Dr. Irmfried Benesch, der unter dem Künstlernamen Fridolin Aichner publizierte, kam am 5. August 1912 in Aichen bei Mährisch-Neustadt als Sohn eines Lehrers zur Welt. Es mag die „Verbundenheit mit seinem Geburtsort gewesen sein, daß er später für sein literarisches Schaffen das Pseudonym Aichner wählte“ (R. Hemmerle, Sudetendeutscher Kalender 1997, S.51). Aichner ist in Schönhengstgau aufgewachsen, hat die Volksschule in Petersdorf und in Rehsdorf bei Mährisch Trübau besucht, dann das Gymnasium in Mährisch Trübau, das er mit dem im Jahre 1931 abgelegten Abitur beendet hat. Anschließend studierte er Germanistik und Slawistik an der Deutschen Universität in Prag, in den Jahren 1933-1936 sammelte er bei persönlichen Abfragen in 125 Ortschaften des Schönhengstgaues Materialien für seine Dissertation und promovierte im Jahre 1936 zum Dr. phil. (Dissertation: Lautgeographie der Schönhengster Mundarten). Nach Studienabschluss hat er als Gymnasialprofessor in Neutitschein und in Mährisch Trübau gewirkt, bis seine Lehrertätigkeit im Jahre 1939 durch den Krieg unterbrochen wurde. Aichner wurde zum Militär einberufen. Nach sechs Jahren Kriegsdienst und drei Jahren Gefangenschaft war er zunächst arbeitslos, dann hatte er mehrere Berufe (Rohrbinder, Bauhilfsarbeiter, Versicherungsangestellter, Nachhilfelehrer, Redakteur und Mitarbeiter bei der eben gegründeten Sudetendeutschen Zeitung); im Jahre 1952 ist er nach Goch bei Düsselddorf (Niederrhein) übersiedelt, wo er als Studiendirektor tätig war. Er hat viele Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele und Laienspiele verfasst und war Mitarbeiter bei mehreren Zeitschriften und Jahrbüchern. Weniger bekannt sind Aichners Kinderbücher und Übersetzungen aus dem Griechischen. Aichner war Mitglied der „Künstlergilde“ und wurde oftmals für seine Leistung ausgezeichnet: Förderpreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1960), Schönhengster Kulturpreis (1966), Ostdeutsche Kulturpreis (1977). Er starb am 13. April 1987.
Aichners Erzählungen greifen Themen wie Kindheit und Erlebnisse aus der Jugendzeit, Liebe und Tod, Krieg, Gefangenschaft und Heimat auf, spielen sich oft im böhmisch-mährischen Raum ab und haben vorwiegend autobiographischen Charakter. So ist es auch im Buch Und die Welt war voller Wunder (1959), in dem der Lehrersohn seine Erlebnisse aus der Kindheit beschreibt. Man sieht den 4-jährigen Buben bei seinem ersten misslungenen Umgang mit Geld, man kann die Freude eines 6-Jährigen über ein Taschenmesser und seine Enttäuschung, wenn dessen Klinge kaputt geht, mitempfinden, man folgt dem kleinen Helden bei seinen „Welt“-Entdeckungen, ersten längeren Spaziergängen, Liebeserfahrungen („Endlich lösten sich meine Tränen, dicke, verzweifelte Jugendtränen; denn ich wußte, daß ich dem anderen Geschlecht unwiderruflich und endgültig erlegen war.“– S. 33), bei seiner ersten selbstständigen Zugfahrt, Freundschaften, vielen Lumpereien und Schwänken, man begleitet ihn bis zu seiner Gymnasialzeit und seinen Erlebnissen an der Front in Russland.
Diese lieblichen, humoristischen und heiteren Erzählungen aus dem „Tagebuch der Bubenseele“ (S. 34) spielen im Schönhengstgau zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Nach Rudolf Hemmerle besaß Fridolin Aichner eine „humoristische Ader“ (Sudetendeutscher Kalender 1997, S. 52), Margarete Kubelka sah in ihm einen „Anwalt der Liebe und der Menschlichkeit“ (in: Sudetenland, 1977, S. 229). Zwei weitere Erzählungen aus Aichners Kinderzeit, Vorahnungen und Die Beerdigung, wurden im Jahre 1978 herausgegeben. Die erste Geschichte handelt vom glücklichen Sommerspiel der sechsjährigen Freunde, bei dem vor lauter Freude vergessen wird, auf ein dreijähriges Mädchen mit dem Beinamen Lilofee aufzupassen, das in Folge dessen ertrinkt. Die zweite Geschichte erzählt vom Untergang des rein deutschen nordmährischen Ortes Rehsdorf im Jahr 1945.
