Husserl wurde in eine bedeutende jüdische Familie hineingeboren, die in Proßnitz bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine Textilfabrik betrieb. Nach dem Abschluss der Stadtschule im Jahr 1868 verließ der kleine Edmund aber Proßnitz und setzte seine Schullaufbahn zuerst in Wien am Realgymnasium, später in Olmütz am deutschen Gymnasium fort. In Olmütz legte er auch im Jahr 1875 das Abitur ab. Weil er sich zuerst für die Naturwissenschaften interessierte, studierte er in den Jahren 1876-81 an den Universitäten in Leipzig und Berlin Mathematik (u.a. bei Professor Weierstraß), Physik und Astronomie. Seine Doktordissertation legte er im Jahr 1883 unter dem Titel Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung vor. Prof. Weierstraß hatte enormes Interesse daran, dass Husserl seinen akademischen Weg als sein Assistent begann. Schon während seines Studiums in Leipzig hörte aber Husserl auch philosophische Vorlesungen und besuchte eine philosophische Gesellschaft. Hier lernte er Thomas Masaryk kennen, der auf Husserls weitere geistige Entwicklung einen wichtigen Einfluss hatte. In zahlreichen Diskussionen orientierte sich Husserl in drei bedeutenden Richtungen an Masaryk: im Weg zum Protestantismus, in der Formierung seiner politischen Anschauung und vor allem im Weg zur Philosophie. Masaryk selbst bewegte sich damals an der Grenze zwischen Philosophie und Naturwissenschaft und er machte Husserl ausführlicher mit der neuzeitlichen empiristischen und rationalistischen Philosophie bekannt. Er empfahl ihm auch Wien und Professor Brentano, der unter den jungen und nonkonformen Denkern damals sehr populär war und der eben in Wien tätig war. Husserl reiste wirklich nach Wien ab und hörte dort die Vorlesungen Brentanos in den Jahren 1884-86. Von Brentano war er begeistert und blieb endgültig der Philosophie treu. Masaryk sah er sich im Laufe der Zeit immer seltener. Die beiden blieben trotzdem lebenslang in schriftlichem Kontakt und noch in der Mitte der 30er Jahre, als Husserl die Emigration erwog, suchte er bei Masaryk Hilfe.
Die akademische Karriere Husserls, von der Lehrtätigkeit in Halle (als Dozent in den Jahren 1887 - 1901), in Göttingen (als Professor in den Jahren 1901 - 1916) und in Freiburg i. Br. (bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1928) markiert, beginnt mit der Fragestellung, die mit den philosophischen Problemen der mathematischen Wissenschaften zusammenhängt. In seiner Habilitation Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analyse (1887), sowie in seiner ersten großen Monographie Philosophie der Arithmetik (1891) stellt er die Frage, auf welche Weise sich in den subjektiven psychischen Akten die objektiven idealen Entitäten, wie z.B. Zahl, Gesamtzahl, logischer Begriff usw. konstituieren und halten. Erst die scharfe Kritik vom damaligen prominenten Logiker Gottlob Frege half ihm, sich von dem Einfluss des Psychologismus zu befreien und zu der Auffassung überzugehen, die man als Fundament einer neuen philosophischen Richtung – der Phänomenologie – ansehen kann. In dem wichtigsten Werk aus seiner ersten Periode, nämlich in den Logischen Untersuchungen I-II (1900-1901), löst er dasselbe Problem wie früher, ins Spiel treten hier aber schon die phänomenologischen Schlüsselbegriffe, wie z.B. innere und äußere Wahrnehmung, Intentionalität, Materie und Gehalt des Aktes, Sinn, kategoriale Anschauung usw. Das Werk weckte eine große Resonanz und kurz danach, als Husserl nach Göttingen kam, entstand in den Diskussionen über Logische Untersuchungen die erste kompakte Schule von mit den Münchner Kollegen verbundenen Phänomenologen (die sog. Münchner-Göttingener Schule), zu denen u.a. Max Scheler, Edith Stein, Alexander Pfänder, Alexandre Koyré, Wilhelm Schapp oder Roman Ingarden gehörten.
