Karl Norbert Mrasek


Unvollendet
Geburtsdaten
09.05.1892
Brünn
Sterbedaten
26.04.1985
Darmstadt

Verbindungen
Marie von Ebner-Eschenbach
Ferdinand von Saar
Richard Schaukal von
Reinhard Pozorny
Hugo von Hofmannsthal

Karl Norbert Mrasek entstammte einer alteingesessenen Beamtenfamilie Brünns; sein Lebensweg schien in dieser Tradition vorgegeben zu sein. Nach dem Besuch des Gymnasiums - heute beherbergt das Gebäude die Janacek-Akademie für Musik - bezog er die Universität in Wien, um Rechtswissenschaften zu studieren, doch zwang ihn der frühe Tod des Vaters, das Studium abzubrechen und eine Beamtenstelle in Brünn anzutreten, in der er sich so vortrefflich bewährte, dass er auch ohne akademischem Studium in den höheren Dienst übernommen wurde und als Direktionsrat 1945 aus dem Amt durch die Vertreibung schied. Früh trat er Erzählungen, Histörchen, mit Vorträgen und Essays an die Öffentlichkeit; 1908 erschien in einer Wiener Tageszeitung seine erste Publikation, 1909 folgte - ebenfalls in dieser Zeitung  - die erste Erzählung, die 1916 in dem Novellenband Sankt Georg mit dem Drachen als Buchveröffentlichung erschien. Über die Jugendjahre, die väterliche Ablehnung der Schriftstellerei, die sich in Zustimmung wandelte, den Weg zum Literaten, über die ersten Erfolge und seine Weltsicht und Kulturauffassung hat Mrasek 1930, nachdem er 1928 den "Mährischen Dichterpreis" erhalten hatte, in den „Deutschmährischen Blättern - Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst in Brünn“ (Beilage zum Tagesboten Nr. 21 v. 13. 9. 1930) berichtet:

 

Mein Urahne war bürgerlicher Kunst- und Pfeifenschneider in der "Gaißgassen in Buchbinder Wolfischen Hauße". Mein Großvater, Metteur des Tagesboten, hatte sich der schwarzen Kunst verschrieben, seine Stiefschwester Adele, unter dem Künstlernamen Peroni, der Bühne; sie galt als die beste Raimund-Darstellerin ihrer Zeit, die am Wiener Josephstädter-Theater und am Berliner Königstädter-Theater Triumphe feierte [...]. Sie war mit dem Humoristen Adolf Glaßbrenner (Pseudonym: Brennglas), dem "Vater des Berliner Witzes", verheiratet, dessen boshafte Feder den beiden schwere Verfolgung, ja Verbannung der Zensur- und Polizeigewalt des Vormärz eintrug. Mein Vater war Direktor der staatlichen Pensionsanstalt.

Auch ich kam in Brünn zur Welt, im Jahre 1892, just am 9. Mai, dem Todestag Schillers. Die wunderlichen Gegensätze verträumter Mittelalterromantik und moderner Prunksucht dieser Stadt prägten unbewußt... Meine Jugend war einsam und wohlbehütet. Die äußere Welt war ängstlich von mir ferngehalten; desto inbrünstiger lebte ich mich innerlich aus. Ich las, ja ich fraß Bücher in mich hinein, gute und schlechte, und lebte in Phantasien und Träumereien. Schöpferische Anregung boten viele Reisen, die ich mit den Eltern unternehmen durfte. Begreiflich, daß überquellende Gefühle der Form zustrebten, nach Ausdruck rangen, daß ich schon als Gymnasiast [...] "schriftstellerte". Meinem Deutschprofessor [...] waren meine Aufsätze zu "journalistisch", er warnte, ich würde mir den Stil "verludern". Also wurde mir die Schreiberei verboten. Natürlich schrieb ich heimlich weiter. [...]

 

