Erica Pedretti, geborene Schefter, stammte aus Sternberg und wuchs in Hohenstadt auf, kurze Zeit verbrachte sie auch im mährischen Freudenthal und in Berlin. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie, was sie von Kindheit an als Belastung empfand. In Hohenstadt besaß ihr Großvater eine Seidenfabrik. Ihr Vater, Hermann Heinrich Schefter (1895–1979), im Familienbetrieb beschäftigt, war in den 20er Jahren literarisch tätig: Er verfasste vier Dramen und über seine Nord- und Südamerikareisen schrieb er sachkundige und literarisch beeindruckende Berichte, die im Band Yankees und Indianer zusammengefasst wurden. In den 30er Jahren schrieb er über wirtschaftspolitische Probleme für das Prager Tagblatt und die Zeitung Bohemia. Der Scharfblick für soziale Probleme prägte auch die Anschauungen seiner Tochter Erica, in deren Werk die Betroffenheit angesichts sozialer Ungerechtigkeiten immanent präsent ist. Der Bruder ihrer Mutter, Kurt Gröger, war Maler, dessen Werk und Schicksal eines „tschechoslowakischen Deutschen“– in den 30er Jahren trat er gegen die Nazis auf, in Frankreich war er Mitglied der Tschechoslowakischen Legion, nach dem Krieg wurde ihm von tschechoslowakischer Seite die Rückkehr verweigert – die Autorin tief beeindruckten.
Unmittelbar nach Kriegsende wurde die Fünfzehnjährige als Arbeitskraft einem Hohenstädter Bauern zugeteilt, bei dem sie mit großer Begeisterung und schwachen Kräften arbeitete. Auch die Arbeit in einer Schusterwerkstatt, in die sie wechseln musste, freute sie. Im Dezember 1945 wurde sie mit ihren drei Geschwistern mit einem Rot-Kreuz-Transport in die Schweiz, das Heimatland ihrer Großmutter, gebracht. In Zürich besuchte sie die Schule für Gestaltung. Da die Familie in der Schweiz keine Aufenthaltsbewilligung erhielt, ging sie 1950 in die USA. In New York arbeitete sie als Silberschmiedin, die neue Umgebung deprimierte sie aber sehr. Deshalb kehrte sie nach zwei Jahren gerne in die Schweiz zurück. 1952 heiratete sie Gian Pedretti, der etwas früher dieselbe Schule absolviert hatte, und sowohl als erfolgreicher Maler tätig war als auch schriftstellerisch auftrat. Sie lebte mit ihm und ihren fünf Kindern in Celerina im Engadin. Seit 1974 „zeichnen, malen, modellieren und schreiben“ die Pedrettis in La Neuveville am Bielersee, Kanton Bern. (Erica Pedretti in ihrer Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1988). Ihre Bilder und Objekte stellte Pedretti in vielen Städten Europas aus, nach der Wende von 1989 auch in der Tschechischen Republik, u.a. in ihrer Heimatstadt Sternberg.
An Universitäten in den USA – Washington University, St. Louis MI (1989); City University, New York (1994) – und an der Universität in Wien (1996) hielt die Autorin Vorlesungen über Poetik und kreatives Schreiben. In der Wiener Vorlesung über Schauen / Schreiben beschäftigte sie sich mit dem Problem der Darstellung der Wirklichkeit, der Bildhaftigkeit, der Einbeziehung der individuellen Erfahrungen des Schreibenden in seine Sicht, was wiederum die Frage hervorrief, ob Wirklichkeit mit anderen geteilt werden könne. Sehr skeptisch war die Stellungnahme Pedrettis zu diesen Fragen, wenn sie auch „heute…dem Erzählen etwas mehr [zutraut]“ als vor Jahren, wobei sie diese Aussage in ihrer typischen Denk- und Schreibweise sofort relativierte: „ ...wenn auch nicht unbedingt im Sinne von ,Es wird wieder erzählt“. (In: Schauen / Schreiben, Vorlesungen, Wien 1996, Manuskript.)
