Ernst Lothar Müller wurde am 25. Oktober 1890 in Brünn als Sohn eines durch seine Rechtlichkeit und seinen großen Einfluss bekannten Rechtsanwalts geboren. Er besuchte die Volksschule und die erste Klasse des Ersten Deutschen Staatsgymnasiums in Brünn, ab 1897 das Franz-Josephs-Gymnasium in Wien und studierte von 1908 bis 1914 an der Universität in Wien Germanistik und Jura. Schon als Gymnasiast hatte er begonnen, seinem literarisch erfolgreichen, um acht Jahre älteren Bruder nacheifernd, Gedichte zu schreiben. Um sich von seinem erfolgreichen Bruder Hans Müller deutlich genug zu unterscheiden, wählte er seine beiden Vornamen als Pseudonym: Ernst Lothar. Hans Müller aber nannte sich nach seiner Übersiedlung in die Schweiz Hans Müller-Einigen.
Zwei frühe Gedichtbände Lothars und ein früher Novellenband erschienen noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Von 1914 bis 1917 diente er im k.u.k. Dragonerregiment Nr. 6. Die Paradoxie der Würdigung des militärischen Mordens im Krieg und der Bestrafung des zivilen Mordens plagte sein Gewissen. Noch im Kriegsdienst veröffentlichte er seinen ersten Essay-Band Österreichische Schriften. Weltbürgerliche Betrachtungen zur Gegenwart, in dem er sich gegen die Kriegsverblendung wendete und der ihm viele Gegner bescherte. Im Jahr 1917, aus medizinischen Gründen für kriegsuntauglich befunden, wurde er aus der Armee entlassen und war von 1917 bis 1919 Auskultant und staatsanwaltschaftlicher Funktionär in Wels. Nachdem er beauftragt worden war, dienstlich an einer Hinrichtung teilzunehmen, quittierte er den Dienst bei der Staatsanwaltschaft und war von 1919 bis 1924 Beamter im Handelsministerium in Wien. Hier setzte er sich besonders für die Gründung der Wiener Messe ein sowie für die Gründung der Hochschule für Welthandel (heute: Wirtschaftsuniversität) und hatte auch wesentlichen Anteil an der Gründung der Salzburger Festspiele. Als Lothar Theaterkritiker der Neuen Freien Presse wurde, strebte er die Frühpension an und wurde mit Anfang dreißig mit dem Hofratstitel pensioniert. Während seiner Zeit in Wels und im Handelsministerium waren seine drei ersten Romane erschienen und er hatte sein einziges Drama vollendet. Als er in einer Theaterkritik beschrieben hatte, wie man Grillparzer wirklich inszenieren müsste, sagte Hofmannsthal zu ihm: „Sie sehen mit vollkommener Klarheit... Führen sie durch, was Sie als richtig erkannt haben, statt es nur den anderen vorzuschlagen. Inszenieren sie selbst Ihren Grillparzer!“ Bald darauf ereignete sich etwas in der Geschichte des Burgtheaters vorher noch nie Dagewesenes: Direktor Röbbeling lud Lothar ein, ein Grillparzer-Stück am Burgtheater zu inszenieren und auf diese Weise begann Lothars praktische Theaterarbeit.