Husserl blieb aber nicht bei den Analysen von reinen logischen Gebilden, sondern er erweitert die phänomenologische Methode auf die Beschreibung der Weise, in der uns alle Gegenstände in genere gegeben sind. Das setzte voraus, nicht nur logische oder mathematische Urteile, sondern auch die menschliche Erfahrung im Ganzen zu untersuchen. Das war eine durchaus neue, und deshalb auch sehr schwierige Aufgabe. Die traditionelle rationalistische Philosophie übersieht nämlich gewöhnlich das natürliche menschliche Erleben, ja sie lehnt es sogar ab, weil sie es für unzureichend für das Begreifen der idealen, allgemein gültigen und rational begründeten Wissenschaftsgesetze hält. Klassischer Empirismus respektierte zwar die Erfahrung, führt sie aber auf eine Sammlung von indifferenten Anreizen zurück, für deren Organisierung gänzlich unsere subjektiven Aktivitäten verantwortlich sind. Die Erfahrung selbst ist in keinem Fall in der Lage, objektive Information über den Zustand der Sachen außer sich selbst zu bieten. Die Lösung dieser Dilemmata, die Immanuel Kant anbot, dass nämlich unlebendiges und chaotisches Sinnesmaterial die eingeborenen Formen der Anschauung und die synthetischen Aktivitäten des Verstandes formieren, ist auch problematisch. Die Folge dieser Position stellt nämlich die Thesis dar, dass „das Ding an sich“, also die Realität außerhalb unserer Erfahrung, in facto unerkennbar ist und dass wir uns damit zufriedengeben müssen, dass alle sog. „Erfahrungsgegenstände“ und „die Objekte der Einzelwissenschaften“ nur die Konstruktionen aus den synthetischen Aktivitäten unseres Verstandes sind, die mit dem „Ding an sich“ auf keine Weise korrespondieren. Husserl will dagegen zeigen, dass schon die natürliche Erfahrung in der Lage ist, zu den „Sachen selber“ durchzudringen, unter der Bedingung allerdings, dass sie sich von Voraussetzungen befreien, die ihre ursprünglichen Dispositionen verzerren. Sobald es gelingt, die Erfahrung so zu reinigen und sie in ihrer durch nichts verzerrten Arbeit anzusehen (mittels der sog. „phänomenologischen Reduktion“), zeigt sich nach Husserl, dass sie zwar ihren Gegenstand immer nur von einem bestimmten Aspekt aus erfasst, als „Phänomen“, gleichzeitig aber auch, dass sie sich vom inneren Zusammenhang verschiedener Aspekte dieses Gegenstandes zur Konstitution „eines eidetischen Invariants“ führen lassen kann. Das Anschauen dieses Invariants muss notwendig dem Umfang dessen entsprechen, in dem das eine oder andere Ding in die Erfahrung eintritt. Die Erfahrung nimmt zwar aktiv an der Konstitution seiner Korrelationspole teil, das Resultat ist aber ein verstehender Einblick in das Wesen der Dinge und keinesfalls die Konstruktion „der subjektiven Gegenstände der Erfahrung“, wie es bei Kant der Fall ist. Eine reale Gestalt gewinnen diese Korrelate nicht dank einer apriorischen Disposition souveräner Subjektivität, sondern dank der strukturalen Gesetze des Erscheinungsprozesses selbst, durch den unsere Erfahrung in ihrer Ausrichtung, in ihrem Stil und Verlauf bestimmt ist. Phänomenologie dringt so allmählich zu den Themen durch, in denen das Wesen der Philosophie in genere besteht: zum Problem des Menschen, des Bewusstseins, des Denkens und der Welt, der Evidenz usw. Sie hört auf, eine spezielle logische Disziplin zu sein, und sie fängt an, ontologische und anthropologische Ambitionen zu haben. Einen systematischen Entwurf dieser Gedanken bot Husserl in seiner Schlüsselarbeit der mittleren Periode an, in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischer Philosophie (1913), welche in dem von ihm selbst redigierten Jahrbuch publiziert wurden. Weitere Teile dieser Arbeit sind bis nach seinem Tod erschienen.
