Es ist das Resümee des fast fünfzigjährigen literarischen Schaffens von Hedwig Steiner, wenige Tage vor ihrem Lebensende konzipiert, das den Zugang zum Verständnis ihrer Werke gewährt.
Nichts sagen, was mir nicht zugehört, was mich kalt, fremd, unberührt ließ! Die eigene Sprache sprechen! Den Zugang zum Wesentlichen der Umwelt finden! – Seit meiner frühesten Kindheit wurde ich diesen Weg gewiesen. Anfangs waren es allabendlich die Grimmischen Märchen, die uns der Vater vorlas; später Balladen, denen wir Kinder atemlos lauschten. Welches Mädchen bekam wohl schon mit vierzehn Jahren eine vollständige Ausgabe der Werke Franz Grillparzers als Weihnachtsgeschenk – später Schiller und Friedrich Hebbel? Diese Konzentration auf die Klassik, von der väterlichen Autorität bestimmt, führte mich vielleicht etwas weit ab in ein schwebendes Reich des Idealistischen. – Im Kreis junger Gefährten begegnete mir dann Rainer Maria Rilke; das Rautendelein Gerhart Hauptmanns sprach mich zum ersten Male auf einer verschwiegenen Waldweise im Mondschein an; und das Volkslied in Walter Hensels strengster Auswahl und reinster Prägung hat mich lange Zeit am stärksten innerlich verpflichtet. – Das ist alles ein wenig fern unserer heutigen Umwelt; aber zu ändern war es nicht, wollte man sich selbst treu bleiben und aus innerer Notwendigkeit sprechen. Später mahnten Hermann Hesse und Hans Carossa, die Sprachen zuchtvoll als Werkstoff zu formen, wie den Maler das Licht, den Bildhauer der Marmor, den Musiker der Klang zum Gestalten zwingt. Rhythmus, Melodie und Dynamik im sprachlichen Ausdruck zu erwecken, wie es der Musik gelingt, das versuche ich in meiner Versdichtung, das versuche ich aber auch in der Prosa. (Aus: König: Heimat im Widerschein, S. 61)
Gleichwohl spannt sich ein weiter Bogen von den ersten schriftstellerischen Versuchen, die sie den Blättern der sudetendeutschen Jugendbewegung anvertraute, bis zu ihrem Zyklus Das Blumenjahr, von dem sie selbst erklärte, es vereine Jahrzehnte ihres Lebens, ihrer Arbeit an sich selbst und ihrer Aussagen.
Bereits 1920 gab der Sis-Verlag in Zeitz den Sammelband Gedichte heraus, den K. E. Merseburger mit passenden Federzeichnungen ausgestattet hatte. Erstaunlich anspruchsvoll sind die Themen, mit denen sich die kaum zwanzigjährige Lyrikerin auseinandergesetzt haben muss, ehe sie ihnen dichterische Form verlieh: Gott, Schönheit, Glück, Sehnsucht, Lebensgestaltung, Kunst. Andere Verse sind vor allem der Natur, den Tages- und Jahreszeiten zugedacht.
Jahre des Reifens folgen, und die Qualitätssteigerung bleibt nicht aus. Gedankentiefe, geistige Verinnerlichung, Anwendung vielfältiger literarischer Formen und Vervollkommnung des sprachlichen Ausdrucksvermögens, das sind die Kriterien zur Charakterisierung der Dichtungen von Hedwig Steiner, die 1929 unter dem Titel Schauen und Sinnen im Drei-Tannen-Verlag Josef Schmidt in Sternberg erschienen sind. Der stattliche Band enthält in seinem ersten Teil Gedichte, im zweiten Teil Sinnbildliche Erzählungen. Die Aufgliederung der Gedichte ergibt sich aus ihrem Inhalt. „Aus deutschem Land“, „Von Herz zu Herzen“, „Besinnen“, „An heiligen Stätten“, „Im Kreislauf des Jahres“ und „Jenseits der Alpen“, so hießen die Themenkreise, denen die Auswahl der Gedichte entspricht. In den sinnbildlichen Erzählungen, zusammengefasst in den Abschnitten „Irrwege“, „Im Jahreskreis“, „Menschengeschick“ und „Kinderglaube“, präsentiert sich Hedwig Steiner nicht als Epikerin schlechthin, sondern sie dokumentiert gleichzeitig durch die Intimität des dargestellten Geschehens und durch die Erhabenheit der sprachlichen Gestaltung die Dominanz der lyrischen Elemente. Neben Erzählungen im eigentlichen Sinne finden sich vor allem legendenhafte Formen der Epik; ganz unmissverständlich kündigt sich aber auch die Vorliebe für das besinnliche Märchen an. Es war also kein Zufall, dass bereits in den Gedichten von 1920 der Begriff des „Märchens“ lyrisch analysiert wird:
Hab´ ich´s geträumt? Hab´ ich´s gelesen,
das Märchen aus vergangener Zeit?