An der Universität Wien studierte ich Jus. Der Zauber der alten Donaustadt, dem sich wohl kaum ein junger Schwarmgeist entziehen kann, brachte auch mir eine Fülle neuer Anregungen und Erlebnisse. Vor allem war es die Stadt der Künste, die mich anzog; weit mehr als bei den trockenen Vorlesungen der Jurisprudenz trieb ich mich in den Gefilden der Kunstakademien mit scheuer Ehrfurcht und sehnsüchtiger Begeisterung umher, lernte das zwanglose Leben und Treiben des Völkleins der angehenden Maler und Mimen kennen und fühlte mich bald mehr als einer von ihnen, denn als ehrsamer Paragraphenbeflissener. Noch vor Beendigung der Studien forderte mich das Leben in meine Heimatstadt zurück und zwang mich in des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr, die meinem Sein wohl äußerlich einen  gleichmäßigen Ablauf aufzwingt. So bin ich - hoffentlich nicht auch innerlich - Rechnungsrat geworden, tief verwurzelt in der Väterheimat, magisch angezogen von ihrer altehrwürdigen Vergangenheit, und doch immer schwerer, bitterer Wehmut voll, fortzukommen und andere Menschen, andere Umwelt zu erleben. Sonst berufsgehemmt, treibt es mich wenigstens in den Ferien in die Ferne; Deutschland mit Rhein und Elbe, Thüringen mit Weimar, Jena und Eisenach, das liebe Österreich mit den Alpen und der Wachau, die Nordmeere und die farbenglutende Adria, die Schweiz und die oberitalienischen Seen, ein Stückchen Ungarn und Polen, die mohammedanische Exotik Bosniens und der Herzegowina wurden mir nach und nach zu starken Eindrücken. [...]

 

Ich sehe die Menschen gerne so, wie ich sie wahr haben möchte, und nicht, wie sie sind. So projiziere ich mir die innere Welt meiner Phantasie aus mir heraus, stelle sie um mich und schöpfe daraus rückwirkend manch köstliches Erlebnis.

 

Lebensanschauungen sind wandelbar. Der ist wohl begnadet, der sich zu immer höherer Warte durchringt, dem die Welt immer neue, tiefere Zusammenhänge erschließt; nur muß in jedem Augenblick ein ganzer Mensch hinter ehrlicher Überzeugung stehen. Ich scheue mich nicht, zu bekennen, daß ich über manche Probleme, die ich in meinen bisherigen Arbeiten verfochten, hinaus bin. Hoffentlich wird es mir in späteren Jahren mit meiner heutigen Einstellung ebenso ergehen. Denn nur so fühlt man, dass man wird.

 

In rascher Folge erschienen in den zwanziger und dreißiger Jahren Romane, Novellen, Lyrik, Dramatisches; gleichzeitig trat Mrasek als Herausgeber, als Literatur- und Theaterkritiker und Vortragender in der "Urania" und der Volkshochschule hervor - immer blieb er der Brünner Atmosphäre der Habsburger Zeit verbunden, ein Lebensstil, der sich in Brünn über die erste Tschechoslowakische Republik, über die Okkupation der Nationalsozialisten, über die chaotischen Ereignisse von 1945 und die kommunistische Gewaltherrschaft in schönen Zeugnissen bis heute bewahrt hat und nunmehr unter der globalen Inferiorität endgültig zu schwinden droht. Mrasek blieb Brünn und Wien verbunden und kultivierte eine Lebensform, die sich grundsätzlich von der sudetendeutschen Weltsicht unterschied. Mraseks Brünn war die Sprachinsel, deren Geist durch Hugo von Hofmannsthal, dessen Vorfahren aus diesem Land wie jene ®Robert Musils stammten, durch ®Ferdinand von Saar, ®Richard von Schaukal und ®Marie von Ebner-Eschenbach geprägt blieb - es war die  Kultur einer Stadt, in der künstlerische Ereignisse, literarische Produktionen und Vorträge, Theaterpremieren und Vernissagen mehr beachtet wurden als politökonomische Events und häufig früher stattfanden als in der Hauptstadt Prag, wo sie dann - und das gilt bis heute - von der internationalen Öffentlichkeit beachtet und als erstmalig und einzigartig gefeiert wurden. Diese Brünner Atmosphäre der alten, winkeligen Gassen und lichten Parkanlagen, der Kasematten und des Theaters, des Spielbergs als staatlich militärische Festung, der geistlichen, vieltürmigen Stadt, des biederen Bürgertums und der Fabriken der Vorstädte, in der Mrasek heranwuchs und die er zunehmend mitprägte, war weniger von nationalen Verwerfungen gekennzeichnet als die in den böhmischen, besonders die sudetendeutschen Gebieten - hier in Brünn lebte man nicht, wie Robert Musil schrieb, nach dem Grundsatz des "entweder - oder", hier galt "sowohl - als auch" oder noch lieber "weder - noch". ®Karl Hans Strobl hat 1934 in der Zeitschrift „Der Ackermann aus Böhmen“ Mraseks geistige Kultur beschrieben:

 

Die Flucht in die Schönheit ist ihm Rettung; aus der lyrischen Grundstimmung seiner ersten Bücher ist er zu starkem, erzählenden Schaffen vorgedrungen, weltoffen, lebenszugewandt und nicht wehmütig anklagend ist seine Romantik, der auch ein Stück echten Humors zu eigen ist. Und mit der Zeit findet er, männlicher und reifer werdend, auch noch anderen Trost. Der Ausgleich der Widersprüche des Daseins scheint zu gelingen, die Wehmut und Sentimentalität seiner Anfänge treten zurück vor einer Vergegenständlichung seiner dichterischen Vorwürfe. Aus der lyrischen Grundstimmung der ersten Bücher schreitet Mrasek zu einem stärkeren, erzählenden Schaffen vor.