Das schmale Bändchen Diaspora (1980) enthält drei kurze Erzählungen. Die gleichnamige Erzählung Diaspora dreht sich um das Schicksal der mährischen Familie Hantel; wieder wird das Thema des Heimatverlustes und der Zurechtfindung im neuen Zuhause angesprochen. Diesmal wird der alten Heimat im Schönhengster Unterland (Nordmähren) die neue Wahlheimat im schwäbischen Städtchen Diaspora gegenübergestellt. Familie Hantl kann sich aber der neuen Heimat und des Friedens nicht erfreuen. Alle leben in der Hoffnung, dass sie einmal wieder vollständig zusammenkommen werden, und auch der jüngste, bis dahin als vermisst geltende, Sohn Karl, den Weg nach Diaspora finden wird. Der inzwischen verheiratete Karl lebt in Thüringen, wo er die Familie eines Freundes aus der russischen Gefangenschaft aufsuchte, als ihm „sein Herkunftsland, die inzwischen neu entstandene Tschechei, versperrt blieb“ (S. 5). Karl gelingt es, seine alte Familie zu finden, doch es bleibt nur beim Briefkontakt, da der Besuch wegen der neuen, schicksalhaften Realität - der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland - unmöglich bleibt. Dieses Buch enthält noch zwei weitere Erzählungen: Die Kornitzer Glocke und Der Bäckerjunge.
Im Jahre 1971 ist das Werk In einem Stall bei Ratibor erschienen. Die in dem Band enthaltenen Geschichten spielen alle am 24. Dezember, doch in unterschiedlichen Jahren und immer an einem anderen Ort. Trotzdem sind sie nicht voneinander zu trennen, da sie alle vom Lebensschicksal einer deutschen, in Oberschlesien lebenden Familie erzählen. Der Deutsche Paul Duda aus Ratibor wurde von den Pilatusleuten (damit sind die russischen Soldaten gemeint) im Jahre 1945 zusammengeschlagen und verschleppt, seine Frau gebar auf der Flucht vorzeitig ihr Kind in einem Stall und starb. Eine Polin rettete den neugeborenen Jungen und brachte ihn zu der kinderlosen Witwe Anna Schmieder, der Schwester von Duda. Sie zog das Kind namens Johannes in der „neuen Polakei, die ihnen keine Heimat mehr [war]“ (S. 9), auf, bis ihre Brüder ihr das nötige Geld für die Ausreisebewilligung im Jahre 1970 schicken konnten und sie mit dem Kind zu ihnen nach Oberhausen umziehen konnte.
Aichners Werk Auf verwehter Spur (München, Verlag Heimatwerk, 1966) ist ein „historischer“ bzw. ein „sudetendeutscher“ Roman. Der Ich-Erzähler Manfred Schlucht, Reporter einer Illustrierten, ist an dem menschlichen Schicksal eines dänischen Mädchens interessiert und wird von seinen Nachforschungen bis in die Tschechoslowakei geführt. Da bleibt ihm noch Zeit für einen kurzen Reisebericht. Da die mährischen Straßen „in beklagenswertem Zustand“ (S. 5) sind und er eine Autopanne hat, erfährt er von der Harmsdorfer Geschichte. Zwei Jahre lang fährt Manfred Schlucht durch verschiedene Städte („nicht nur Europas“- S. 5), um die Überlebenden des mährischen Ortes Harmsdorf ausfindig zu machen, sie zu interviewen und das Erzählte zu überprüfen. Das ganze Buch besteht aus den Ich-Aussagen der damaligen Harmsdorfer Bewohner, der vertriebenen Sudetendeutschen, die drei verschiedenen Generationen angehören, und Ausschnitten aus dem Tagebuch des Herrn Smital (des damaligen Harmsdorfer Lehrers), datiert vom 17. März 1917 bis zur Besetzung der ČSR durch deutsche Soldaten. Die Geschichte entwickelt sich zu einem ineinander geflochtenen Ganzen, jede Begebenheit steht unter dem Prinzip Ursache-Wirkung, denn Druck erzeugt nur Druck.