Die erwähnten Themen entwickelte Husserl in einer unglaublichen Menge von Handschriften. Er selbst war aber leider ganz außerstande, alle allein für die Publikation vorzubereiten. Um den Strom seiner Gedanken notieren zu können, eignete er sich bald die Stenographie an. Sein Stil war schwerfällig, die Gedanken verzweigten sich in unüberschaubare Abbiegungen und oftmals kam es dazu, dass auch er selbst seine älteren Texte nicht verstand. Die Aufarbeitung solchen Materials erforderte also, dass Husserl permanent einen oder zwei Assistenten zur Verfügung hatte. Für sie persönlich war die Arbeit mit den Handschriften Husserls sehr anspruchsvoll und vor allem undankbar, weil es sehr oft dazu kam, dass, ehe sie ihre Arbeit an einem Text zu Ende brachten, Husserl weitere Ergänzungen und Korrekturen erstellte, die den Sinn der vorigen Deutungen völlig änderten. Kein Wunder, dass Husserl während seines Lebens nur selten publizierte und dass auch das, was er letztendlich zum Druck vorbereitete, meistens unvollständig blieb und zur Zeit des Erscheinens längst überständig war. Mangel an der Publikationstätigkeit (und das lange Schweigen nach den Logischen Untersuchungen) waren sogar die Ursache der Verzögerung seines akademischen Fortgangs. Abgesehen von einem kurzen Aufsatz für die Zeitschrift Logos (Philosophie als strenge Wissenschaft aus dem Jahr 1911), legte Husserl der philosophischen Öffentlichkeit sein nächstes größeres Werk – die erwähnten Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischer Philosophie – erst im Jahr 1913 vor.
Nach dem Erscheinen der Ideen kam aber die Desillusion: Die Teilnehmer der sog. Münchner-Göttingener Schule waren von der Husserlschen Gedankenentwicklung enttäuscht. Sie meinten, dass Husserl den Boden der strengen logischen Analysen verließ zu Ungunsten der problematischen Spekulationen über den Charakter der Welt und des Menschen. Überrascht waren sie auch von einem neuen Gedanken, der auch in den Ideen formuliert und dann in weiteren Schriften ausgearbeitet wurde (in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1928 und in der Formalen und transzendentalen Logik, 1929). Es handelt sich um die Vorstellung, dass die phänomenologischen Analysen eine spezifische „transzendentale“ Position voraussetzen, weil jemand, der den Verlauf seiner eigenen Erfahrung reflektiert, diese Erfahrung nicht mehr erlebt und ihr gegenüber in Distanz steht, als „ein neutraler Beobachter“. Husserls weitere Thesen davon, dass dieses transzendentale Subjekt eigentlich eine Quelle der apodiktischen Evidenz über die Existenz seiner reflexiv angeschauten Erlebnissakten darstellt und so auch als Garant der Weltexistenz gilt, so dass er für ein epistemologisches oder ontologisches Absolutum gehalten werden kann, führten zu der fast vollkommenen Zwietracht mit seinen Münchner und Göttingener Nachfolgern.
Als Husserl aus Göttingen nach Freiburg kam, war er sehr missmutig über das Unverständnis, auf das er stieß, und hielt es für ein Verkennen seiner redlichen Arbeit. Die Kleinmütigkeit wich aber bald dem Entschluss, trotz allem seinen Vorstellungen über die Phänomenologie treu zu bleiben.
Die „transzendentale Version“ der Phänomenologie lehnten aber später auch die Freiburger Schüler ab. Im Unterschied zu Göttingen fanden aber hier die Spätthemen Husserls eine doch viel gefälligere Aufnahme, so dass die Lebenszeit in Freiburg für die fruchtbarste für die weitere Entwicklung der Phänomenologie zu halten ist. Eben die breiteren epistemologischen und ontologischen Motive, die man in der Phänomenologie dieser Zeit finden kann, inspirierten eine Reihe von bedeutenden Philosophen zu den Versuchen, eine selbständige Version der Phänomenologie aufzubauen. Ihre Arbeit an der Entwicklung des Gedankenerbes Husserls machte aus der Phänomenologie eine der wichtigsten philosophischen Richtungen des 20. Jahrhunderts.
Die Phänomenologie konnte ihre eigenen Themen entwickeln, aber auch weitere philosophische sowie auch nichtphilosophische Disziplinen befruchten, denen sie eine interessante Forschungsmethode bieten konnte (nämlich Metaphysik, Anthropologie, Psychologie, Kunst- und Literaturtheorie, Sprachwissenschaft usw.). Zu den wichtigsten Freiburger Nachfolgern Husserls sind Martin Heidegger, Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Emmanuel Lévinas, Jan Patočka, Alfred Schütz oder Hans-Georg Gadamer zu rechnen.