Dort fragte sie sich auch: „[...] schreibe ich denn nicht, um etwas, das ich eher vermute als weiß, genauer zu erfahren, es schreibend kennen zu lernen?“ Dies könnte als Motto vor allen Büchern Erica Pedrettis stehen, in denen es immer wieder um Vergangenes und dessen Spuren und Einwirken auf die Gegenwart geht. Das Schreiben ermöglicht der Autorin, sich mit Erinnerungen auseinander zu setzen, sie nach Jahren von einer anderen Perspektive zu betrachten, sie zu korrigieren, in neue Zusammenhänge zu bringen. Deshalb wird bereits in ihrem ersten Buch Harmloses, bitte (1970), das aus 30 kurzen Skizzen besteht, der Strom der Erinnerungen ständig von verfremdenden Abschweifungen vom deutlichen hier und jetzt der Schweizer Gegenwart zu dem damals und dort der mährischen Kindheit, das sich aus der Erinnerung herausschält, unterbrochen. Idyllische Erinnerungen verändern sich rasch in ihr Gegenteil, „Harmloses“ gab es und gibt es nicht. Diese Problematik beschäftigt die Autorin in den meisten ihrer Bücher; vor Jahren behauptete sie zwar, nie erzählen zu können, „wie es damals wirklich war“, doch hat sie es inzwischen, in ihrer „gebrochenen“, meist stockenden, manchmal hastenden Weise, vermittelt. Vieles wird ausgeklammert, vieles nicht direkt erzählt, sondern reflektiert oder in Allusionen verborgen, detaillierte realistische Beschreibungen werden von Andeutungen abgelöst. In ihre Bücher sowie in ihre Vorlesungen projiziert sie die intensive Suche nach Wahrheit und der Möglichkeiten ihrer Darstellung, thematisiert wird neben der Geschichte der Prozess der Verbalisierung von Gedanken, Bildern und Empfindungen. Anlässlich einer Ausstellung im Augustinianerkloster in ihrer Heimatstadt Sternberg konkretisierte Pedretti als Künstlerin ihre Reflexion des Verlustes der Heimat in einer Installation: An der Wand die Aufschrift „Kde domov muj“, auf dem Boden „tady“ (hier) ein aufgebautes Zelt mit Büchern und Malutensilien. Hier war das Zuhause, heute ist es nur auf Wanderschaft zu besuchen, oder: es ist dort, wo das Zelt steht, überall also.
Literarisch verfremdete Erfahrung, Ineinanderfließen von Wirklichkeit und Traum, die Wahrung eigener und fremder Erinnerungen, die die kleine ebenso wie die große Geschichte ausmachen, stehen im Mittelpunkt des zeitlich wie räumlich viel breiter angelegten ersten Romans der Autorin Heiliger Sebastian (1973). Das Erinnern, Vergegenwärtigen und Reflektieren von Erlebnissen, Eindrücken, Personen und Situationen überbrückt weite Räume von Europa und den Vereinigten Staaten, den Personenkreis dominiert zum ersten Mal die literarisch-autobiographische Figur Anne, die sich selbst im Verhältnis zu anderen Personen, in Gesprächen, realen sowie fiktiven, definiert, die ihre Erlebnisse auch innerlich erfährt und reflektiert. Fließend ist die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Von Gregor, die für Anne bedeutsamste Person, wird die Gegenwart für wichtiger gehalten, da sie den Menschen zum Sehen und Aufnehmen nötigt. Und das Nachdenken über individuell Gesehenes und Erfahrenes weist auf das Böse hin, das sich in der Geschichte ständig wiederholt, und auf die Bemühung, es zu vergessen und zu verdrängen. Dieses Thema kommt später im Roman Engste Heimat erneut und verstärkt zu Worte. Gegen Vergessen und Verdrängen, von den Schrecken der Wiederholung schreibt und spricht Pedretti auch in Artikeln, Dossiers und Interviews.