Der Roman ist zweigeteilt. Im ersten Teil steht die Liebesgeschichte vom böhmischen Kindermädchen Mara, Tochter eines deutschen Vaters und einer tschechischen Mutter, die beim Lehrer Smital im Dienste war, und Franz Fiebiger, einem jungen deutschen Mann im Vordergrund. An dem Lebensschicksal dieser beiden werden die tschechisch–deutschen Beziehungen während des Ersten Weltkrieges erklärt und im Laufe der Geschichte weiter verfolgt bis zu den Ereignissen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Tod der beiden Hauptgestalten.
Mara, von den Harmsdorfern unschön „Böhmakin“ (S. 57) genannt, war eine „Ausgestoßene“ (S. 105). Sie war die einzige Tschechin im sonst rein deutschen Dorf und deswegen wurde sie Verfolgungen ausgesetzt, weil sie immer als eine Fremde empfunden und sogar von manchen als tschechische „Spionin“ (S. 144) verdächtigt wurde. Die abergläubischen deutschen Dorfbewohner glauben blind den Hass verbreitenden Lügen mehr als der Wahrheit und sehen nicht, dass ihnen im eigenen Kreis geschadet wird, dass sie von den eigenen Leuten betrogen werden. Niemand ahnt, mit welchen Schreckensereignissen die deutsch-tschechische Feindlichkeit enden wird.
Franz Fiebiger, von einem Matrosentraum besessen, ist nach einer misslungenen Operation an den Stimmbändern, der er sich vor dem Eintritt zur deutschen Marine unterziehen musste, stumm heimgekehrt („…er hat das Glück der Sprache auf den Altar des Vaterlandes gelegt.“- S. 113). Von den Ortsbewohnern wird er als eine vertrauensvolle Persönlichkeit angesehen, bekommt dann im Laufe der Geschichte verantwortungsvolle Aufgaben. Franz hat ein Berliner Kind zu sich genommen, als dessen Eltern bei den Luftangriffen ums Leben kamen. Franz und Mara sterben am gleichen Tag, als die Russen und die tschechischen Soldaten ins Dorf kommen (1945). Ihre Liebe bleibt unerfüllt.
Fridolin Aichner war Germanist und Slawist und besaß gute Kenntnisse der geschichtlichen Fakten. Sein Werk ist von „fundiertem historischem Wissen“ geprägt (M. Kubelka. In: Sudetenland, 1972, S. 131), man findet hier die Gesamtheit der historischen Missetaten aufgezählt, an denen ein „kraftvolles Land verbluten mußte“ (ebd., S. 131). Die Romanschilderung beginnt im vierten Kriegsjahr (1917), beschreibt den Gegensatz der Tschechen und Deutschen in der Zeit des Untergangs der Monarchie, den gegenseitigen Hass und die Völkertragödie und erwähnt die Gründung der Schutzverbände und Kulturvereine (Auf verwehter Spur, S. 98). Im Vordergrund bleibt die damals aktuelle Frage nach der nationalen Behauptung. Der erste Buchteil endet im Jahre 1918 mit dem Kriegsende. Dann kommt es zu einer kleinen zeitlichen Verschiebung; der zweite Teil ist von breiterem geschichtlichem Umfang (1918-1945). Er beginnt mit der Schilderung der Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg: das Eindringen der Tschechen in deutsche Städte, die allmähliche Tschechisierung der ehemals rein deutschen Bevölkerung durch den systematischen Abbau des deutschen Schulwesens und die Reduzierung der deutschen Schulen in den Städten, in denen die Deutschen die Mehrheit verloren haben. Die deutsche Sprache wird im Amtsgebrauch verboten.
Aichner kritisiert auch die Politik von Edvard Beneš und nennt ihn einen „arroganten Fußballer“ (S. 206), kommentiert die Leistungen des tschechischen Schuhfabrikanten Thomas Baťa (S. 254), übt scharfe Kritik an dem Münchner Abkommen vom Jahre 1938, berichtet vom Anschluss von der Ostmark („…als die tschechischen Beamten aus den Städten meiner Heimat abkratzen mußten…“- S. 208) und vom Einmarsch der deutschen Soldaten in die Sudetengebiete, die die Tschechen aufgeben mussten. Der Roman endet mit der Aussiedlung aus der Tschechoslowakei im Jahre 1946 („Jeder trug sein Stückchen Heimat in seinem Fluchtgepäck.“ - S. 188).