Husserl war mit einer interessanten Situation konfrontiert: Mit seiner eigenen Version der transzendentalen Phänomenologie blieb er allein, obwohl er von ihrer vollen Legitimität überzeugt war. Dagegen bemerkte er den Aufschwung derjenigen Versionen der Phänomenologie, die er nicht verstand oder die er für irrig hielt (Heideggers Schrift Sein und Zeit lehnte er z. B. energisch ab), die aber trotzdem immer größere Popularität gewannen und für die „echte“ Phänomenologie gehalten wurden.
Darauf, dass trotz allem Husserl gegenüber den Vorhaltungen seiner Schüler keinesfalls achtungslos blieb, weist seine weitere Entwicklung hin. Dem Programm der transzendentalen Phänomenologie blieb er bis Ende seines Lebens treu, ließ sich aber doch von einigen Themen ansprechen, die neue Fragen in sein späteres Werk brachten. Das Resultat dieser letzten schöpferischen Periode sind die publizierten Arbeiten Kartesianische Meditationen (1931), Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1937) und Erfahrung und Urteil (posthum 1939). Es ging in ihnen vor allem um das Problem, wie uns der andere Mensch gegeben ist. Das menschliche Wesen ist für uns kein gewöhnlicher Gegenstand, der an einen unbelebten Körper aus der Welt mahnen könne. Seine Substanz ist auch von seiner Handlung, vom Empfinden und Erleben mitbestimmt und alle diese Angelegenheiten kann man nur indirekt erblicken und anschauen, auf ganz andere Weise, als es bisher in „reinem Schauen“ der Fall war. Dieses Problem sogenannter Intersubjektivität zeigte Husserl, dass unsere Anteilnahme am einem anderen Menschen sich in einem speziellen Sozialraum abspielt, in einem intersubjektiven Feld, das durch die gemeinsamen Erlebnisse und durch die Produkte von verschiedensten menschlichenen Aktivitäten geschaffen ist. Dieses Feld des gemeinsam geteilten Sinnes nennt Husserl „die Lebenswelt“. Es handelt sich um „vorwissenschaftliche, vorsprachliche Welt“, in der wir spontan leben und die uns allen für jede Aktivität (vor allem für die wissenschaftliche) ein erstes und gemeinsames Verständnis für die Sachverhalte und für ihren Sinn anbietet (liefert). Husserl meint, der Grundfehler der modernen rationalistischen Wissenschaft sei, dass sie diese Lebenswelt verpasst und dass sie hinter sie eine „wahrere“ und „wirklichere“ Welt ihrer eigenen idealen Konstruktionen legt. Die Wissenschaft verschließt sich so in sich selbst und verliert die Disposition, auf die lebhaften Probleme zu reagieren, trotz dem, dass sie doch ursprünglich darum entstand, um auf sie zu antworten. Diese Zwietracht zwischen der Lebenswelt und der Welt der Wissenschaft, die auch ethische und politische Konsequenzen hat, hält Husserl für die Niederlage der Wissenschaft und erblickt darin den Hauptgrund „der Krisis der europäischen Menschheit“, die er selbst am Ende seines Lebens so intensiv durchlebte. Eben mit diesem Problem begann seine philosophische Arbeit unser Jan Patočka (siehe sein Erstlingswerk Die natürliche Welt als philosophisches Problem aus dem Jahre 1936).