Im Roman Veränderung (1977), dessen Untertitel Die Zertrümmerung von dem Kind Karl und anderen Personen in späteren Auflagen zum Titel wurde, reflektiert die Autorin Situationen, die sich in ihrer scheinbaren Harmlosigkeit für verschiedene Personen, besonders für sie selbst, als höchst gefährlich erweisen. Schicksale verschiedener Menschen bedrängen die Ich-Erzählerin, die sich in einem neuen, unbekannten Milieu zurechtfinden will, und gestatten ihr kaum, sich der Rekonstruktion der verfallenen Wohnung und ihrer kreativen Arbeit zu widmen. Das triste, sprachlose Leben der verstorbenen bescheidenen und auch hilflosen Hausbewohnerin, einer russischen Emigrantin, kontrastiert stark mit dem der vitalen, selbstsicheren Bootsvermieterin Frau Gerster, die mit Geschichten aus ihrem Leben, mit ihren als Lebensweisheiten dargebotenen Erfahrungen die Erzählerin so nachhaltig bedrängt, dass diese auf ihre eigene, sehr unterschiedliche Ausdrucksweise allmählich verzichtet und sich mehr und mehr die Geschichten und die Sprache Frau Gersters zu eigen macht. Unterschiedlich wie die Vergangenheit beider Frauen, wie ihr intellektueller Background, ihre Sprache und das Ziel ihres Erzählens sind auch die Erlebnisse zweier Kinder: der Erzählerin, deren Erfahrungen (wie immer) in manchen Details mit denen der Autorin identisch sind, und des Kindes Karl, aufgezeichnet von Frau Gerster für einen Jugendanwalt. Ihrem Bericht ist auch der Titel des Romans entnommen. Karl, das Kind aus einer zerrütteten Familie, wird eine Zeit lang von Frau Gerster als Pflegekind betreut sowie beschäftigt und schließlich wegen Diebstahl in eine Strafanstalt gebracht. Auch die Kindheit der Erzählerin wurde zertrümmert: fünfzehnjährig erlebte sie das Kriegsende in Mähren mit all seinen Schrecken und arrangierte im Winter 1945 für sich und drei jüngere Geschwister die Ausreise aus der Tschechoslowakei zur Tante in die Schweiz. Die neuerdings auftauchende Ähnlichkeit ihrer Geschichten mit denen Frau Gersters, derselbe „traurige Verlauf“, dasselbe „fatale Ende“ erschrecken sie, sie wird sich der „Zertrümmerung [ihres] Hirns“ und der Zerstörung ihrer kritischen, reflektierenden Gestaltungskraft mehr und mehr bewusst.
Die elf Geschichten des Bandes Sonnenaufgänge Sonnenuntergänge (1984), die zwischen 1978 und 1980 entstanden sind, bejahen implizit die Frage der Autorin: „Soll ich mir jetzt Gedanken über die Freiheit und Gefährdung der Vögel, über Vogelflug und Flügel machen?“ Verbindend ist das Motiv der Bewegung: Aufbrüche, die nicht immer gelingen, Flug, auch Vögel, Spaziergänge, die nicht immer physisch angenehm, aber immer geistig inspirativ sind, Reisen, die auch in Katastrophen führen, stimmen mit der Fortbewegung der Gedanken, die von keinen Grenzen der Zeit und des Raumes eingeschränkt sind, mit der bald vorwärts hastenden, bald zögernden Fortbewegung der Sprache überein. Bewegung aber auch als Symbol für Freiheit, die dem lebendigen Wesen genommen werden kann. Hierin der Ansatz zu Kindheitserinnerungen (in der Erzählung Über Dittersdorf fliegen), die – eingeleitet von dem Sinnbild grenzenloser Friedlichkeit, von dem unbeschwerten Bild Henri Rousseaus, das eine Zigeunerin mit einem Löwen zeigt –, zurück nach Dittersdorf, zu Erinnerungen führen, die sich der Schreiberin wider ihren Willen aufdrängen. „Warum denn etwas schreiben, was ich verschweigen und vergessen möchte?“ (S. 88). Aber alle Wege, nicht nur in dieser Erzählung, führen nach „Dittersdorf“, das hier stellvertretend für die in Mähren verbrachte Jugend steht. Der Text Am Tatort, in dem Pedretti die Widersprüchlichkeit zwischen Erleben und Schreiben thematisiert, verweist auf ihre poetologischen Vorlesungen: Schreiben erfordert Überlegung, tief Erlebtes kann nur mit Abstand von dem Erlebten „gut“ erzählt werden. Die Reflexionen spiegeln sich in der Erzählweise der Autorin wider, in den Unterbrechungen, Relativierungen, Fragen, im Bezweifeln der eigenen Wahrnehmungs- und Aussagefähigkeit.
Literatur und Malerei, Wahrnehmung von Natur, Leben und Kunst verbindet Pedretti im Roman Valerie oder das unerzogene Auge (1986). Im realen Hintergrund stehen die Kunst des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (mit seiner Kunstauffassung setzte sich Pedretti auch in einem Vortrag auseinander) und dessen Beziehung zu seiner langjährigen Geliebten (und Modell), deren Leiden und Sterben er in einer Bildfolge darstellte. Pedretti erzählt einen analogen Hergang, aber betont von der Perspektive der Frau erlebt. Der Maler ist ein Nachfolger Hodlers, übernimmt seine Kunstauffassung, will wie er genau und klar die Wirklichkeit, auch das Leiden und Sterben seiner Partnerin Valerie, nachbilden. Die aber beginnt die Welt mit einem „unerzogenen Auge“ zu betrachten. Das „unerzogene Auge“ ist – im Gegensatz zu Hodlers Auffassung des „geschulten“ – frei von dem einengenden Einfluss von Mustern und Vorbildern, ist im wahren Sinne geistig frei, selbständig, individuell. Valerie lehnt sich gegen die passive Rolle des „sächlichen“ Modells, dessen Verfall mit gefühllosem Interesse beobachtet und künstlerisch ausgenutzt wird, auf und findet die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken: nicht eindeutig, nicht genau und klar wie Franz, sondern verzweigt, denkbar, eigenständig.
