Der Name eines relativ unbekannten deutschschreibenden Schriftstellers jüdischer Herkunft Eduard Kulkes ist gleichzeitig auf drei wissenschaftlichen Gebieten aufgetaucht. Erstens wird aufgrund Otto Neurats Beschäftigung mit Kulkes posthum erschienenen ästhetischem Werk Kritik der Philosophie des Schönen (1906) Kulkes Nähe zur verborgenen Vorgeschichte des Wiener Kreises angedeutet, zweitens sind Kulkes musikkritische Feuilletons ins Blickfeld geraten und damit sein Beitrag zur Vorgeschichte musiksoziologischen Denkens in Österreich. Am meisten werden aber Kulkes Ghettogeschichten literaturwissenschaftlich rezipiert und untersucht und damit auch die Stellung dieses Autors innerhalb der deutschsprachigen Ghettoliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigt.
Eduard Kulke wurde in Nikolsburg am 28. Mai 1831 geboren. Sein Vater Simson Kulke (1809-1894), seit 1838 Rabbiner in Kostel, war der Schwiegersohn des berühmten Rabbiners Nehemiah Trebitsch in Nikolsburg, der auch schriftstellerisch tätig gewesen sein soll. Seine Mutter wird in den Literaturlexika als eine begeisterte Verehrerin Friedrich Schillers erwähnt, stellt also das Vorbild und ein mögliches Identifikationsmuster für mehrere Frauengestalten Kulkes in seinen Ghettoerzählungen dar. Ernst Mach berichtet in der Vorrede zur Kulkes Kritik der Philosophie des Schönen, dass der Knabe von klein auf im Hause des Großvaters, eines berühmten Talmudisten, Zeuge der Disputationen mit von weither zugereisten gelehrten Gästen war und bis zu seinem 14. Jahr Privatunterricht im Hebräischen und Jüdisch–Theologischen erhielt. Kulke wechselte dann mehrere Gymnasien (Nikolsburg, Prag, Brünn, Znaim, Wien) bis er im Jahre 1853 das Polytechnikum in Wien besuchte; wahrscheinlich wegen Geldmangels aber nicht inskribiert wurde. Bereits ein Jahr später befand sich Kulke in Prag, wo er Mathematik und Physik studierte. Während seines Studiums war er in regem brieflichem und persönlichem Kontakt mit dem Wissenschaftler, Philosophen und Techniker – Josef Popper, Ps. Lynkeus (1838-1921), der wie Kulke an der Technischen Hochschule in Prag und am Polytechnischem Institut in Wien studierte. Kulke war mit ihm über 40 Jahre befreundet und berichtet, dass sie sich auf dem Gebiet der philosophischen und ästhetischen Fragen in völliger Übereinstimmung befanden; Kulke zog ihn aber auch in literarischen Angelegenheiten oft zu Rate. Aus der Prager Zeit ist ein Brief an die Redaktion der Graetzer Zeitung erhalten, in dem sich Kulke als Mitarbeiter der „Prager Erinnerungen“ bezeichnet. Jedenfalls hatte Kulke in Prag Gelegenheit, die moderne Literatur und das Theater kennenzulernen; das Erlebnis der Prager Aufführung von Wagners „Tannhäuser“ im Jahre 1854 bedeutete den Anfang von Kulkes Beschäftigung mit ästhetischen, philosophischen und musikalischen Fragen. Nach dem Abschluß des Prager Polytechnikums hat sich Kulke, bereits unterrichtend tätig, weitere zwei Jahre auf das Lehramt dieser beider Fächer und der deutschen Sprache vorbereitet. Nach dem 1857 abgelegten Examen für Unterrealschulen übernahm er 1858 eine Supplementenstelle an der israelitischen Hauptschule zu Fünfkirchen in Ungarn. Bereits ein Jahr später befand sich Kulke aber in Wien, um sich völlig der literarischen Laufbahn zu widmen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass das geistige Wien zwischen 1880 und 1914 und sein einzigartiges kulturelles Niveau undenkbar sind ohne den Anteil, den das jüdische Bürgertum als innovatives, produktives und promovierendes Element daran genommen hat (Schütz). Kulke war einer der in Mähren geborenen Juden, dem