Der Charakter des philosophischen Denkens Husserls bietet freilich keinen Grund zu sagen, dass es vielleicht seine mährische Abstammung ist, was ihm ein spezifisches Gepräge verleiht. Trotzdem bezeichnete er sich selbst als „mährischer Deutscher“. Über Comenius oder Masaryk, die beide aus Mähren kommen, sprach er als von seinen Landsleuten, als einen „netten“ Landsmann begrüßte er seiner Zeit Patočka in Freiburg. Sinen Geburtsort betrachtete er aber freilich immer als einen Teil Österreichs. Auch seine jüdische Abstammung fand er nicht wichtig, lange Zeit wurde er sich ihr nicht bewusst und zuletzt schämte er sich ihrer. Desto mehr war er ein eifriger Deutscher, überzeugt von der welthistorischen Mission des deutschen Geistes und der deutschen Kultur, deren natürlicher Bestandteil ihm die deutsche Philosophie und auch seine Phänomenologie zu sein schienen. Seine Arbeit hielt er für ein verbindliches Opfer der deutschen Nation: Er sprach über sie wie über eine riesig mühsame Aufgabe. Ähnlich wie viele seine Zeitgenossen jubelte er mit höchstem Stolz dem Anfang des ersten Weltkriegs zu, weil er ihn als eine Gelegenheit zum politischen und kulturellen Aufschwung der deutschen Nation ansah. Er war stolz auf seine Kinder, die als Freiwillige in die Front gingen (einer von seinen zwei Söhne fiel bei Verdun). Trotzdem wurde er bald nüchterner, sehr gern erwähnte er später, wie patriotisch sich seine Familie verhielt. Das heißt aber lange nicht, dass Husserl ein Chauvinist oder Nationalist war. Es ging ihm um „Weltdeutschtum“, um seinen aufopfernden Beitrag zum Fortschritt des Menschentums. Alles Große ist nach Husserl „übernational“, aber es muss sich im nationalen Geist ausdrücken. In einem Brief erwähnte er, dass diese tolerante nationale Gesinnung für ihn Masaryk entdeckte.
Aus diesem Grund konnte Husserl in keinem Fall den deutschen Nationalsozialismus akzeptieren. Den rassistischen Nationalismus sah er als zu primitiv und als auf einen ganz ungeistigen irrationalen Grund gestützt an. Husserl war wegen seiner jüdischen Abstammung dem Unrecht ausgesetzt: Er durfte immer weniger öffentlich tätig sein und reisen. Typisch aber ist, dass Husserl weniger darüber erzürnt war, dass die Juden verfolgt wurden, als eher darüber, dass er zu ihnen zugerechnet wurde. Er hielt es für einen großen Undank, dass seine lebenslange Loyalität gegenüber der deutschen Nation nicht respektiert wurde.
Aus der Stellung Husserls zum Deutschtum folgt auch, dass er während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit kein großes Interesse für den Besuch der Geburtsstadt Proßnitz kundgab. Um die Jahrhundertwende lebten in Proßnitz noch seine Mutter, Bruder Emil und die Familie seiner Frau. Der Bruder hatte bis 1925 in Proßnitz einen Betrieb: Proßnitz-Wiener Kleider- und Wäschenfabrik (Erste Proßnitzer Elektromechanische Wäschenfabrik). Adolf Husserl und Sohn. Husserl erwähnte zwar in den Briefen manchmal, wie gern er seine Verwandten in Proßnitz besuche, mehrmals hinderten ihn daran seine Arbeitsauslastung oder verschiedene Verpflichtungen. Proßnitz sah er wahrscheinlich zum letzten Mal im Jahre 1900, als er hier kurz an seinem Werk Logische Untersuchungen arbeitete.
Als er am Ende des Lebens aus politischen Gründen über den Wegzug aus Deutschland in die Tschechoslowakei nachdachte, spielte dabei natürlich auch die Erinnerung an das Vaterland ihre Rolle, nicht aber die erstrangige. Er wollte nach Prag übersiedeln, aber unter den Bedingungen, die seiner Position entsprechen sollten, also auf keinen Fall als ein nach finanzieller Unterstützung süchtiger Emigrant oder als alter Mann, der aus emotionalen Gründen ins Vaterland kommt, um dort zu sterben. Er wollte in Prag weiter vollwertig als Wissenschaftler tätig sein, und zwar mit allem, was dazu gehört. Deshalb wog er alle Möglichkeiten sorgfältig ab. Auch während seiner Vortragstournee in Prag im Jahre 1935, die ihn persönlich in der dunklen Zeit sehr erfrischte, erwog er mit seinem Sohn sehr vorsichtig verschiedene Varianten. Er hoffte auf die Hilfe Masaryks, der aber damals schon krank war. Finanzielle Unterstützung versprach ihm auch Dr. Engliš, auch Präsident Beneš engagierte sich. Es gelang sogar, relativ angemessene Apanage zu besorgen, aber weil sie aus keinem stabilen Staatsfond kam, urteilte Husserl, dass Prag nicht in der Lage sei, seinen Anspruch zu befriedigen. Aus der Emigration wurde also nichts.
