Johann Loserth zählt zu den bedeutendsten deutsch-protestantischen Historikern im Habsburgischen Kaiserreich. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sorgt sein Buch Wiclif und Hus noch heute für Diskussionen unter den Kirchenhistorikern. Seine Schrift Reformation und Gegenreformation in den innerösterreichischen Ländern gilt als Markstein in der Erforschung der Reformationszeit in Österreich.
1846 wird Loserth in Fulnek in einer Handwerkerfamilie geboren. Mit drei Jahren verliert Loserth die Mutter. Er soll möglichst schnell als Tischler sein Geld verdienen. Da nimmt sich eine Tante aus Troppau des begabten Jungen an und finanziert ihm den Besuch des Troppauer Gymnasiums. Ab 1866 studiert Loserth an der Universität Wien Germanistik und Geschichte. 1871 promoviert er mit einer Arbeit über die Kremsmünsteraner Geschichtsquellen. Danach ist er zunächst als Gymnasiallehrer tätig. Im Jahr 1875 erhält er einen Ruf als ordentlicher Professor der allgemeinen Geschichte an die Universität in Czernowitz. 1893 wird er Professor für mittelalterliche und neuere Geschichte an der Universität Graz. Hier wirkt er als Hochschullehrer bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1917. Für seine Verdienste wird ihm u. a. der Titel eines Hofrates verliehen.
Mit seinem Buch Wiclif und Hus, das Loserth in sechs Wochen niederschreibt, löst er vor allem bei der von Palacky geförderten tschechisch-nationalen Geschichtsschreibung heftige Reaktionen aus. Palacky, der übrigens wie Loserth aus dem Kuhländchen stammt, hatte Jan Hus in seinem großen Werk der tschechischen Geschichte als Symbolfigur einer nationalen tschechischen Geschichte dargestellt. Nun erklärte Loserth, dass Jan Hus seine wichtigsten Anschauungen von Wiclif entlehnt habe, wobei er ganze Passagen aus den Schriften des englischen Reformators abgeschrieben habe. Loserths Schrift war eine Kampfansage an die tschechische Geschichtsschreibung, für die Hus derjenige Reformator war, der als erster und 100 Jahre vor Luther eine grundlegende Reformation der Kirche unter Berufung auf die Bibel eingeleitet hatte. Nun aber stellte Loserth die These auf, dass die hussitische Reformation und Revolution sich zu Unrecht auf Hus als Initiator berufen. Vielmehr entlarvte er Hus als Abschreiber und Kompilator des englischen Theologen John Wiclif, wobei er Hus außerdem vorwarf, dass er verschwiegen habe, dass Wiclif sein Gewährsmann für seinen Kampf gegen die Papstkirche gewesen sei.
In den letzten hundert Jahren seit dem Erscheinen des Buches von Loserth hat es immer wieder Stellungnahmen zu Loserths These gegeben und nicht wenige Historiker, vor allem im Ausland, haben ähnlich wie Loserth versucht, den Anteil Hussens an der ersten großen Reformation der Kirche zu reduzieren. In der heutigen Forschung wird wieder stärker die Eigenständigkeit und Besonderheit des tschechischen Reformators betont. Was ist dabei von der Kritik Loserths an Hus geblieben?
Einerseits kommen einige Forscher zu der überraschenden Feststellung, dass Hus viel mehr Gedanken von Wiclif übernommen hat, als Loserth dies festgestellt hatte. Auf der anderen Seite stellt aber der Vorwurf des Plagiators an Hus einen Anachronismus dar: Das Abschreiben von anderen Autoren war zu Hussens Zeit nicht verpönt, auch Wiclif hat davon reichlich Gebrauch gemacht. Es trifft zu, dass Hus in seiner Hauptschrift De ecclesia Wiclifs Werke wie einen Steinbruch benutzt hatte. Es trifft aber nicht zu, dass es Wiclif war, der den Anstoß zu der großen hussitischen Bewegung gegeben habe. Die böhmische Reformation hat ihre eigenen Wurzeln und die sind vor allem in den tschechischen Vorläufern von Hus zu sehen. Hus und seine Mitstreiter haben Wiclif benutzt, weil er die von ihnen selber und eigenständig gefundene radikale Abrechnung mit der spätmittelalterlichen Kirche in seinen Schriften auf glänzende Weise auf den Punkt gebracht hat wie kein anderer zeitgenössischer Theologe. Das Einzigartige aber der hussitischen Bewegung ist die Radikalität mit der Hus und seine Bewegung eine Umsetzung ihrer Kirchenkritik in die Praxis vorgenommen haben. Die heutige Forschung betont, dass die Größe und Originalität Hus' in der Entschiedenheit bestand, mit der er die hierarchische Kirche seiner Zeit anprangerte und in der Unbeugsamkeit, mit der er für eine neue Gestalt der Kirche auf dem Fundament der Bibel eintrat, eine Unbeugsamkeit, für die er auch den Märtyrertod auf sich nahm. (Friedrich Goedeking, Baška)