die veränderten Bedingungen der jüdischen Existenz, d.h. die Ghettoauflösung und Aufhebung des Familiantengesetzes im Revolutionsjahr 1848 und die darauffolgende Möglichkeit der freien Bewegung (nicht nur) im Rahmen der Habsburgermonarchie den Umzug nach Wien und damit auch die schriftstellerische Tätigkeit ermöglichten. Eduard Kulke war ein vielseitig interessierter Mensch, wovon vor allem die Anzahl seiner schriftlichen Beiträge in verschiedenen Bereichen der Wissenschaften und Kunst zeugt. Nach eigener Aussage lag seine erste, erheblich größere Begabung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Ernst Mach, der Kulke bereits im Jahre 1863 in Wien kennengelernt hat, berichtet von Kulke, dass er ein eifriger und nicht bloß passiver Leser der Darwinschen Schriften war. Während des Studiums der Musiktheorie fiel Kulke der Gedanke ein, ob sich die durch die Lehre Darwins bekannt gewordene Methode nicht etwa auf die Musik und vor allem auf die historische Entwicklung der Melodie anwenden ließe. Mach betont zugleich, dass er [Kulke] es nie versäumt hat, den um Kulke im Cafe Griensteindl geschlossenen Physiker und Philosophen-Kreis zu besuchen. Ernst Mach hat ihn auch zur Veröffentlichung einer kleinen Schrift Über die Umbildung der Melodie (1884) ermutigt. Eine Reihe von Kulkes Briefen aus den achtziger Jahren verweist auch auf die Vorträge, die Kulke wiederholt im Wissenschaftlichen Club in Wien gehalten hat.
Mit Kulkes naturwissenschaftlichen Ausrichtung sind also auch seine ästhetischen Studien zu sehen, die er bereits in den sechziger Jahren in verschiedenen Wiener Periodika veröffentlicht hat, wie zum Beispiel die Studien Tolstoi und Ihering, Über den Widerstreit der Meinungen und Über die Wirkung des Schönen. Eine synthetische Darstellung seiner langjährigen Beschäftigung mit ästhetischen und philosophischen Fragen bildet sein erst nach seinem Tode erschienenes Buch Kritik der Philosophie des Schönen (1906). Die Tatsache, dass der Geschmack nicht bei allen derselbe ist, und Kants Aussage, dass das Schöne kein Objekt der Erkenntnis sei, gab für Kulkes Empfindung den allerwichtigsten Aufschluss. Kulke arbeitete mit den Methoden der Naturwissenschaften, bekannte sich zur Toleranz in Kunstdingen und kam zuletzt zur Ablehnung des Majoritätsprinzips in Sachen des Kunstgeschmacks und zur „Gleichberechtigung der Empfindungen“.
Als Kulkes Hauptberuf wird jedoch oft die Journalistik bzw. die Musikkritik angegeben, was mit dem Zustrom von Juden in den Berufsstand des Journalisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem aus gesellschaftlichen-sozialen Gründen zusammenhängt. Kulkes journalistische Tätigkeit hat ihn in vielfache persönliche Berührung mit Richard Wagner, Franz Liszt, Peter Cornelius, Anton Bruckner, den Mitgliedern der Wiener Hofoper und anderen Künstlern gebracht, wovon auch die große Anzahl der Adressaten von Kulkes Briefen zeugt. Seine musikalischen Beiträge und literarischen Feuilletons schrieb Kulke hauptsächlich für belletristische und wissenschaftliche Zeitschriften. Namentlich arbeitete er als Musikreferent, zuerst für das Fremden-Blatt (1865-1882), für das klerikal-konservative Hauptorgan [Wiener] Vaterland und für die Wiener Signale; Kulke war auch Mitglied des Journalisten- und Schriftstellervereines Concordia. Wegen seinen frühen publizistischen Arbeiten wurde Kulke als ein glühender Verehrer Wagners bezeichnet; Kulkes Bücher Richard Wagner, seine Anhänger und seine Gegner (1884) und Richard Wagner und Friedrich Nietzsche (1890) bedeuten eine der ersten komplexen Rezeptionen von Wagners und Nietzsches Frühwerk.