Durch seine Unvoreingenommenheit und Kompromisslosigkeit als Theaterkritiker hatte sich Lothar zahlreiche Feinde gemacht. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurde er 1933 zum Präsidenten des Gesamtverbandes Schaffender Künstler Österreichs gewählt und wurde 1935 von den bedeutendsten Mitgliedern des Burgtheaters gefragt, ob er den Posten eines Burgtheaterdirektors annehmen würde. Bevor er sich entschied, fragte er bei Max Reinhardt in Berlin an, ob dieser unter seiner Direktion in Wien Regie führen würde, was dieser vorher stets abgelehnt hatte. Nach Reinhardts Zusage erschien die Ernennung sicher, wurde jedoch im letzten Augenblick durch eine Wiener Intrige vereitelt. Dafür machte Reinhardt Lothar zum Direktor seines eigenen Theaters in der Josefstadt. Nach dem Einmarsch der Truppen Hitlers in Wien 1938 floh Lothar mit seiner Tochter ins Exil. Seine Gattin, die berühmte Schauspielerin Adreinne Gessner, hatte sich durch Zufall gerade im Ausland befunden. Zunächst fand Lothar Unterkunft bei seinem Bruder in der Schweiz. Doch da er keine Arbeitsbewilligung erhalten konnte und der Aufenthalt auf drei Monate beschränkt war, ging er mit Gattin und Tochter nach Paris. Aber er fühlte, dass auch hier überall Gefahr lauerte: „Einundhalb Jahre bevor es sich offizielle erhob, wehte ein Vichy-Lüftchen über den Boulevards.“
Es gelang Lothar ein Visum für die USA zu erhalten und 1939 traf er im Hafen von New York ein. Die Tochter wurde von der Großmutter aufgenommen. Lothar und seine Frau lebten in einem elenden Untermietzimmer, konnten keine Arbeit finden und hatten aus Verzweiflung heraus Selbstmordgedanken. Da kam es zu einer Begegnung mit Thomas Mann in Princeton, der Lothar anregte und ermutigte, in New York ein österreichisches Theater zu gründen. Was mitunter als „Gründung des Austrian Theatre“ bezeichnet wird, war nicht mehr als die bescheidene Anmietung eines Schulauditoriums für je einen Tag, in dem es zu je einer Aufführung von vier Stücken kam. Lothar begann Englisch zu lernen, wurde von seinen ehemaligen Dramaturgen in der Josefstadt Dr. Horch und Zuckmayer an den Lektor eines großen Verlages empfohlen und schrieb seinen ersten englischen Roman A Woman is Witness, den Roman einer Wienerin im Pariser Exil. Das Buch wurde ein richtiger Erfolg, und Lothars Frau hatte ebenfalls ihren ersten Erfolg bei einem Theater am Broadway. Dann erhielt Lothar eine Professur für Theaterwissenschaft und vergleichende Literaturgeschichte am Colorado College und bald darauf folgte ein zweiter Roman von ihm, der ein noch größerer Erfolg wurde als der erste: Beneath another Sun.
In seinem nächsten Roman, vielleicht seinem wichtigsten, hat Lothar versucht, seinen amerikanischen Lesern einen Begriff von der Geschichte Österreichs von etwa 1880 bis 1938, von seinem Wesen und seinen Menschen zu geben. Er lobte in diesem Roman sowohl Österreich als auch in anderem Zusammenhang Amerika. Trotzdem war er einer der wenigen Exilautoren, die es zurück nach Österreich zog und da sich dies für einen Exilautor und Zivilisten unmittelbar nach dem Krieg nicht einfach bewerkstelligen ließ, benutzte er seine Beziehungen und wurde auf Grund seiner Fähigkeiten 1946 als Kulturoffizier des amerikanischen Außenministeriums nach Wien geschickt.
Als Lothars Dienstverpflichtung erlosch, stand er vor der Entscheidung, die er die schwerste seines Lebens genannt hat, in die USA zurück zu kehren oder in Österreich zu bleiben, was aber den damaligen Gesetzen entsprechend bedeutete, seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Er entschied sich dafür, seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Er inszenierte beim Burgtheater und für die Salzburger Festspiele mit besonderer Vorliebe Grillparzer, Hofmannshal und Schnitzler. Sein Verlag listete am Schluss des Bandes seiner gesammelten Reden seine „Österreichischen Romane“, seine „Österreichischen Erzählungen“ und seine „Österreichischen Essays“ auf. Am Österreichischen Kulturinstitut in Rom hielt er einen bemerkenswerten Vortrag mit dem Titel Österreichs kulturelle Weltbedeutung. Und der Dank für seine Rückkehr war allzu rasch gekommen: Otto Treßler, Doyen der Mitglieder des Burgtheaters, Herbert Waniek, Oberregisseur und Hermann Thimig, Vertrauensmann überreichten dem Unterrichtsminister eine Denkschrift mit dem Ersuchen, Lothar zum Burgtheaterdirektor zu machen. Der Intendant Dr. Hilbert besprach mit ihm alle Einzelheiten des Vertrags. Doch verhinderte eine neue Wiener Intrige seine Ernennung. Es hatte sich auch nach dem Krieg nichts geändert.
