Peter Härtling: Große, kleine Schwester
Der Roman Große, kleine Schwester von Peter Härtling, erschienen im Jahre 1998, handelt von den zwei Schwestern Ruth und Lea, die in Brünn aufwachsen und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gehen müssen, wo sie dann zusammen in der schwäbischen Stadt N leben.
Ihre Geschichte wird in zwei Zeitsträngen erzählt, die sich jeweils kapitelweise abwechseln. Einerseits werden im Präteritum die Erlebnisse der zwei deutschen Schwestern von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis 1953 geschildert, andererseits im Präsens ihr gemeinsames Leben im hohen Alter.
Ruth (geboren 1907) und Lea Böhmer (geboren 1908) verbringen ihre Kindheit in wohlhabenden Verhältnissen in Brünn, der Vater ist Direktor einer Fabrik, die Mutter arbeitet nicht. Zur Familie gehört außerdem noch Carlo, der Bruder der beiden, der ein paar Jahre älter ist. Die Schwestern sind ziemlich verschieden: Ruth ist eher ruhig, liest gerne und ist gut in der Schule; Lea ist dagegen lebhaft und arbeitet gerne in der Küche mit. Lea wird in den frühen Lebensjahren von den Eltern etwas bevorzugt, weswegen Ruth neidisch auf sie ist und die beiden sich oft streiten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs werden die beiden zusammen eingeschult, wodurch sie in der Schule eher als Schwestern als als Individuen wahrgenommen werden und auch weniger streiten. Vom Ersten Weltkrieg verstehen sie wenig und auch wenn sie beispielsweise durch Gespräche der Älteren etwas davon mitbekommen, ändert sich in ihrem Leben nichts Wesentliches. Lea muss ein Schuljahr wiederholen und wird daraufhin von der Mutter mehr im Haushalt eingebunden, wohingegen Ruth sich nach der Schule weiterbilden darf. Dadurch entwickeln sich die Schwestern weiter auseinander. Nach ihrem Schulabschluss besucht Lea ein Jahr lang eine Hauswirtschaftsschule in Reichenberg, Ruth bleibt zu Hause und besucht eine Einrichtung, wo sie Wirtschaften lernt.
1925 bis 1928 machen die beiden Schwestern und ihre Eltern jeden Sommer mit der befreundeten jüdischen Familie Ribasch, die auch zwei Töchter ungefähr im gleichen Alter hat, Urlaub in Franzensbad. Dort kommen die Schwestern in Kontakt mit jungen Männern. In Brünn gehen sie nun regelmäßig ins Operncafé, wo Lea den Tschechen Jiři Pospischil kennenlernt. 1936 stirbt der Vater aufgrund gesundheitlicher Probleme, kurz danach heiraten Lea und Jiři und ziehen zusammen. Ruth zieht mit der Mutter in eine kleinere Wohnung und beginnt, in einem Schreibwarenladen zu arbeiten. Mit dem Ladenbesitzer beginnt sie eine heimliche sexuelle Beziehung.
Kurz vor dem Münchner Abkommen zieht Sarah, die eine Tochter der Ribaschs, mit ihrem Mann in die USA und wird von den Familien Ribasch und Böhmer feierlich verabschiedet. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten spürt besonders Lea die Atmosphäre der Angst. Ruth kündigt ihre Stelle im Schreibwarenladen und streift fortan ziellos durch die Stadt. So lernt sie den Schriftsteller Hugo kennen. Als die beiden einmal in der Stadt auf Lea treffen, beachtet Hugo Ruth kaum mehr, dennoch besucht sie ihn kurze Zeit später für ein Wochenende in Prag. 1942 beginnt Ruth als Wirtschafterin beim Fliegerhorst in der Nähe von Brünn zu arbeiten. Im gleichen Jahr muss der Rest der Familie Ribasch nach Theresienstadt gehen, sie werden später in Auschwitz ermordet. Außerdem kommt Carlo, der eine Kanzlei in Deutschland hatte, zurück und wird kurz darauf eingezogen. Er stirbt im Krieg. Bald darauf beginnen die Luftangriffe auf Brünn. Ruth verliebt sich in einen Soldaten, der kurz darauf stirbt. Sie hat nur einmal mit ihm gesprochen. Kurz danach muss sie ihre Arbeit am Fliegerhorst beenden, da die Staffel verlegt wird.
Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen Ruth und die Mutter nach Wien. Dort leben sie eine Zeit lang bei einer Bekannten Jiřis, bevor sie schließlich nach Deutschland in die schwäbische Stadt N gehen. Sie leben zunächst auf einem Dachboden und Ruth arbeitet nicht, sondern streift durch die Stadt. Dabei lernt sie Irene kennen, mit der sie eine Liebesbeziehung führt, bis deren Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. 1949 bekommen Ruth und die Mutter eine eigene Wohnung. Lea lebt nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst weiter in Brünn, fühlt sich allerdings unwohl, weil sie Angst hat, als Deutsche erkannt zu werden. Als Jiři etwa Ende der 40er-Jahre an Tuberkolose stirbt, geht Lea zu Ruth und zur Mutter nach Deutschland. Sie beginnt, als Lageristin zu arbeiten. Ruth beginnt, später als Lea, eine Arbeit als Zuschneiderin. Bei ihnen zuhause wird viel gestritten und die Mutter fällt zeitweise in eine Depression. Ruth und Lea besuchen einmal gemeinsam Hugo in Wien. Dieser beachtet allerdings nur Lea und Ruth ist traurig darüber. Lea besucht ihn noch mehrmals, Ruth kommt nicht mehr mit. 1953 stirbt die Mutter der Schwestern. Hier endet der erste Zeitstrang.
Ende der 80er-Jahre leben Ruth und Lea noch immer zusammen, zurückgezogen in ihrer Wohnung. Ihr Alltag ist sehr monoton und geprägt von vielen Streitereien. Dennoch wissen beide, dass sie sich brauchen und haben Angst davor, dass die andere stirbt. Beispielsweise gibt Lea dies zu, als Ruth nach einer Operation wegen Brustkrebs aus dem Krankenhaus zurückkehrt. Regelmäßig erinnern sie sich an Ereignisse aus ihrem Leben. Lea erkrankt an Darmkrebs und muss zwei Mal ins Krankenhaus. Als sie nach dem zweiten Mal pflegebedürftig zurückkehrt, kümmert sich Ruth um sie. Als sie an einem Tag zu Lea ins Zimmer kommt, stolpert sie und stirbt sofort. Lea begreift dies erst Tage oder Wochen später. Sie kommt in ein Pflegeheim, wo sie zunächst ruhig und zurückgezogen lebt. Nach etwa einem Jahr allerdings beginnt sie, verzweifelt nach Ruth zu suchen, danach verlassen sie ihre Kräfte und sie stirbt schließlich auch.
Miriam Philipp (Praktikantin)
Das Buch wurde von Jaroslav Palatý unter dem Titel Brno, drahé Brno ins Tschechische übersetzt.