität, sprich die Arbeit am Hiesl, ab, wogegen sein heimatkundliches und fachwissenschaftliche Engagement wieder zunehmen, wie eine Anzahl von Artikeln aus den Zwanziger Jahren belegen.
Mit „weltanschaunlichen Gegnern“ (Dolomiten. 27.3.1951, Nr. 69, S. 6) wie den Faschisten verhandelte Rudl zunächst, sofern er eine Möglichkeit sah, „gefährdete Volksgüter“ zu verteidigen und bot als Heimatkundler und -sammler zu diesem Zwecke seine Hilfe an. Zunehmend an den politischen Zuständen im zu italianisierenden Südtirol verzweifelnd, näherte sich der in Bozen als „männiglich Radikaler“ stadtbekannte dem Nationalsozialismus an – und mit ihm seine Figur, welche nun für das Publikum ideologisch verzerrt wiedererstand:
Sein Hiesl tauchte nun am Kreisschießen auf, redete mit Kreisleitern und wälzte in Sarner Mundart hohe Politik. (Kein Wunder, dass er – Rudl - die Worte nicht mehr fand! In Rudl war der Deutschnationale wiedererwacht, der in dem über Nacht großgewordenen Phantom ein Ziel seines Lebens erreicht sah. (Tiroler Tageszeitung. 14.12.1950, Nr. 290, S. 4)
Es ist anzunehmen, dass Rudl selbst bemerkt haben musste, dass seine Figur so nicht mehr „funktionieren“ konnte, zumindest ließ er sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder vor das Publikum treten, indem er die vor den Zwanziger Jahren gewohnten Themen und Strategien (wie Kritik an Moden und modernen Lebensverhältnissen, Idylle des Landlebens vs. Absurdität der Stadt, Weltferne anstatt politischem Kommentar…) verfolgte. „Der tirolische Fritz Reuter“ (Dolomiten. 8.8.1963, Nr. 182, S. 5), welcher bis zu seinem Tode am 23. März 1951 mit seiner Familie in Bozen lebte, schrieb weiterhin über Tirol, Tiroler Typen und in Tiroler Mundart. Er heiratete auch eine Tirolerin (die Bozner Stadthebamme Maria Fink) und sammelte derart intensiv Tirolensien, dass seine Sammlung dem Bozner Stadtmuseum als eine 6000 (!) Titel umfassende Leihgabe posthum zur Verfügung gestellt werden konnte. Sogar sich selbst hatte Rudl zu einem Tiroler Original gestaltet und sich erfolgreich als ein solches inszeniert, wie ein wenige Monate vor seinem Tod in den Dolomiten erschienener Artikel belegt:
Allabendlich tritt in einem jener anheimelnden Altbozner Gasthäuser, in denen an den Stammtischen die Zeit stillzustehen scheint, mit einem fordernd ausgesprochenen kräftigen ,Heil' ein Mann durch die Tür, um sein traditionelles Viertele zu genießen. Man sieht ihm an, dass er eines jener Originale ist, die seit jeher im Südtiroler Bürgerstande gediehen. Er ist richtig umwittert von dem Hauch der alten Burschenherrlichkeit und wirkt wie ein knorriges Standbild versunkener alldeutscher Zeitläufte. Das laute ,Heil' schon deutet es an, und wenn er zu sprechen beginnt, so dämmert sie empor, die versunkene Epoche von der das Lied umgeht: ,Der eine saß, der andere stand, / Der stimmte für und jener wider. / Das ist der Nationalverband. / Stimmt an das Lied der Lieder!' (Dolomiten. 15.12.1950, Nr. 288, S. 3)
Rudl hatte also alles unternommen, als der Tiroler gesehen zu werden, als der er sich auch fühlte. Letztlich sollte er ein Dilemma teilen, welches viele „zugereiste“ Autoren betraf (s. z. B. Karl Emmerich Hirt aus Troppau, welcher sich in Innsbruck zu etablieren versuchte): In allen (!) Nachrufen wird darauf hingewiesen, dass der Schöpfer des Hiesl „merkwürdigerweise [...] gar kein Tiroler (war)“ (Dolomiten. 8.8.1963, Nr. 182, S. 5). Der „humorige Wahltiroler“ habe sich aber erst später zu einem solchen gemausert, „dafür umso gründlicher und volkstümlicher“ (Dolomiten. 21.6.1963, Nr. 141, S. 8).
Sabine Eschgfäller, Innsbruck/Olmütz