Aichner gelingt es auch über die geschichtlichen Paradoxien zu berichten: Die erste betrifft das Schicksal von Professor Engelmann, vom „aufrechten Deutschen“ (S. 22), von einem Mann mit „vaterländischem Odem“ (S. 31), einem „glühenden Verehrer des Kaiserhauses und seiner glorreichen Geschichte…“ (S. 31), der zuerst das gefährliche Vordringen der Slawen in deutsche Städte mit „Unwohl“ beobachtet (S. 75), sich über den Masaryk-Artikel aufregt und die Tatsache, dass die Tschechen als „billige Arbeitskraft“ (S. 125) in deutsche Städte geholt werden, kritisiert. Seine Vorahnungen, dass sich die Tschechen nach 1918 in den deutschen „Orten breit machen werden“, zeigen sich als berechtigt. Doch gerade dieser Prof. Engelmann, der alles für den Empfang der „Befreier“ aus Deutschland vorbereitet hat, muss im Jahre 1938 vor den deutschen Soldaten fliehen, sonst wäre er als jüdischer Bürger „entfernt“ worden. Ein weiteres Beispiel der Paradoxie betrifft die Schwan-Statue, der Tschechen den Kopf abschlagen, obwohl sie aus Liebe zu einer Tschechin von einem deutschen Jungen gemeißelt wurde.
Das Buch ist ein höchst spannendes historisches Dokument. Aichner ist es gelungen, die historischen Ereignisse anhand menschlicher Schicksale und geschichtlicher Paradoxien dem Leser auf eine sehr fesselnde Weise näherzubringen. Das Buch ist lebhaft, dynamisch und berichtet in „liebevollem Detail“ sowie „mit bewundernswerter Objektivität“ (M. Kubelka. In: Sudetenland, 1972, S. 131). Die Berichte wirken sehr authentisch, die Wahrhaftigkeit des Erzählten wird immer wieder von anderen Berichterstattern bestätigt, man erfährt über das Geschehene stückchenweise, oft sind Andeutungen und Vorahnungen vorhanden, die nur kurz anklingen und gleich danach kommt man wieder auf die Schilderung der beschriebenen Begebenheit zurück. Wenn man sich an manche Ereignisse, zu denen es damals in „diesem unglückseligen Vielvölkerstaat“ (Auf verwehter Spur, S. 249) kam, nicht mehr genau erinnern kann oder kleine Abweichungen im Erzählten der Augenzeugen vorkommen, können diese mit dem Argument des Älterwerdens erklärt werden (ebd., S. 165). Glaubwürdigkeit verleihen dem Roman auch die enthaltenen spezifischen Sprachausdrücke (tschechische Sätze, Sprichwörter…).
Bedenkt man, dass dieser Roman schon im Jahre 1966 herausgegeben wurde, enthält er für die damalige Zeit viele Anspielungen auf die aktuelle DDR-Politik (System mit behördlichen Spitzeleien und Abhörpraktiken; „Ihr schwimmt ja recht munter in Eurem westlichen Fett“ (S. 31); „…und ich weiß nicht, ob sich eine Flucht aus diesem entrechteten Arbeiterparadies, daß sich DDR nennt, überhaupt noch lohnt…“ - S. 198). Aichner wagt es auch, die allgemeine Weltpolitik zu kritisieren: „ein demokratiefeindliches Verhalten, das gab es damals wie heute…“ (S. 249). Wegen dieser politischen Anspielungen ist der Roman ebenfalls als ein zeitkritisches Werk anzusehen.
Der Roman Auf verwehter Spur ist ein „historisches Kolossalgemälde der Sudetenländer“ (Sudetenland, 1977, S. 229) und für ihn treffen die Worte über Aichners allgemeines Schaffen von M. Kubelka genau zu: „Aichners Werk […] lebt aus der Spannung und Polarität scheinbar unvereinbarer Gegensätze“ (Sudetenland, 1977, S. 229). Die unglückliche Lovestory von Franz und Mara, wird von unterschiedlich gebildeten und unterschiedlich alten Berichterstattern erzählt. Für die dritte Generation (1949 geboren) ist die heikle tschechisch-deutsche Geschichte nur die Überlieferung einer Überlieferung - eine Story, ein Märchen („was soll mir noch Harmsdorf, es ist ein Märchen für mich“ – Auf verwehter Spur, S. 54), sie empfindet die „Gruselgeschichten aus Harmsdorf“ (S. 59) als Belastung.
Der Roman endet für die Sudetendeutschen doch irgendwie befriedigend: „Harmsdorf ging unter, aber seine Menschen leben weiter, irgendwo zwischen Rio und dem Ural…“ (S. 322). Die Angehörigen der älteren Generation nehmen an den in Deutschland organisierten Heimattreffen fleißig teil und leben weiter in der inneren Zugehörigkeit zu der alten Heimat.
Štěpánka Kuříková