Für Kulkes literarische Laufbahn scheint jedoch seine Freundschaft mit Friedrich Hebbel entscheidend zu sein; jedenfalls hat ihm Hebbel die Türe zu verschiedenen Schriftstellern (L.A. Frankl, L. Kompert u. a.), Herausgebern und Verlegern (J. Campe, A. Strodtmann) geöffnet. Spätestens seit 1861 steht Kulke mit dem bewunderten Dichter in regelmäßigem persönlichen und brieflichen Verkehr. Neben Briefen geben auch Kulkes tagebuchartige Notizen Bescheid über fast tägliche Besuche in Hebbels Haus oder Spaziergänge im Wiener Augarten, und damit verbundene literarische Auseinandersetzungen, sowie Diskussionen über die gegenwärtigen österreichischen Zustände. Kulke setzte dem bewunderten Dichter ein literarisches Denkmal mit Erinnerungen an Friedrich Hebbel (1878) sowie mit dem in den Illustrierten Monatsheften für die gesammten Interessen des Judentums publizierten Artikel Einiges über Hebbel, den Dichter der 'Judith‘ (1865). Kulke sollte auch Hebbels Fragment Moloch fertigschreiben.
Kulke muss sich während der Wiener Zeit in einer schwierigen finanziellen Lage befunden haben. Ernst Mach berichtet in Zusammenhang mit Kulkes Posse Der neunte Mai (1873), in welcher eine Episode aus dem „Krach“ von 1873 behandelt wurde, dass Kulke durch den 'Krach' den größten Teil seiner Habe einbüßte, die ihm ein leidlich behagliches Auskommen gesichert hatte. Von materiellen Schwierigkeiten zeugt auch die schnelle Produktion verschiedener Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und jüdischer wie auch nichtjüdischer Erzählungen. In seinen Notizen sind auch Einträge über Gelegenheitsgedichte auf Bestellung sowie genaue Summen von erhaltenen Honoraren oder von Ausleihungen zu finden. Die Klagen über den unbefriedigenden Zustand dem erfolgreicheren, in den siebziger Jahren bereits allgemein bekannten Autor von Ghettogeschichten Leopold Kompert gegenüber ist in mehreren Kulkes Eintragungen in den Notizen zu finden.
Kulkes erste Beschäftigung mit dem Genre der Ghettogeschichte ist bereits in die sechziger Jahre zurückzuführen, wovon eine in den Notizen gemachte Aufstellung seiner vor dem Jahre 1866 verfassten Ghettogeschichten zeugt. Die Erstveröffentlichungen dieser Erzählungen, die in späteren Ausgaben herausgegeben wurden, wurden in jüdischen Periodika wie „Allgemeine Zeitung des Judentums“, „Illustrierte Monatshefte für die gesamten Interessen des Judentums“ und „Wiener Jahrbuch für Israeliten“ abgedruckt. Weitere Texte stehen uns dann nur in der Werkausgabe aus den Jahren 1905-1907 zur Verfügung. Kulke selbst kümmerte sich nämlich bereits zu Lebzeiten um ‘das Überleben’ seiner Ghettogeschichten, indem er seinen Freund Friedrich Salomo Krauss um die Herausgabe gebeten hatte. Nach Kulkes Tod im März 1897 machte sich Krauss wirklich an die Herausgabe der Texte; begann aber mit dem nachgelassenen Renaissance - Roman Um holder Frauen Gunst! (1905), als nächstes erschien Kulkes Kritik der Philosophie des Schönen (1906) und im Jahre 1907 folgten fünf Bände Erzählenden Schriften, ein sechster wurde mit Inhaltsangabe angekündigt und weitere sechs in Aussicht gestellt. Es handelt sich jedoch nur um eine Auswahl von 68 Erzählungen jüdischen wie nichtjüdischen Inhalts und die Edition brach aus ungeklärten Gründen 1907 mit dem fünften Bande ab. Kulkes Ghettogeschichten wurden allenfalls in der Beziehung zu dem berühmtesten böhmischen deutschsprachigen Ghettopoeten Leopold Kompert gewertet. Auch wenn die gegenseitige freundschaftliche Beziehung durch eine Tatsache gestört zu sein scheint, nämlich Komperts Weigerung, Kulke auch öffentlich als ‘Kollegen’ auf dem Gebiet der Ghettogeschichte anzuerkennen, sah Kompert ihre Übereinstimmung und gemeinsame Aufgabe in „jeder in seiner Art die Lösung jenes wunderbaren Rätsels, das wir die jüdische Volkseele nennen, zu versuchen.” Tatsächlich können wir mit Hilfe der Ghettogeschichten in den familiären Bereich und die Atmosphäre der traditionellen jüdischen Lebensweise, jüdische Vergangenheit und Gegenwart eindringen, sowie Problemfelder wie Auflösung der traditionellen jüdischen Lebenswelten auf der einen Seite oder Bewahrung jüdischer Identität in der Zeit der jüdischen Assimilation und Anpassung an die