Johannes (Hans; John in den USA) Oesterreicher wurde als Sohn des jüdischen Bezirkstierarztes Nathan Oesterreicher und seiner Gattin Ida, geb. Zelenka, in Stadt-Liebau in Mähren geboren. Später übersiedelte die Familie nach Olmütz, wo Oesterreicher ab 1914 das k. k. deutsche Staats-Gymnasium besuchte. In Olmütz betätigte er sich im zionistischen Jugendbund „Blau-Weiß“. Er las das Neue Testament, parallel auf Hebräisch und Deutsch. Zur Lektüre des Gymnasiasten gehörten auch die bahnbrechenden Beiträge des katholischen Philosophen Ferdinand Ebner zur Philosophie des Dialogs in der Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner und im Brenner-Verlag. Auf Ebners Philosophie baute Oesterreichers Abschlussaufsatz im letzten Jahr des Gymnasiums auf: „Der Begriff der geistigen Krankheit und der Krankheit überhaupt“.
Nach Ablegung der Reifeprüfung begann Oesterreicher in Wien mit dem Studium der Medizin. Ein Cousin wollte ihn zum Christentum bekehren, was Oesterreicher damals noch mit der Begründung, er sei Jude, ablehnte. Trotzdem nahm er einige Bücher des dänischen Religionsphilosophen Søren Kierkegaard, mehrere Folgen des Brenners (dem er sein Leben lang verbunden blieb) und sonstige Unterlagen entgegen. Oesterreicher las Theodor Haecker und Kardinal Newman, dessen Schriften Haecker ins Deutsche übersetzt hatte. Im Alter von 20 Jahren, trat Oesterreicher zum Katholizismus über und begann in Graz mit dem Studium der Theologie, das er in Wien beendete. 1927 wurde er im Wiener Stephansdom zum Priester geweiht. Er gehörte wie der spätere Caritas-Direktor Leopold Ungar zu den sogenannten „Judenchristen“. Oesterreicher arbeitete als Kooperator in Gloggnitz in Niederösterreich (1928-1931) und Wien (1931-1934) und als Religionslehrer am Währinger Mädchen-Realgymnasium in Wien XIX. Seine publizistische Tätigkeit begann in der Zeitschrift Missionsruf, dem Organ der „Christkönigsgesellschaft vom Weißen Kreuz“, gegründet von Oesterreichers Taufpaten Max Joseph Metzger, einem katholischen Theologen und Pazifisten, der 1944 von den Nationalsozialisten als Hochverräter hingerichtet werden sollte.
Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 widmete sich Oesterreicher zunehmend seiner publizistischen Tätigkeit, um auf diese Weise Hitlers häretische und lebensfeindliche Lehren besser bekämpfen zu können. Aus demselben Grund gründete er das Paulus-Werk, das sich als Stätte der Begegnung zwischen Juden und Christen verstand. Von 1934-1938 redigierte er das Organ des Pauluswerks, Die Erfüllung. Auch diese Zeitschrift sollte einer Neubegegnung zwischen Juden und Christen dienen und richtete sich gegen den Judenhass, die Juden- und Christenverfolgung und die Inhumanität der Nationalsozialisten. Ein Zeugnis davon gibt der offene Brief des Brenner-Herausgebers Ludwig von Ficker an Oesterreicher, der 1937 unter dem Titel Das neue Gebot in der Erfüllung erschien und in dem Ficker die Juden als Brüder bezeichnete.
Oesterreicher galt bereits 1936 für die Nationalsozialisten als Schlüsselfigur einer großen Verschwörung gegen den Nazismus. Im März 1938 wurde er von der Gestapo verhört. Mit Hilfe von Freunden gelang ihm im April 1938 die Flucht über die Schweiz und Rom nach Paris. Dort predigte er wöchentlich über den „Österreichischen Sender“ der Radiodiffusion Nationale vor einer europaweiten Zuhörerschaft gegen die antijüdische und antichristliche nationalsozialistische Ideologie und Politik. Transkriptionen dieser Predigten wurden 1986 vom Institut für Zeitgeschichte in Wien unter dem Titel Wider die Tyrannei des Rassenwahns publiziert. In Paris sammelte Oesterreicher auch das Material für sein erstes Buch Racisme, Antisémitisme, Antichristianisme, das 1939 ebendort erschien. Nach der Okkupation von Paris durch die Nationalsozialisten wurde ein Großteil der Auflage von der Gestapo konfisziert. Auf Betreiben von Oesterreichers Freund Jacques Maritain wurde das Buch 1943 unter demselben Titel in New York neu aufgelegt. Die deutsche Ausgabe Rassenhaß ist Christushaß erschien erst 1993 als Rückübersetzung aus dem Französischen (das deutsche Originalmanuskript war auf der Flucht verloren gegangen). Übersetzer war Eberhard Steinacker, damals das letzte noch lebende Mitglied des Innsbrucker Brenner-Kreises. Das Vorwort verfasste Kardinal Franz König. Während der Okkupation von Paris wurde Oesterreicher wiederum von der Gestapo gesucht, und es gelang ihm erneut die Flucht, diesmal über Spanien und Portugal in die USA, wo er am 12. November 1940 ankam.