 

Die Publikationen der Jahre bis 1945 zeigen Mrasek als Erzähler, dessen Freude am Detail, an skurilen und tüchtigen Menschen, an Kunstwerken, an Musik und Geschichte und dessen differenzierte Kenntisse literarischer und künstlerischer Traditionen ihre Wurzen in der Romantik und dem Biedermeier finden.

 

Aus dieser Welt erstand der Roman Der Schönheitsucher (1923), das Ringen mit dem Alltag; hier ist ein Stück eigener Jugend und Jugendseele verborgen, die Romantik des Brünner Stadtbildes zum Hintergrund genommen. Der vorher erschienene Novellenband Sankt Georg mit dem Drachen (1916), noch aus der Studentenzeit, gab den Auftakt. Es folgt der Roman Midasgold (1923), der die Problemstellung Künstlertum wider Snobtum in Form eines Schweizer Sommeridylls abwandeln will, das Buch Norne, Skizzen zum Rätsel Schicksal (1924), der Lyrikband Vom Erleben (1924). Und wie mitunter unbewußt ein Sprung ins Extreme reizt, entstand ein realistischer Einakter Aschenglut (1922), der im Brünner Schauspielhaus zur Uraufführung gelangte und auch von der Exl-Bühne gespielt wurde. Das letzte Buch Histörchen aus dem Alten Brünn (1928) entsprang meiner Liebe zur Vergangenheit meiner Heimatstadt; historische Stoffe kommen überhaupt meinem Hang zur Romantik sehr entgegen, so in dem Böhmerwaldroman Die Säumerglocke (1932). Der - als Erstdruck in der Münchner bayerischen Staatszeitung erschienene - indische Roman Der Raub im Blick (1942) verknüpft suggestive Mystik mit realer Gegenwartswelt, der jüngste Roman Komödie in Grasgrün (1929), kürzlich im Tagesboten veröffentlicht, ist eine heitere Sommerfrischen-Satire. (Mrasek a.a.O. 1930).

 

Die Novellen Meister Inkognito (1934) bilden einen letzten Höhepunkt in Mraseks Schaffen vor der großen Wende im Brünner Leben, einer Wende, in der durch den Einmarsch von Hitlers Truppen die alten Bindungen zerstört wurden und die in die wilde Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945 eskalierte. Mrasek wurde nach Wien vertrieben, doch das vielgeliebte Wien nahm ihn nicht auf - er musste weiter ziehen und fand nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Fulda seit 1963 in Darmstadt eine neue Heimat, in der er anerkannt und beliebt aufgenommen wurde..

Auch nach 1945 schrieb Mrasek für Zeitungen und Zeitschriften - weitgehend für die der Heimatvertriebenen - las aus seinen Werken, hielt Vorträge. In diesen Jahren erschienen Brünner Humoresken (1951), Geschichten von daheim (1956), Ein Tor zu viel (1961), doch Mrasek verstand sich nicht als Stimme im Chor larmoyanter Erinnerungsdichtung - jetzt in der Fremde, erfahren durch Erfahrungen, gestaltete er seine zwei Hauptwerke: 1962 erschien der historische Roman Kein Meister fällt vom Himmel über das Leben und Wirken des fürstäbtlichen Hofmalers Emmanuel Wohlhaupter aus Brünn, der nach seiner Ausbildung in der Heimatstadt im Fuldaer Land zahlreiche Werke schuf, um zuletzt aus der Heimat die Braut und das Lebensglück zu erwerben. Der Roman ist anregend-spannend erzählt, schildert kenntnisreich und phantasievoll das Leben in Brünn im 18. Jahrhundert und den bürgerlichen Streit um den Krautmarktbrunnen, den Parnaß des Fischer von Erlach, berichtet vom Leben in der Fremde, von Not und Geborgenheit. Die persönlichen Erlebnisse der Vertreibung verstellen dem Autor jedoch den sonst so ausgeglichen-ausgleichenden Blick: Waren seine Histörchen aus dem alten Brünn durch Verständnis unterschiedlicher Kulturen charakterisiert, sie wurden ins Tschechische übersetzt und eine beliebte Lektüre aller Brünner Bürger, so finden sich nun betonte Gegensätze zwischen biederen Deutschen und haßerfüllten Tschechen, deren stechende Augen als Zeichen ihrer Friedlosigkeit erscheinen.

