Marianne Bohrmann: Mährische Novellen


Jahr der Publikation
1913
Verlag
Silva-Verlag
Publikationsort
Berlin-Wilmersdorf
Gattung
Kürzere Prosa (Novelle, Erzählung usw.)
Bibliographische Daten
Mährische Novellen. Silva-Verlag, Berlin-Wilmersdorf 1913
Art der Veröffentlichung
Separate Veröffentlichung

Dieser Novellenband erschien 1913 und beinhaltet sechs Novellen: Susanna (undatiert), Im alten Schloß (Brniow, 1903), Nur eine Geschichte (Berlin, 1911), Unverhofft (1910), Aus Trotz verfehlt (Prag, 1911) und Dunkle Nächte (Odessa, 1886). Dieses Buch hat Bohrmann „dem Freunde aus der Heimat“ gewidmet, dessen Name aber unbekannt bleibt. Anstelle einer Einleitung steht hier das Gedicht Zur elfhundertjährigen Festfeier der Stadt Iglau, das am 25.6.1899 in Wien geschrieben wurde. Es ist ein sehr pathetisches Heimatsgedicht von geringer Qualität.

Die erste Novelle Susanna ist eine nacherzählte mährische Sage, deren Schauplatz Iglau ist. Susanna ist die Glocke in der Iglauer St. Jakobskirche. In der Novelle wird stark idealisiert und poetisiert geschildert, wie die Glocke zu ihrem Namen kam. Es ist eine Rahmennovelle, und der Rahmen wird hier als einleitende pathetische Feier der Heimatstadt der Autorin – Iglau - benutzt.

In der Novelle Unverhofft verwandelt sich die Idylle in einen verborgenen Kampf um das Leben in der Wahrheit. Die Hauptprotagonistin, Ernestine Dischel, eine einsam im Kurort Teplitz lebende und an der dortigen Volksschule angestellte junge Lehrerin zieht sich völlig in ihre Privatsphäre zurück. Ernestines Haus ist ein deutsches Kunst- und Kulturgehege mitten in der mährisch-walachischen Provinz. Bohrmann verzichtet auf jegliche Schilderungen ihres Gemütszustands und der Leser ahnt, dass Ernestine ein Geheimnis verbirgt. Eine realistische, beinahe dokumentarische Formensprache wird bisweilen mit einem naturalistischen Arrangement angereichert (der Tod der kranken Mutter und Schwester, Armut, harter Kampf der Eltern ums Dasein). Ein Kurgast, ein Rittmeister, beginnt – zusammen mit seiner Tochter Leonore – Ernestine regelmäßig Besuche abzustatten. Leonore kommentiert Ernestines existenzielle Lage folgendermaßen:

Jetzt begreife ich, warum Ihnen dieses Teplitz mit seinen wenigen Menschen, die ganze übrige Welt ersetzen kann, fuhr Leonore fort. „Hier in dem märchenhaften Beczwatale hausen nicht Sorgen und Plage der Gesellschaftskonvenienzen, die nicht nur sehr kostspielig und anstrengend, sondern auch im höchsten Grade zeitraubend sind. Hier gehört man sich ganz an. Gedanken, Arbeit, Wissen und Vervollkommnung können sich in ihrer ganzen Größe entfalten. Die Schönheit der Gegend, Ihr stilles, beschauliches Wesen, Ihr namenlos gutes Herz, tragen dazu bei, eine für sich große Welt zu schaffen . . .[1]

Leonore und Ernestine entwickeln Gefühle füreinander. Auch der Rittmeister, Leonores Vater, verliebt sich in die junge Lehrerin. Nach ungefähr einem Jahr, nach der Verheiratung Leonores, erscheint der Rittmeister bei Ernestine, unterbreitet ihr seinen Heiratsantrag und sie willigt ein. Beide Frauen, die eine tiefe Neigung zueinander empfinden, geben den Kampf um ein Ausleben ihrer wahren Gefühle auf. Sie beschließen, ihre wahre sexuelle Identität auch weiterhin zu verstecken. Die mährisch-walachische Idylle steht metaphorisch für die konservative und konventionelle Welt von gestern und somit für die verdrängte Wahrheit. Für diesen Typ der Literatur stellt die lesbische Liebe sicherlich ein gewagtes Thema dar.

[1] Mährische Novellen, S. 207.