Bin ich es selbst einmal gewesen,
das Königskind im goldnen Kleid?
„Es war einmal“, so hat´s begonnen.
Es war einmal, jetzt ist´s vorbei.
Da schönste Märchen ist zerronnen
mit meiner Kindheit Blütenmai.
Was mehr als zehn Jahre Keimkraft behielt, musste sich schließlich entfalten. Kein Wunder, dass die nächsten selbstständigen Veröffentlichungen Märchen waren. Zum Teil reichhaltig bebildert, wegen des elementaren Einflusses lyrischer Tendenzen in poetischer Sprache verfasst, erschienen Anfang der dreißiger Jahre im Rudolf-Schneider-Verlag in Markersdorf bei Zittau die Bändchen Brumme (mit Bildern von Hans Michael Bungter) und Der erste Christbaum (mit Bildern von Paula Jordan); Prinzessin Frageviel sollte folgen. Brumme und Der erste Christbaum lehnen sich an die Form der Legende an, denn wir erfahren, wie der erste Brumme (Teddybär) aus dem Himmel auf die Erde kam und wie Jesus den Hirten den ersten Christbaum schenkte. Die Freude an der Gestaltung märchenhafter Stoffe blieb all die folgenden Jahre hindurch erhalten und fand ihren literarischen Niederschlag auch auf dem Gebiete der Dramatik, die mehr als ein Jahrzehnt das Schaffen Hedwig Steiners beherrschte.
Als Sonderdruck aus der Zeitschrift des Deutschen Turnverbandes erschien 1938 das Märchen- bzw. Puppenspiel Der Kaspar Holdrio und die Prinzessin Cimbeline, während mehrere andere Stücke, alles Märchenspiele, nach unveröffentlichten Rollenbüchern einstudiert wurden, nämlich Marei im Drachenstein (1936), Das Goldapfelfräulein (1942) und Das Märchen von den drei Wunderdingen (1945). Lediglich mit der Schlesischen Bauernhochzeit (als Hörspiel verfasst, 1938 aufgeführt) und dem Bernecker, einem geschichtlichen Spiel aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, geht Hedwig Steiner neue Wege, bleibt sich jedoch in ihrer Grundhaltung selbst treu, indem sie ihre Verbundenheit mit der heimatlichen Volkskunde und der Geschichte ihrer Heimat unter Beweis stellt. Die Schlesische Bauernhochzeit spricht thematisch für sich selbst, im Bernecker (Bernecker von Burghausen war dazumal Bürgermeister von Troppau) gestaltet die Autorin jene dramatischen Vorgänge, die sich am 19. und 20. August 1626 auf dem Niederring zu Troppau ereignet hatten. Sogar Das Märchen von den drei Wunderdingen basiert auf volkskundlichen bzw. heimatgeschichtlichen Stoffen, denn es stützt sich auf ein Märchen aus dem Goldoppatal im Altvaterland.
Bei der Deutung der literarischen Grundkonzeption im Schaffen von Hedwig Steiner dürfte man nicht versäumen, ihre Novelle Aus dem Leben der Caterina Caniana (erschienen als Sonderdruck der Zeitschrift Der Ackermann aus Böhmen, 5. Jg.) heranzuziehen, zu der ein Besuch der Basilika San Martino in Alzano Maggiore bei Bergamo den Anstoß gab. Die Verfasserin kam nicht umhin, sich indirekt zu ihren Neigungen zu bekennen:
Die Selbstbiographie der Caterina Caniana spricht von diesen Sommertagen in Clusone mit seltsamen Worten. Manchmal schleichen sich in die beschwingte Prosa dieser Zeit ganze Zeilen, die sich wie Verse fügen. Manches ist fast in Briefform geschrieben, manches wie die Anrufungen, mit denen Gläubige ihre geliebten, verehrten Heiligen begrüßen. Ich empfand die Zeugnisse dieser Lebenszeit wie Keime zu Gedichten und Liedern, aus denen die Bewegung eines liebenden Herzens schwingt, und habe versucht, einiges davon zu übertragen. (Aus: Aus dem Leben der Caterina Caniana, S. 14)
Immer wieder triumphiert bei Hedwig Steiner emotionell bedingte Begeisterung für poetische Gestaltung – auch dann, wenn Stoff, Thema und Handlungsverlauf zu epischer Darlegung oder dramatischer Konzentration herausfordern. Die Konsequenz der künstlerischen Entwicklung musste daher einer harmonischen Vereinigung aller drei Komponenten zustreben. Das Resultat solches Strebens legte Hedwig Steiner vor, in der vom Quellenverlag V. Diwisch, Steinheim am Main, 1962 herausgegebenen Sammlung Ostdeutsche Balladen aus Mythe, Brauchtum und Geschichte, zu der Ilse Gromes das Nachwort schrieb.