Im zweiten Roman Balthasar und die Bischöfe (1966) - später wiederholt unter verändertem Titel - überwindet Mrasek die nationale Enge und folgt souverän und liebevoll, kenntnisreich und differenziert dem Lebensweg des Baumeisters Balthasar Neumann aus Eger. Dieser Roman ist sicher das beste Buch Mraseks; daneben stehen die Schriften der späten Jahre Erlebtes und Erdachtes (1962), Der 13. Hochzeitstag (1963), Episoden und Burlesken (1967), Zu Ende geht das Spiel. Zwei Tage aus dem Leben einer Schauspielerin (1972). In den Gedichten Barocke Sonette (1947) und Aus innerer Schau (1956) setzen sich zunehmend persönliche, erinnernde und wehmüte Züge durch, die ihre Ursache im individuellen Geschick des Dichters haben. Leider stören in den Gedichten didaktische Elemente, ohne dass eine verdichtende Gestaltung der Sprache überzeugend gelingt: „So steht der Bau als mahnendes Symbol // das Enge, Niedrige zu überwinden, // aus eigener Kraft den Weg hinauszufinden, // auf dem der Wille Schöpfung werden soll.“ Diese Lyrik ist ein Dokument mährischer Identität, persönlicher Empfindsamkeit und weltanschaulicher Überzeugung, doch bleibt die Frage, ob Empfindsamkeit und Gesinnung Qualitätsmerkmale der Lyrik sind.

Mraseks Genre war die Erzählung, der Roman und die Kritik als gestaltender Beitrag zur Kultur einer Stadt und später zur Kultur seiner vertriebenen Landsleute, die ihn ehrten und verehrten. Als Kulturreferent der Sudetendeutschen Landsmannschaft trat er neben und mit seinem Brünner Freund Reinhard Pozorny für die geistigen Traditionen der Deutschen aus den böhmischen Ländern ein, wirkte als Kreiskulturreferent der Landsmannschaft in Darmstadt, als Landesobmann - dann als dessen Stellvertreter - in der BRUNA, dem Heimatverband der vertriebenen Deutschen aus Brünn, und als aktives Mitglied der Eßlinger Künstlergilde. Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet ("Kulturpreis der BRUNA", 1967; "Anerkennungspreis für Literatur des sudetendeutschen Kulturpreises", 1967; "Johann-Friedrich-Merck-Ehrung", 1967; "Bürgerehrung der Stadt Darmstadt" und "Literaturpreis des Vertriebenen-Ministeriums") fand sein literarisches Schaffen ebenso Anerkennung wie seine lautere Persönlichkeit und sein vielfältiger Einsatz für Mitbürger und Kultur, der erst geringer wurde, als ein schweres Augenleiden seine Aktivitäten einschränkte. Am 26. April 1985 ist Mrasek hochbetagt in Darmstadt gestorben.

Karl Norbert Mrasek gehört zu jenen Schriftstellern, die zu Lebzeiten eine treue Lesergemeinde um sich scharen, zu jenen Schriftstellern, die durch ihre literarischen Gestaltungen aber auch durch ihr Leben und Wirken als Vorbild und Freund angenommen werden und deren Nachruhm verlischt, wenn sie aus dem Kreis der Lebenden treten. Mraseks Schaffen war stark, zu stark vielleicht auf seine Heimatstadt bezogen, zu wenig gelang es ihm (-vielleicht wollte er gar nicht-) sprachlich, inhaltlich oder gestaltend die traditionellen Strukturen und Bindungen durchbrechen. ®Josef Mühlberger hat 1981 in seiner „Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900 – 1939“ sehr zutreffend auf diese Problematik verwiesen (S. 160): „Karl Norbert Mrasek war [...] eine spätösterreichische Mischung. Er schrieb viele Werke mit bedeutsamen Stoffen, im Grunde aber ist er Brünner, dessen Taschen mit Brünner Historie und Geschichte vollgestopft waren. Seine Histörchen aus Brünn (1928) setzte er nach der Vertreibung in einigen Büchern fort, die die Erinnerung an die alte Heimat wach halten.“  Die Histörchen aus dem alten Brünn sind auch die einzige Veröffentlichung Mraseks, die im Handbuch „Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900 – 1939“ (a. a. O., S. 67) aufgenommen und nachgewiesen wurde. Sekundärliteratur - außer in Heimatschriften - ist nicht bekannt; die Literaturwissenschaft hat ihn nicht beachtet, in den Lesebüchern der Schulen fehlt er. Seine Wirkung bleibt auf Zeitgenossen und einige wenige Liebhaber mährischer Dichtung aus Brünn beschränkt.

Dieter Krywalski, Geretsried