Paul Zifferer: Die fremde Frau
- Jahr der Publikation
- 1916
- Verlag
- Fischer
- Publikationsort
- Berlin
- Gattung
- Roman
- Bibliographische Daten
- Die fremde Frau. Roman. Fischer, Berlin 1916.
- Art der Veröffentlichung
- Separate Veröffentlichung
Autobiografischer Generationsroman.
Die im Mittelpunkt des Romans stehende jüdische Familie Grabner tritt als Promotor und Träger der kapitalistischen Entwicklung der Stadt auf, wodurch sie zur Zielscheibe von Wutausbrüchen der Arbeiterklasse und der revolutionären Massen wird. Diese jüdische Familie, der das Flair der elitären Generationen lang anhaftet, wird von der tschechischsprachigen Bevölkerung des poetisch getarnten Bistritz am Hostein (hier heißt es Rottal) gehasst, paradoxerweise wegen ihres angeblichen Deutschtums.
Als Vorbild für die im Roman auftretende Familie Grabner diente dem Autor offensichtlich seine eigene Familie und deren kulturelle Ambitionen. Das bunte Treiben im Hause Zifferer im ausgehenden 19. Jahrhundert war oft der Kunst und Kultur gewidmet. (Vgl. Marie Doláková / Ladislav Hosák: Dějiny města Bystřice pod Hostýnem. Bystřice pod Hostýnem 1980, S. 221.) Dies entging nicht der Aufmerksamkeit des tschechischen Literaturkritikers und Wortführers der tschechischen literarischen Moderne, František Xaver Šalda, der sich oft in Bistritz aufhielt. Bei der Beschreibung des Geburtshauses des jungen deutschmährischen Dichters, das er als Symbol der Ziffererschen Macht in der Stadt betrachtet, lässt Šalda sogar einen kunstkritischen und national gefärbten Ton in seinem anschließenden, überraschend gehässigen Kommentar erklingen. Der Jude symbolisiert, sowohl in gesellschaftlicher als auch ästhetischer Hinsicht, die Überheblichkeit, der die armen Walachen ihren sozialen und biologischen Ruin verdanken:
"Meinen Fenstern gegenüber steht ein Haus, ein solides Haus mit eindrucksvoller Schmiedetür und festen Eisengittern in den Erdgeschossfenstern. […] Das Haus gehört einem reichen Juden und es wurde von seinem Vater, der mit leeren Händen begonnen hatte, gebaut. […] Im ersten Stock ist die Kultur heimisch geworden, die Literatur und Kunst, nur die deutsche versteht sich. […] Die dritte Generation bildet die erste, immer noch junge Kulturschicht der Familie, die erste eine Art Ablagerung. […] Im Erdgeschoss wohnen Elend, Verzweiflung und Tod – na ja, sie wohnen nicht wirklich da, sie sind hier nur zu Gast. Ein Stückchen rechts vom Eingang hängt eine Blechtafel mit der tschechischen Aufschrift Schnaps- und Spirituosenschenke. Hier im Erdgeschoss, in einem Eisenkäfig, trinken sich die Walachen zu Tode, sie vertrinken hier Haus und Hof – hier trinken sich auch diejenigen zu Tode, welche nichts anderes als das allerletzte glimmende Fünkchen von Gesundheit und Vernunft aufbringen können. […] Die dritte Generation betätigt sich aber kulturell und literarisch, der Sohn ist ein deutscher Dichter, und falls kein Dichter, dann wenigstens ein Versemacher. […] Doch zehrt eine Qual an meiner Seele: Aus wie viel hundert Leichen – unseren Leichen – erwuchs diese schwache, kränkliche und übelriechende Blüte? […] Denn dieses ganze solide, nüchterne, kleingläubige Haus, mit seinem erbärmlichen Erdgeschoss und seiner ästhetischen Etage ist nicht mit Steinen untermauert, sondern mit menschlichen Schädeln." (František Xaver Šalda : Ležela země přede mnou, vdova po duchu, který odešel. Dojmy a bolesti. In: Volné směry. IX, S. 6.)
Es folgt dann noch eine Philippika gegen die Nachahmung großer Naturalisten (etwa Hauptmanns) in der deutschmährischen literarischen Landschaft und ferner eine Reihe von antisemitischen Anspielungen, welche in das dünne Mäntelchen des Kampfes um die künstlerische Reinheit der Literatur auf mährischem Gebiet gehüllt sind.
