Das 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende sind einerseits eine Epoche des Aufbruchs und des zukunftsfrohen, durch die Errungenschaften der Technik geprägten Fortschrittsoptimismus, andererseits eine Zeit des Pessimismus und der Betonung des Lebens als Leid, wobei die Philosophie Schopenhauers dem Einzelnen die Möglichkeit bot, sein individuell-subjektives Erleben zu objektivieren. Hieronymus Lorm ist ein typischer Repräsentant der konsequenten Negierung aller Zukunftshoffnungen und jeglichen Fortschrittsdenkens.
Als Sohn eines wohlhabenden, geachteten jüdischen Kaufmanns verbrachte Hieronymus Lorm seine Jugendjahre in Wien, erkrankte 1836/37 an einer Lähmung und Gehör- und Sehstörungen, die 1881 zur völligen Blindheit und bereits im Jugendalter zur Taubheit führten. Um sich vor einer völligen Vereinsamung zu bewahren, entwickelte er eine nach ihm benannte „Fingerzeichensprache“ und schrieb Gedichte und Erzählungen, die er im Österreichischen Morgenblatt veröffentlichte. Als die österreichische Zensur Anstoß an seinen satirischen Bemerkungen in dem Faustepos in fünf Gesängen Abdul (1844), das im Grenzboten publiziert worden war, nahm, stellte er seine bisherigen Studien, Aufsätze, Essays und Erzählskizzen in der Sammlung Wiens poetische Schwingen und Federn (Leipzig 1847) zusammen, in der er die Wiener Gesellschaft kritisierte und gleichzeitig literarisch das berühmt-berüchtigte, weinerlich-weinselige, gemütlich-schwarzhumorige Lebensgefühl der Kaiserstadt verklärte und popularisierte. Als seine Kritik bei den Zensurbehörden zunehmend Aufmerksamkeit erregte und eine Verfolgung und Verhaftung wegen der Verbreitung demokratischer Gedanken drohte, wechselte er den Namen und floh noch vor dem Erscheinen des Buches 1846 nach Berlin. Aus Heinrich Landesmann wurde Hieronymus Lorm. Die inkriminierte Textsammlung erschien in Leipzig, das für Wien im Ausland lag; in Berlin publizierte er im Revolutionsjahr die Erzählungen Gräfenberger Aquarelle.
Nach dem Sturz Metternichs und dem Ende der revolutionären Ereignisse in Österreich, kehrte Hieronymus Lorm 1848 nach Wien zurück und wurde 1850 Redakteur bei der Wiener Zeitung. In der Literaturgeschichtsschreibung wird im Zusammenhang mit der Literatur des Vor- und Nachmärz häufig von einer ersten Epoche des Journalismus gesprochen (vgl. etwa das Lustspiel von Gustav Freytag Die Journalisten, 1852). Hieronymus Lorm gehört mit seinem Werk zu den wichtigsten Repräsentanten dieser Zeitkultur; so publizierte er im Feuilleton der Zeitung den zeithistorischen Fortsetzungs- und Erfolgsroman Ein Zögling des Jahres 1848, der 1855 in einer dreibändigen Ausgabe und 1863 unter dem neuen Titel Gabriel Solmar erschien und zu den vielgelesenen Publikationen des Nachmärz gehörte.
1856 heiratete Hieronymus Lorm Henriette Frankl; das Ehepaar ließ sich in Baden bei Wien nieder, wo auch drei Kinder geboren wurden. 1873 bis 1892 lebte die Familie in Dresden; hier schrieb Hieronymus Lorm die meisten Romane, die rasch eine große Lesergemeinde gewannen; besonders der Roman Die schöne Wienerin (1886) wurde zum Dokument einer epigonalen Wiener Gefühlskultur. 1892 übersiedelte Hieronymus Lorm mit seiner Frau nach Brünn, wo er die letzten Lebensjahre verbrachte und vornehmlich mit Essays und Lyrik an die Öffentlichkeit trat. Zeugnisse dieser letzten Lebensepoche sind die Gedichte Nachsommer (1896), die den Herbst und Abend als Spätzeit verklären, bewusst den Titel von Adalbert Stifters Roman von 1857 aufnehmen und auf die Stifterrezeption der Jahrhundertwende, die besonders durch den Prager Germanisten August Sauer gefördert wurde, verweisen. Epigonal an den Formen der klassisch-romantischen Tradition orientiert, kultivieren sie Weltschmerz und Resignation und weisen auf ein zeittypisches, bürgerliches Endzeitgefühl:
Dem seligen Nichts entstiegen,
Der ewigen Ruh,
Um ruhelos zu fliegen -
Wozu? Wozu?