Ein bisschen hoffnungsvoller sah zuerst die Sache mit dem Nachlass Husserls aus. Jan Patočka und seine Kollegen aus dem Prager philosophischen Kreis nahmen einen Plan für die Rettung der Handschriften vor der zu vermutenden Missgunst von der Seite der Nazi-Ämter an und noch am Ende des Lebens Husserls und in Zusammenarbeit mit Ludwig Landgrebe und Eugen Fink begannen sie, die Notizen umzuschreiben und zu klassifizieren und eine Publikation vorzubereiten. Nach dem Tod Husserls kam es sogar zum Umzug des Nachlasses nach Prag: So konnte Prag ein Weltzentrum von phänomenologischen Untersuchungen werden. Auch gelang es damals, manche Handschriften Husserls unter dem Titel Erfahrung und Urteil in Prag zu edieren. Leider machten die politischen Ereignisse diese großen Pläne zunichte. Der Nachlass wurde im letzten Augenblick unter dramatischen Umständen im Jahre 1939 als falsche diplomatische Sendung nach Leuven in Belgien befördert und obwohl auch hier der Nachlass der Kriegsgefahr ausgesetzt war, überstand er den Krieg ohne Schaden.
Kommentar:
In Folge des Weltwiderhalls der Phänomenologie Husserls ist die Literatur über sie natürlich riesig und unübersehbar. Die Auswahl der Sekundärliteratur kann in solchem Fall nur eine Orientierungsfunktion haben und es bleibt nichts anderes übrig, als auf weitere Arbeiten sowohl in den erwähnten Bibliographien als auch in den Literaturverzeichnissen und in Anmerkungsapparaten der ausgewählten Publikationen hinzuweisen. Es lässt sich aber doch vor allem auf folgende Publikationen aufmerksam machen: Faktographisch reich und übersichtlich (obwohl ein bisschen unverdaulich) ist Schuhmanns Chronik des Lebens Husserls, die aus den Erinnerungen von Zeitgenossen und aus der Korrespondenz Husserls zusammengesetzt ist (Schuhmann, 1977). Lebendiger und reicher an interessanten Photodokumentationen ist das Sammelbuch von Erinnerungen und Studien eines ehemaligen Mitarbeiters des Husserl-Archivs in Freiburg i. Br., H. R. Sepp (Sepp, 1988). Ein klassisches Handbuch nicht nur wegen der guten faktographischen Orientation über die phänomenologische Bewegung, sondern auch wegen der zugänglichen Erklärung von verschiedenen Abzweigungen der phänomenologischen Philosophie stellt die umfassende Publikation von H. Spiegelberg dar (Spiegelberg, 1960). Die deutsche, aber viel kürzere Modifikation dieser Arbeit ist das Buch von B. Waldenfels (Waldenfels, 1992), das einem übersichtlichen Lehrbuch der Geschichte der phänomenologischen Philosophie nahe kommt. Eine seriöse wissenschaftliche Monographie mit einer sachverständigen und anspruchsvollen Auslegung stellt das Kollektivwerk von R. Bernet, E. Marbach und I. Kern dar (Bernet-Marbach-Kern, 1989, tschechisch 2005). Die Autoren verfolgen die historische Entwicklung vom Denken Husserls und fügen dazu ihren eigenen kritischen Kommentar an. Im tschechischen Milieu steht uns eine ähnliche Arbeit aus der Serie der Aufsätze zur Verfügung, die Jan Patočka für die Zeitschrift Filosofický časopis verfasste (Patočka, 1965-66): Es handelt sich um eine höchst solide, aber sehr gehobene Auslegung. Husserls Philosophie mit Rücksicht auf ihre innere Struktur und logische Verflechtung der Themen gibt das Buch von Werner Marx (Marx, 1987). Aus der großen Menge von Einleitungen in die phänomenologische Philosophie sind die schöne Arbeit von Lembeck (Lembeck, 1994) und das Werk von E. Ströcker und P. Janssen (Ströcker-Janssen, 1989) zu erwähnen. Bei uns verdient die Aufmerksamkeit Patočkas Übersicht (Patočka, 1993) und wegen ihrer