Oesterreicher begann für die Erzdiözese New York zu arbeiten. Auch dort setzte er sich zunehmend für einen kreativen Austausch zwischen Juden und Christen ein. In zahlreichen Städten der USA hielt er Vorträge (Heirs of Two Testaments, The Passion of Christ, The Jews, Our Neighbors and Fellow Wayfarers to the Reign of Heaven, The Life, Thought and Faith of some modern Jewish Thinkers u. a.), die auf reges Interesse stießen. 1952 veröffentlichte er sein Buch Walls Are Crumbling. Seven Jewish Philosophers Discover Christ, in dem er sich mit Henri Bergson, Edmund Husserl, Adolf Reinach, Max Scheler, Paul Landsberg, Max Picard und Edith Stein beschäftigt. Das Buch fand nicht nur in den USA großen Anklang. Es wurde in fünf Sprachen übersetzt.
Inzwischen hatten sich Oesterreichers Pläne, eine Forschungseinrichtung für jüdisch-christliche Studien zu gründen, immer mehr konkretisiert. 1953 wurde das „Institute of Judaeo-Christian Studies“ an der katholischen Seton Hall University in South Orange, New Jersey, ins Leben gerufen, dem Oesterreicher bis zu seinem Tod 1993 als Direktor vorstand. Das Jahrbuch des Instituts, The Bridge (1955-1970), das unter der Ägide Oesterreichers herausgegeben wurde, sollte die gegenseitige Wertschätzung zwischen Juden und Christen fördern. In diesem Sinne erfolgte auch das Wirken dieser Einrichtung, an der die jüdischen Wurzeln des Christentums erforscht wurden. Oesterreicher geriet zunehmend in das weltweite Spannungsfeld zwischen Judentum und Christentum – nicht zuletzt durch seine Arbeit als Berater des Sekretariats für Christliche Einheit in Rom während des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965). In dieser Funktion war er maßgeblich an der Verfassung der Grundsatzstudie beteiligt, die als Basis für die sogenannte Judenerklärung des Konzils diente. Sie wurde als Teil der Erklärung zu den nicht-christlichen Religionen, Nostra Aetate, veröffentlicht. Oesterreichers Einsatz und seiner Vermittlung zwischen den verschiedenen Positionen ist es zu verdanken, dass das Dokument verabschiedet werden konnte. Das erste Mal in ihrer Geschichte überdachte die katholische Kirche ihre Beziehung zum Judentum neu.
Auch später setzte sich Oesterreicher für eine Vertiefung der Kenntnisse der rabbinischen Tradition und der jüdischen Religion bis in die Gegenwart ein, um den gegenseitigen Respekt zwischen Christen und Juden und ihren Sinn für Solidarität zu vertiefen. 1975 rief er das Graduate Department of Judaeo-Christian Studies an der Seton Hall Universität ins Leben, dem er bis 1979 vorstand. Auch setzte er seine Vortragstätigkeit an zahlreichen Universitäten in den USA fort und veröffentlichte eine große Anzahl von Artikeln und Büchern im In- und Ausland. In all seinen Tätigkeiten bewies er immer wieder Kampfgeist, so auch, indem er sich für den Fortbestand des Staates Israel einsetzte. Seine jüdische Herkunft hat er nie vergessen.
Oesterreicher war Träger zahlreicher Ehrungen und Auszeichnungen und Ehrendoktor an mehreren Universitäten. Er fühlte sich als Katholik, der seine Wurzeln im Judentum hatte. Gerade deshalb bemühte er sich unter Christen um Verständnis für das Judentum. Er wurde darin oft missverstanden. Trotzdem gab er bis zum Ende seines Lebens nicht auf und ertrug alle Spannungen, die sich aus seinem Engagement ergaben. Er ging als bedeutender Pionier des Dialogs zwischen Christen und Juden in die Kirchengeschichte ein.
Judith Bakacsy, Innsbruck