christlich-bürgerliche Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite betrachten und reflektieren. So hat Kulke in seinen Ghettogeschichten eine ‚erzählte oder erinnerte Wirklichkeit‘ beschrieben, wovon die Zeit der Handlung (meistens die Vormärzzeit) sowie die Problematisierung der historischen Bedingungen, denen die Juden im Habsburgerreich der Vormärzzeit ausgesetzt waren, zeugen. Kulkes Ghettogeschichten sind eindeutig der realistisch-historischen Erzählliteratur verpflichtet und damit von der ersten Generation der Ghettoschriftsteller zu trennen, die noch die bekanntesten Sagen- und Legendenstoffe aufgegriffen haben. Die möglichen autobiographischen Elemente (mährischer Schauplatz, Vorliebe der Männergestalten für Naturwissenschaften, die Mütter als Schillerverehrerinnen) sind in den fiktionalen Teil des Werkes übergangslos integriert. Ähnlich werden auch nicht ausschließlich nur die schöneren und oft idealisierten Seiten spezifisch jüdischen Lebens wie z.B. das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie und in der Gasse geschildert. Die männlichen Gestalten, die nach dem Abschluss des Studiums aus Wien zurück ins mährische Ghetto kommen, können sich wegen der Beschränktheit der Umstände lange nicht einleben; die Frauengestalten, die die Trägerinnen der Aufklärungsgedanken und einsetzenden Emanzipation verkörpern, geraten oft in den unlösbaren Konflikt mit der traditionellen mährischen Ghettogemeinschaft.
Neben Kulkes journalistischen, musikkritischen und philosophischen Arbeiten und Ghettoerzählungen werden auch seine in den siebziger Jahren entstandenen dramatischen Werke Don Perez (1873) und Korah (1873) als dramatische Versuche gewertet. Diese zwei größeren Dramen sind aber nicht die einzigen Ergebnisse von Kulkes Interesse an dramatischen Bearbeitungen. In Notizen finden sich sowohl Bemerkungen über einen neuen dramatischen Versuch Welcher von beiden oder Die Wette als auch Ansätze theoretischer Auseinandersetzungen mit den Shakespeare'schen und Kleist'schen Tragödien.
Kulkes Tod erfolgte nach längerer Krankheit am 20. März 1897 in Wien. Beschränken wir uns in der Bewertung von Kulkes Eigenschaften und Persönlichkeit auf die Berichte und Aussagen von seinen Zeitgenossen, stellen wir fest, dass Kulke meistens als ‘gutmütiger Idealist’ bezeichnet wird. Kulke selbst nannte sich in einem Gedicht "einen Dulder und Leidens-Überwinder", was auch mit den Aussagen in seinen frühen, nie publizierten Gedichten korrespondiert. Der Herausgeber von Kulkes Werk, Friedrich Salomo Krauss, sieht jedoch die von der Naturanlage bedingte Tragik des Lebens von Eduard Kulke im Zusammenhang mit seiner Neigung zur Homosexualität. Was Kulkes privates Leben betrifft, sind wir aber nur auf fragmentarische Angaben über eine gewisse Caroline sowie Kulkes Sohn Fritzi in den Notizen und Tagebuch angewiesen. Die Erhellung der privaten Angelegenheiten wie auch eingehende Beschäftigung mit dem Werk des Schriftstellers, Publizisten, Ästhetikers und Naturwissenschaftler Eduard Kulkes sei der weiteren wissenschaftlichen Forschung überlassen. (Petra Faiferová, Olmütz)
Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl):
Am Urquell. Hamburg
Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft. Leipzig
Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ)
Die Neuzeit: Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen des Judenthums. Redigiert von S. Szántó.
Illustrierte Monatshefte für die gesamten Interessen des Judentums. Hg. von Arnold Hilberg, I. Band (1865). Wien. A. Hilberg, II.Band October 1865-März 1866
Wiener Jahrbuch für Israeliten
Monatsblätter des wissenschaftlichen Club in Wien.
Oesterreichische Wochenschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums
Der Urquel. Monatschschrift für Volkskunde. E.J. Brill. Leiden
Nachlass:
Die Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.
- ein unveröffentlichtes Tagebuch (11. November 1870 bis 11. Jänner 1871)
- tagebuchartige Notizen (10. September 1862 bis 24. August 1870)
- Versuch vermischter Gedichte, III. Band
- Briefe von und an Eduard Kulke.
Die Autographensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien.
- sechs Briefe von Eduard Kulke