Lesbarkeit und Zugänglichkeit auch die entsprechenden Passagen aus der Einleitung in die (gegenwärtige) Philosophie von M. Petříček (Petříček, 1992). Fachliche Arbeiten zu den konkreten Problemen der Phänomenologie gibt es bei uns immer nur wenige. Phänomenologie war zur Zeit des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei unerwünscht, und deshalb dauerte es eine lange Zeit, bis außer der einzigartigen Gestalt von Jan Patočka jemand anderer mit einer größeren Arbeit kommen konnte (Mokrejš, 1969). Im Übrigen war aber an eine ausführlichere Monographie gar nicht zu denken, deshalb sind in unserer Übersicht vor allem die Zeitschriftenaufsätze vertreten. Sie beachten gewöhnlich nur einige Aspekte der Phänomenologie Husserls (Bayerová, 1965, 1967, 1968, 1990; Zátka, 1990; Zuska, 1990; Mathauser, 1990), aber trotz ihrer Entstehung in der Zeit der Totalität sind sie fachlich verlässlich. Ein blamables Bild der marxistischen Vorstellungen über die Phänomenologie bietet die Sammlung von Beiträgen, die aus Anlass des fünfzigsten Todestages Husserls in der Philosophischen Zeitschrift publiziert wurden (Půl století od smrti Edmunda Husserla, 1988). Eine der regionalen Publikationen, welche Husserl gewidmet sein durften, ist ein Sammelband aus der ersten internationalen Konferenz, die nach dem Fall des Kommunismus in Proßnitz stattfand (O Edmundu Husserlovi, 1991): Sie erschien aber in einer kleinen Auflage und unter elenden Bedingungen. Ein interessanter Nachweis über die Freundschaft von Husserl und Masaryk stellt ihre Korrespondenz dar, deren Auswahl noch vor dem Antritt der Normalisierung in einem philosophischen Jahrbuch in Brünn erscheinen durfte (Jirásek, 1970). Nach der Revolution im Jahre 1989 stieg natürlich das Interesse für Phänomenologie heftig, die meisten Studien beschäftigen sich aber vor allem mit Patočka oder Heidegger; Studien über Husserl selbst und über seine Philosophie fehlen oder sie tauchen erst allmählich auf.
Nachlass
Husserls Werk enthält eigentlich nur eine geschlossene und fertige Arbeit – Logische Untersuchungen. Alle anderen publizierten Texte sind auf irgendeine Weise unvollständig und mit keinem von ihnen war Husserl zufrieden. Nach seinem Tod erhielten sich gleichwohl im Nachlass 45.000 stenographische Notizen und 10.000 schon umgeschriebene Seiten. Am Anfang der 50er Jahre begann (dank des opferbereiten Franziskaners Leo van Breda, der an der Genese des Archivs in Leuven beteiligt war) die Editionsreihe Husserliana zu erscheinen, und zwar als ein ambitiöses Projekt von der vollständigen Publikation sowohl aller erhaltenen Handschriften, als auch der schon publizierter Arbeiten in neuer Ausgabe. Bei dem Projekt wird mit ca. 40 umfassenden Bänden gerechnet. Die Verarbeitung der einzelnen Bände entspricht dem höchsten Anspruch an fachliche Edition des wissenschaftlichen Textes. Jeder Band ist mit einem gründlichem Vorwort, einem reichem Notizapparat sowie mit Beilagen versehen, die Anmerkungen, Korrekturen und die ursprüngliche Form der Endversion enthalten. Das Erscheinen der Schriften Husserls begleitet eine Reihe von Dokumentationsbänden, unter denen die vor kurzer Zeit publizierte umfangreiche Korrespondenz Husserls dominiert. Des Editionsprojekts nahm sich zuerst der Verlag Martinus Nijhoff in Haag an, nun setzt dessen Arbeit der Verlag Kluwer in Dordrecht, Boston und London fort. Die japanischen Phänomenologen erstellen eine Computerdatenbank von den Werken Husserls und ein umfangreiches Namen- und Sachregister.
Ivan Blecha, Olmütz