Dann wendete sich Hedwig Steiner wieder mit besonderer Anteilnahme dem lyrischen Gedicht zu. Wie einst in ihrer ostsudetendeutschen Heimat, wo sie an verschiedenen Zeitschriften (z. B. an dem Periodikum Nordmährerland) eifrig mitarbeitete, so stellte sie auch nach der Aussiedlung ihre Gedichte, aber auch Prosa, einzelnen Heimatzeitschriften und Jahrbüchern zur Erstveröffentlichung zur Verfügung (Mährisch-Schlesische Heimat, Heimatjahrbuch Ostsudetenland, Altvater-Jahrbuch u. a.). 1963 gab der Verlag Heinrich Hohler, Landsberg a. Lech, den Zyklus Gang durchs Jahr heraus, dessen Gedichte Leonhard Metzner vertonte. Im Jahr 1968 folgte das Gedichtbändchen In den Wind gesprochen, eine Publikation des Arndt-Verlages in Vaterstetten. Wenige Tage vor ihrem Ableben war es Hedwig Steiner noch vergönnt, ihr Lyrikbändchen Das Blumenjahr in Empfang zu nehmen, das sie ihren Zeitgenossen als Weihnachtsgruß für 1969 zugedacht hatte. Günstige Umstände haben es ermöglicht, dass die Ausgabe nicht Mitte November, wie ursprünglich vereinbart, sondern schon Ende Juli ausgeliefert werden konnte. Die Freude war groß und Hedwig Steiner sparte nicht mit Worten der Anerkennung und Dankbarkeit. In einem Schreiben vom 22. Juli 1969 (an J.W. König – Archiv König, später Archiv der Stadt Donauwörth), kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus und vor Antritt ihrer Reise ins Mühlviertel, wo sie sich erholen wollte, äußerte sie mit Bezug auf diesen Zyklus:
Überall [...] wird, so hoffe ich, die Grundhaltung herauszuhören sein: dass ich nach wahrhaftigen Worten suchte, um Eindrücke der Erscheinungswelt zu innerer Klarheit auszureifen [...] Mit dem Bändchen gebe ich eine Auswahl vieler Blumenerlebnisse. Großmutters reich blühender Garten im Altvaterland, des Vaters Führung auf Wanderungen am Südhang der Alpen und im Karst, sommerliche Tag- und Nachtfahrten durch das deutsche Mittelgebirge, einsame Wege in der Rhön zu jeder Jahreszeit: sie alle wirkten an dieser Sammlung „Blumenjahr“.
Die im Frühjahr 1969 fertiggestellte Monographie Anton Hanak (Delpsche Verlagsbuchhandlung, München) passt anscheinend nicht recht in die Chronologie des Schaffens von Hedwig Steiner. Das Werk sollte als kunstgeschichtlicher Beitrag zur selben Zeit greifbar sein, in der im Rahmen der Wiener Festwochen bzw. der Woche der Bildhauer auch der mährische Künstler Anton Hanak durch eine Ausstellung von hohem Rang geehrt wurde. Die erste Fassung des Textes lag bereits 1938 druckfertig vor. Das Manuskript basierte auf der Tatsache, dass Hedwig Steiner den Bildhauer von seinen Besuchen und Aufenthalten im Hause ihrer Verwandten in Olmütz und Winkelsdorf gut kannte und seine Schöpfungen bewunderte. Das Buch konnte damals nicht verlegt werden, so dass – inzwischen waren dreißig Jahre vergangen – eine Neufassung geschrieben werden musste, mit der sich die Autorin nunmehr unter den Biographen der Künstler ihrer Heimat qualifizieren konnte.