Zeugnis dieser letzten Lebensepoche ist auch der Essay Der grundlose Optimismus (1894), der an die Philosophisch-kritischen Streifzüge von 1873 anschließt und als Dokument der Lebensbejahung des schwer körperlich und seelisch kranken Autors verstanden und gedeutet werden kann. Gegen die zeitgenössische Verklärung der Natur und den bramarbasierend phrasenhaften Humanismus der Gründerjahre behauptete Lorm früh seine spezifische Weltverachtung, wie er sie in einem Brief von 1868 an die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach formuliert hat, in dem er „die Welt als die schlechteste aller Welten“ bezeichnet, deren Natur nur dann als schön erscheine, „wenn man die sich ‚zerfleischende Thierwelt‘ und die sich ‚zerfleischende Menschenwelt‘ ausblende“ (Sprengel a. a. O. S. 61). In der Nachfolge Schopenhauers gesteht er dem Kunstwerk als ästhetisches Gebilde nur dann eine Berechtigung zu, wenn es Ausdruck der Negierung des Lebenswillens ist.
Lorms feuilletonistische Lyrik und Prosa sind getragen von Stimmungen der Zeit und sind daher heute nur noch als Dokumente einer abgelebten Epoche von historischer Bedeutung. Seine dramatischen Versuche - Die Alten und die Jungen (Leipzig 1875) - wurden schon von den Zeitgenossen kaum beachtet. Beachtung bis heute verdienen seine literaturkritischen, feuilletonistischen Arbeiten, die ihn als vorzüglichen, kenntnisreichen Journalisten und „Beobachter literarischer Entwicklungen“ zeigen (Michael Farin in Walter Killys (Hg.) Literaturlexikon von 1988).
Wie stark Hieronymus Lorm auf seine Zeitgenossen wirkte, wird aus einem Beispiel, auf das Peter Sprengel (a. a. O. S. 672) verweist, deutlich: „1884 erhielt Wedekind von seiner ‚philosophischen Tante‘ Olga Plumacher Hieronymus Lorms Buch Der Naturgenuss. Eine Philosophie der Jahreszeiten (1876) zum Geschenk. Da sich Motive Lorms bei Wedekind finden, ist eine Verbindung von Pessimismus zu Vitalismus anzunehmen.“ Hieronymus Lorm hat das Bild des Österreichers aus südmährischer Perspektive entworfen. Gegen Weltkultur und Lebensfreude wandte er sich entsagend der Natur zu, in der er Tröstung und Ersatzreligion suchte. Seine Charakteristik Österreichs wirkte in Wien, wurde rezipiert und tritt uns noch heute im sogenannten Wiener Lebensgefühl entgegen, einem Lebensgefühl, das sich in gemüthaften Liedern wie in Operetten, Bildern und Gedichten spiegelt. In diesem Wienertum vermischen sich Kulturen und Stände, verschwindet die Einzigartigkeit zugunsten einer sentimentalen Integration aller in einer alkoholischen Sehnsucht nach der klassen- und ständelosen Gesellschaft, nach der Überwindung nationaler Schranken. Hieronymus Lorm hat dieses Lebensgefühl gestaltet und verachtet (Krywalski in Sudetenland 3/1988 und in Weit von hier wohnen wir, weit von hier, Prag 2002, S. 288).
(Diether Krywalski)
Hieronymus Lorm, mit ursprünglichem Namen Heinrich Landesmann, stammte aus Nikolsburg. Seine Jugend verbrachte er in Wien, studierte hier Philosophie und beschäftigte sich mit Literatur und Musik. Mit 16 Jahren wurde er taub und mit der Zeit verlor er auch sein Augenlicht. Aus politischen Gründen ging er nach Deutschland, lebte in Leipzig und Berlin und ging nach der Märzrevolution 1848 zurück nach Wien. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er mit seiner Frau Henriette Frankl in Brünn bei seinen Kindern.
Lorm ging nicht nur als Erfinder der Handtastsprache für Blinde („Lormsches Fengeralphabe“) in die Geschichte ein, er war auch bedeutender Schriftsteller, Journalist (schrieb für die Berliner Zeitschrift Europa, wurde Mitglied der Redaktion der Wiener Zeitung) und Philosoph (z. B. die Schrift: Der grundlose Optimismus, 1894). Lorm schrieb vor allem Romane (z. B. Ein Zögling des Jahres 1848, 1855), Erzählungen (z. B. Eine mährische Gräfin, 1898) und Gedichte (z. B. Neue Gedichte, 1877).