Dieses Werk wirft einen interessanten Blick auf die interkulturellen Konstellationen und den Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen, Tschechen und Juden in Mähren. Vom naturalistischen Arrangement ausgehend, thematisiert er die Entfremdung des modernen Menschen im Grenzbereich kleinstädtischer und dörflich-ländlicher Umgebung, wobei er grenzüberschreitende Konturen aufweist und universelle, überzeitliche Phänomene wie etwa den Sinn des Daseins in der modernen entfremdeten Welt erörtert. Auf der anderen Seite bleibt der Roman dank seiner regionalen Ausrichtung durchaus in einer konkreten geografischen und historischen Realität verankert, nämlich in der Mährischen Walachei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ohne dies allerdings explizit zu erwähnen. Die Titelfigur, die fremde Frau, heißt eigentlich Beate Wittenberg. Sie ist die Tochter eines jüdischen Hausierers und Bettlers, der durch die mährischen Städte wandert. Beate heiratet den aus einer reichen jüdischen Rottaler Familie stammenden Michael Grabner. Aufgrund ihrer niedrigen Herkunft wird sie allerdings von den Grabners als gleichberechtigtes Familienmitglied gar nicht anerkannt und muss sich auch nach der Hochzeit mit der Rolle der einfachen Magd, die von ihrem rechtsgültigen Ehemann höchstens im Stall besucht werden kann, begnügen. Beate wird als Fremdkörper im lebenden Organismus der Stadtgemeinschaft betrachtet, dauernd erniedrigt und vom örtlichen Brenner Adamek einmal beinahe vergewaltigt. Michaels und Beates Sohn Wolfgang, das einzige Wesen, in welches sie ihre Hoffnungen setzt, ist zwar intelligent, aber zugleich schwach, unentschieden und – wie sich später, im Laufe seines Studiums, zeigt – nicht nur als Nachfolger Michaels in der Verwaltung des Familieneigentums, sondern generell für das praktische Leben absolut ungeeignet. Die Familie wird langsam in den Ruin getrieben. Ein naher Verwandter, Alexander Franck, der in dunkle Geschäfte verwickelt ist, wird sogar polizeilich gesucht. Der Börsenkrach von 1873 beschleunigt den Verfall, denn die Wertpapiere des alten Grabner verlieren jeglichen Wert. Beate wird auch dafür die Schuld gegeben. Sie gesteht offen ihren Hass gegenüber der gesamten Familie und kündigt an, ihren eigenen Weg zu gehen. Die ungünstige Lage Beates entspannt sich erst nach dem Ableben der ältesten Grabnerschen Generation, insbesondere nach dem Tod des tyrannischen Vaters Josef. Allmählich ergreift sie die Initiative und bemächtigt sich der Herrschaft im Haus und in der Familie, Michael wie auch die ganze Grabnersche Clique treten damit in den Hintergrund. Beate rettet die Investitionen der Familie und baut das Haus zu einem wichtigen und respektierten wirtschaftlichen Standort der mährisch-walachischen Stadt aus. Unmerklich verwandelt sie sich in eine pragmatische, jedoch nachdenkliche Managerin mit intellektuellen Neigungen, Leserleidenschaft und tieferer Einsicht ins Weltgeschehen. Sie wird zum Symbol jener rücksichtslosen und zielbewussten Unternehmerkaste, deren Opfer sie früher selbst war.
Der zweite Handlungsstrang dreht sich um den Tschechen Zdenko Hlusin, einen Außenseiter, der zunächst Mitstreiter der unterdrückten Beate war und später Maler und Revolutionär wird. Zwei Ausgestoßene gehen einen Freundschaftsbund ein. Zu ihnen gesellt sich noch die blinde Anina, die Tochter des örtlichen Pastors. Zusammen bilden sie eine Gemeinschaft der vom Schicksal Geprüften. Im Erwachsenenalter entfremdet sich Zdenko von Beate und stellt sich an die Spitze des revolutionären Pöbels in Rottal, der das Haus der Familie Grabner als Symbol des Reichtums, sozialer Ungerechtigkeit und deutschjüdischer Überheblichkeit stürmt. Dank ihrer Entschiedenheit überlebt Beate den verheerenden Brand des Anwesens, bei dem ihr Gatte Michael und mit ihm die ganze frühbürgerliche Welt der Familie Grabner stirbt. Beate kann ihr schwer ramponiertes Haus verteidigen und nach der Niederschlagung der Proteste wieder aufbauen.
Die Ortsbezeichnung Bistritz am Hostein wird kein einziges Mal verwendet, stattdessen gebraucht Zifferer – und zwar nicht ohne Grund – die fiktive Ortsangabe Rottal, die als historischer Verweis auf eines der örtlichen, der Kunst und Kultur gegenüber aufgeschlossenen Adelsgeschlechter, und zwar die Rottals, zu verstehen ist, die im Zeitraum 1650–1762 im Besitz der Holleschauer Herrschaft waren.
Libor Marek: Zwischen Marginalität und Zentralität. Deutsche Literatur und Kultur aus der Mährischen Walachei (1848–1948). Univerzita Tomáše Bati, Zlín, 2018.
Zusammen mit zwei weiteren Romanen Zifferers, Die Kaiserstadt (1923) und Der Sprung ins Ungewisse (1927) bildet Die fremde Frau drei unterschiedliche Bilder des österreichischen Menschen, welche das Auseinanderdriften von Zentrum und Peripherie vor und nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie dokumentieren.