Der Roman Engste Heimat (1995), aus dessen Titel Angst ebenso wie Enge spürbar sind, vermittelt eine während zwei Prag- und Mährenaufenthalten (1976 und 1990) unternommene Überprüfung von Kindheitserinnerungen und eine Revision der im Gedächtnis eingeprägten Landschafts- und Städtebilder. Die alten und die neuen Eindrücke, die Erinnerungen und deren Korrekturen ergeben ein mosaikartiges Bild dessen, was war, und dessen, was die Autorin während der zwei Reisen vorgefunden hat. Das betrifft ebenfalls die Personen und natürlich die Autorin selbst, die als Ich-Erzählerin oder als ihr eigenes alter ego, die objektivierende Figur Anna, ständig präsent ist. Die Autorin begibt sich auf die Suche nach Bildern ihres Onkels, des Malers Gregor (d. i. Kurt Gröger), die in Mähren geblieben sind. Politische Ereignisse und totalitäre Ideologien griffen in das Leben des Künstlers und in das Schicksal seiner Werke ein: als Gegner der Nazis wurde er aus dem Land getrieben, von ihnen in Frankreich als Mitglied der Tschechoslowakischen Legion, also als Verräter, verfolgt, nach dem Kriege wurde er von den Tschechen als Deutscher behandelt und durfte nicht mehr ins Land zurückkehren; seine Bilder wurden vernichtet, verramscht, bestenfalls galten sie als verschollen. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit bewegt sich die Autorin durch Zeit und Raum: aus der Schweizer Einsamkeit nach Mähren, aus der Gegenwart in die Kindheit und in die zwei Besuche, das bloße Berühren der Taste „Escape“ versetzt sie in den blühenden Garten in Sternberg, in eine Welt, wo der Großvater und das Kind Blumen pflanzen und auf ihren Spaziergängen von Goethes Faust und Mephisto und von Morgensterns Sonderlingen Korff und Palmström begleitet werden. Allerdings nur diese Form von Bewegung bedeutet hier Freiheit im Gegensatz zu der im Halbtraum erlebten realen Bewegung – zu Bahnhöfen, überfüllten Zügen, Flüchtlingen. Eine eigenartige Spannung, ohne die leiseste Spur von Wehleidigkeit oder Ressentiments, erweckt der Kontrast zwischen der Blumenwelt in Großvaters Garten und der Zeit von damals, da der Krieg allerdings noch hinter der Mauer und die Familie halbwegs intakt war, und der Gegenwart von jetzt, in der die Autorin die verkommenen Dörfer und Städtchen ihrer Kindheit aufsucht und die Familienmitglieder tot oder in der ganzen Welt verstreut sind. Die heile Welt von damals mit dem sicheren Sieg des Guten bei Goethe und der ästhetischen Kuriosität Morgensterns wird von der beängstigenden Welt der Unsicherheit Kafkas und des siegreichen Todes von Johannes von Tepls Ackermann aus Böhmen abgelöst. Das wichtigste, einige Male zitierte Wort ist dem Alten Testament entnommen – „Und geschieht nichts Neues unter der Sonne“. Ähnliches sagt Erica Pedretti in einem Interview: „Ich würde überhaupt nichts davon schreiben, wenn es nicht weiter geschehen würde. Was mich entsetzt ist, dass diese Erfahrungen nichts genützt haben.“ (In: Prager Zeitung, 10. 5. 2001.) Der Roman wurde von der Kritik als ein Werk, das sich mit einem wichtigen, weil nicht nur mitteleuropäischen Thema befasst, als „ein Stück Literatur, das die Versprechen ihrer früheren Bücher auf bewundernswürdige Weise einlöst“, gewertet.