Lothar inszenierte auch amerikanische Autoren wie Arthur Miller, schrieb als Kritiker für Die Presse und verfasste seine bewegende Autobiographie Das Wunder des Überlebens. Seine Enttäuschung über Österreich wuchs. 1962 schrieb er: „Vor zwanzig Jahren mussten Amerika und England daran erinnert werden, was Österreich ist; heute muss man Österreich daran erinnern.“
Zu seinem siebzigsten Geburtstag erhielt er zwar von Wien – und auch von den USA – zahlreiche Ehrungen, aber als er vierundachtzigjährig starb, war er fast völlig vergessen und blieb es, wenn auch einige seiner Romane nach seinem Tod in Deutschland neu aufgelegt wurden. Vor allem aber wusste kaum jemand mehr von seiner mährischen Herkunft aus einer deutsch-jüdischen Familie, die seine grundsätzliche Welt- und Lebenshaltung sowie sein Wertesystem, an denen er sein ganzes Leben hindurch festhielt, geprägt hatte. Schon nach dem Ersten Weltkrieg, noch viel stärker jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, schätzte er jene multiethnische Mischung, welche die alte Vielvölkermonarchie geprägt hatte, besonders und trauerte ihr nach. Was Lothars dichterisches Werk betrifft, so war er hauptsächlich Erzähler. Als Erzähler stand er stark unter dem Einfluss Schnitzlers und seine reifen Erzählwerke gehören dem Stil der Neuen Sachlichkeit an mit gelegentlichen romantischen Einschüben.
Lothars erster Roman Der Feldherr erschien 1918 und als Modell hatte ihm die Figur des Feldmarschalls Hötzendorf gedient. Der Roman trug ihm den Vorwurf des Defaitismus und den Bauernfeldpreis ein. Es folgte 1921-25 die Roman-Trilogie Macht über alle Menschen, von der gesagt wurde, dass sie ihn „noch mitten in der Entwicklung zur Menschendeutung“ zeigte. Sein Roman Der Hellseher, der von Thomas Mann sehr geschätzt wurde, war ein erster Durchbruch.
Dem ungewöhnlich einfühlsamen Roman einer Zwölfjährigen Kleine Freundin folgte der erste Roman von internationaler Bedeutung Die Mühle der Gerechtigkeit über das Euthanasieproblem. Ein Ehemann, der seine Frau sehr liebte, hatte der sehr schmerzhaft und unheilbar Erkrankten durch ein vergiftetes Essen, das auch er selbst mit ihr einnahm, die letzten Qualen erspart. Als sie gefunden werden, kann er noch gerettet werden und wird vor Gericht gestellt.
Es folgten die Exilromane Die Zeugin sowie Unter anderer Sonne. Letzterer zeigt die Heuchelei Hitlers am Beispiel seiner Südtirol-Politik. Der dritte Exilroman Der Engel mit der Posaune, nach dem Krieg erfolgreich verfilmt, stellt im Brennspiegel von drei Generationen einer Wiener Klavierbauerfamilie die Entwicklung Österreichs beginnend mit dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf bis zur Machtübernahme Hitlers im Jahr 1938 dar. Es folgte Heldenlatz als vierter Exilroman sowie der Band The Door opens mit kleinen Erzählungen. Diese geben eine reizende Darstellung von dem Leben von Lothars beiden kleinen Töchtern.
Nach Lothas Heimkehr nach Österreich schilderte sein Roman Die Rückkehr sinnbildlich sein eigenes Dilemma. Der Protagonist ist ein Wiener Rechtsanwalt, der seine österreichische Verlobte verlässt, um in die USA zu emigrieren. Da er sie für tot hält, verlobt er sich in Amerika zum zweiten Mal. Als er nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrt, findet er seine alte Verlobte am Leben und heiratet sie. Den darauf folgenden Roman Verwandlung durch Liebe hat die Pariser Zeitung Le Monde eine „Bereicherung unserer Existenz“ genannt. Zu Lothars 65. Geburtstag veröffentlichte sein Verlag gesammelte Reden und Schriften unter dem Titel Die bessere Welt. Zuletzt folgte ein Band von Essays Macht und Ohnmacht des Theaters. Von 1960 bis 1968 erschienen Ausgewählte Werke in sechs Bänden.
(P. J. Strelka, Northville, USA)