Den Ehrenplatz in der regionalen Literaturgeschichte sicherte sich Hedwig Steiner hingegen als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des Ostsudetenlandes, die sich, allen „unlyrischen“ Zeitströmungen zum Trotz, darauf beschränkte, die Ausdruckskraft der Sprache mit ihrem konventionellen Vokabular in voller Schönheit wirken zu lassen.
Leben und Werk eines künstlerisch schaffenden Menschen sind nicht selten eng miteinander verquickt; dies gilt vor allem dann, wenn dichterisches Schaffen als geistige Reflexion aus persönlichem Erleben resultiert, wie das bei Hedwig Steiner der Fall war. Ihr Lebenslauf mag als Orientierungshilfe dienen.
Hedwig Steiner erblickte am 26. Januar 1898 in Teschen als ältestes der drei Kinder des Gymnasialprofessors Dr. Alois Steiner und seiner Ehefrau Ida, geb. Primavesi, das Licht der Welt. Ihre Großeltern stammten väterlicherseits aus dem Pustertal, die Großmutter mütterlicherseits hatte sich der aus Como in Oberitalien stammende Großvater Primavesi aus Bennisch bei Freudenthal, damals Österreichisch-Schlesien, geholt. Die früheste Kindheit verlebte Hedwig Steiner in Teschen, dann beantragt ihr Vater seine Versetzung nach Görz, dem heutigen Gorizia am unteren Isonzo, um seiner lungenkranken Frau im transalpinen Klima bessere Lebensbedingungen zu bieten. Als Hedwig sechs Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Über die Eindrücke jener Kindheitstage berichtet später die Dichterin in einer biographischen Aufzeichnung (1935). In den Kindheitserzählungen, die in dem Manuskript Almuth zusammengefasst wurden, bekennt sie, dass sich die Erlebnisse jener Zeit sehr stark in ihrem Gemüt verankert haben.
Im Interesse der Schulausbildung für die Kinder übersiedelt die Familie 1910 nach Troppau. Hedwig besucht die Bürgerschule und die Lehrerinnenbildungsanstalt und legt 1916 das Abitur mit Auszeichnung ab. An verschiedenen Volksschulen und im Kinderpavillon der Landesirrenanstalt erwirbt sie sich pädagogische Praxis und besteht 1919 in Wien die zweite Lehramtsprüfung ebenfalls mit Auszeichnung. Dann absolviert sie einen zweijährigen Kurs der Gymnastikschule in Loheland (Rhön) und erlangt die Qualifikation einer Gymnastiklehrerin. Auch dieses Jahrzehnt ihres Lebens charakterisiert sie in aufschlussreicher Weise.
Ihre Tätigkeit als Gymnastiklehrerin bringt Hedwig Steiner in Berührung mit der Wandervogel-Bewegung, der sie sich bereitwillig anschließt, zumal die Ziele dieser Jugendbewegung ganz ihren Neigungen entsprechen: Erziehung zu einem sinnvollen, disziplinierten Leben in der Gemeinschaft, musische Betätigung, Wandern und Spielen, Beschäftigung mit Brauchtum und Volkskunde. Später unterrichtet sie an den Frauenfachschulen in Freiwaldau und Eger und lehrt, nach Ablegung der Fachprüfung für Deutsch, Geschichte und Erdkunde, als Studienrätin an der Lehrerbildungsanstalt in Troppau.
1945 war sie auf der Flucht über Südböhmen nach Oberösterreich, ist als Lehrerin an der Rotkreuzschwesternschule in Steyr tätig, wird von dort ausgesiedelt, kommt aus dem Lager Ingolstadt wieder nach Loheland, jetzt als Hilfskraft, wird schließlich, da sie die Prüfung für das höhere Lehramt in der Zeit des Dritten Reiches abgelegt hat, nur als Lehrerin für Volksschulen zugelassen - zunächst für Handarbeitsunterricht, dann in den „wissenschaftlichen“ Fächern, zuletzt in Breitenbach bei Bebra. Im Jahre 1961 trat sie in den Ruhestand und lebte seither, unweit ihrer Schwester, im bayrischen Rosenheim, unablässig literarisch schaffend, bis ihr der Tod am 21. August 1969 die Feder aus der Hand nahm. (Josef Walter König, Donauwörth)