Eine andere Art „Zertrümmerung“ thematisiert der Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte (1998), der mit dem letzteren eng zusammenhängt. Eine alte Frau, die ihre letzten Tage in einem Schweizer Altersheim verbringt, erinnert sich an ihr nicht gerade erfreuliches Leben. Diese Erinnerungen und Besuche sind das einzige, was der alten Frau geblieben ist. Der Schauplatz der Erlebnisse vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges ist Mähren, dort hatte sie ihr Pflegekind aufgenommen, einen Betrüger geliebt und den Mann geheiratet, der ihr das Leben schwer gemacht hat. Mit einer gewissen Befriedigung denkt die alte Frau an ihre Vergangenheit, an ihre vorbildliche Pflichterfüllung, in ihrer nüchternen Weise vermeidet sie jegliche Sentimentalität oder Klage. Nur fehlt ihr auch jetzt die Ruhe zum friedvollen Erinnern, ständig behelligt sie das „Kuckuckskind“. Diese nicht mehr junge unverheiratete Frau peinigt die erschöpfte Pflegemutter mit ihrer selbstsüchtigen Gefälligkeit und aufdringlichen Aufmerksamkeit, die sie selbst befriedigt und die alte Frau belastet. Die assoziativen Erinnerungen münden allmählich in Verwirrung, die physische Hinfälligkeit gewinnt Oberhand auch im Monolog, der den ganzen Roman dominiert.
Erica Pedretti, die als Bildhauerin und Malerin tätig war, veröffentlichte einige künstlerisch ausgestaltete Bücher. Nach dem ersten Bilderbuch Ils trais Sudos (1971) erschien 1986 das Büchlein mal laut und falsch singen (entstanden zwischen 1961 und 1964), eine von Illustrationen begleitete Geschichte von einem unzufriedenen kleinen Engel, der die Welt kennenlernen wollte. Ihr Text Vom Verschwinden mitten im Sommer, der mehr als der Versuch einer möglichen Rekonstruktion des Verschwindens eines jungen Mannes, eine poetisch anschauliche Schilderung des felsigen Meeresufers ist und dessen Atmosphäre vermittelt, begleitet den repräsentativen Fotoband Calas von J. Chevalier (1989).
Der 2001 herausgegebene Text Von Hinrichtungen und Heiligen, ursprünglich als Bericht über die Lebens- und Sterbegeschichte der vier Heiligen geplant, deren Skulpturen die Autorin im Aachener Suermont-Ludwig Museum aussuchte, um für eine Ausstellung einen „kurzen Text“ zu schreiben (die heilige Maria Aegyptiaca, die heilige Ursula, Santa Lucia, Sankt Veit), brachte Erica Pedretti zum Nachdenken, wohin diese Geschichten „führen und verführen“ könnten. Reale Schmerzen, Leiden, aber auch die Leiden der Erwartung von Marter und Tod, lösen die Gedanken an den gewaltsamen Tod überhaupt aus, an den Tod des Einzelnen (die Kindsmörderin aus dem 18. Jahrhundert) und an Hinrichtungen als Fernsehshow, an den Tod von Tausenden von Schuldlosen in den Trümmern des World Trade Centers. Im Hintergrund dieser „Todesarten“ steht auch der Gedanke an die eigene, „ungewisse“. Eingerahmt sind die einzelnen Geschichten von den Daten 12. Juni 2001 (Tag vor der Hinrichtung des Attentäters McVeigh) und 12. September 2001 (Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon). Die Autorin verbindet hier beide ihr eigenen Kunstarten: Der Text ist künstlerisch ausgestaltet, die Handschrift als bildnerisches Element verwendet, schafft mit den Zeichnungen der Heiligen und mit den Unterlage-Collagen eine wirkungsvolle Einheit.
Erica Pedretti verfügt über eine höchst kultivierte, ausdrucksstarke, bilderreiche Sprache. Das mährische Deutsch ihrer Kindheit, besonders in der Lexik, ist ein fester Bestandteil ihrer literarischen Sprache. Erica Pedretti war Korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt und erhielt zahlreiche literarische Preise (Förderpreis der Schillerstiftung (1970), Prix Suisse (1970), Gastpreis des Kantons Bern (1973), Buchpreis des Kantons Bern (1977), Ingeborg-Bachmann-Preis (1984), Großer Literatur-Preis des Kantons Bern (1990), Berliner Preis u. Bobrowski-Medaille (1994), Anerkennungspreis der Schillerstiftung (1995), Marie Luise Kaschnitz-Preis (1996), Kunstpreis der Stadt Biel (1996), Mitteleuropäischer Literaturpreis Vilenica, Slowenien (1999), Kunstpreis des Kantons Graubünden (1999)).