Fritz Beer gehörte (nach 2000) zu den letzten Zeitzeugen der Prager literarischen und politischen Szene der dreißiger Jahre und zu den nach 1939 emigrierten deutschsprachigen Schriftstellern böhmisch-mährischer Herkunft. Im Herbst 2002 erschien sein letztes Buch – Kaddisch für meinen Vater – mit Essays, Erzählungen und Erinnerungen, bevor er 2006 nach langer Krankheit verstarb.
Fritz Beer wurde am 25. August 1911 in Brünn geboren. Sein Vater Berthold war Besitzer eines Sägewerks. Beers Mutter Jeanette entstammte einer Trebitscher Mittelstandsfamilie. Die Eltern waren „liberale Juden, die aus alter Gewohnheit manche jüdischen Bräuche einhielten“. (Grandpa, S. 17) So feierte Beer im August 1924 die Bar Mizwa. Dabei empfand er früh eine Distanz zu den religiösen Riten. Die Existenz Gottes stellte er schon in dieser Zeit in Frage; das Bekenntnis zu einer atheistischen Anschauung erwuchs daraus. In Brünn absolvierte Beer das deutsche Realgymnasium, ab 1926 die Handelsakademie, eine Art Fachoberschule. Der Eintritt in den Techelet-Lawan, den zionistischen Jugendbund Blau-Weiß, 1927, war ein wichtiger Einschnitt. Fritz Beer avancierte zum Leiter des Brünner Blau-Weiß und hatte mit der von ihm gegründeten Monatszeitschrift Itonenu (hebr. Unsere Zeitung) ersten publizistischen Erfolg.
Aufgerüttelt von den Folgen der Weltwirtschaftskrise und unter dem Eindruck von Autoren wie Upton Sinclair, Ludwig Renn und Leonhard Frank, trat Fritz Beer Ende 1929 in die Kommunistische Partei ein. Die KPTsch verlor damals – nach drastischen Einbußen bei den Wahlen von 1929 – im überdies stark antikommunistischen Staatsklima erheblich an Einfluss. Aus einer reformistischen Partei entwickelte sie sich zunehmend zu einem stalinistischen Fremdkörper in der ČSR, hörig gegenüber Moskau, destruktiv und antidemokratisch. Zudem war sie ein ziemlich heterogenes Gebilde, was zum einen Kursschwankungen nach sich zog, zum anderen innere Kämpfe. Nach dem Abschluss der Handelsakademie verbrachte Beer 1930 zwei Monate als Student in Dijon, um Französisch zu lernen. Anschließend hielt er sich kurze Zeit in Berlin auf, um den Wahlkampf für die Reichstagswahlen vom 14. September zu erleben. Danach zog er von Brünn nach Prag, wo er zunächst als Übersetzer von Geschäftspost arbeitete, danach sporadisch als Sprachlehrer. Den langgehegten Traum, Schriftsteller zu werden, gab er zugunsten journalistischer Ambitionen auf. Zu einer ersten Veröffentlichung, einer Polemik gegen Rationalisierungsmethoden des Bata-Schuhkonzerns, kam es kurz darauf in der bekannten Tvorba von Julius Fučik. Nach verschiedenen Tätigkeiten für die Partei ergab sich für Beer im Mai 1931 die erste journalistische Anstellung, als Leiter der ČKK-Redaktion. Die ČKK – Tschechoslowakische Kommunistische Korrespondenz – fertigte Exzerpte und Übersetzungen aus dem „Rudé Právo“ an, mit denen dann die deutschen Parteiorgane in der Provinz beliefert wurden. Im August 1931 wurde Fritz Beer dort entlassen, weil der in Moskau geschulte, später gefürchtete, Funktionär Fritz Geminder in Prag installiert wurde. Dieser bot Beer an, eine Broschüre über den Streik von Arbeitern aus einem Steinbruch bei Freiwaldau zu verfassen, bei dem am 25. November 1931 acht Streikende von der Gendarmerie erschossen worden waren. So entstand – unter dem Parteinamen „K. Friedrich“ – Beers erste selbständige Veröffentlichung: Schüsse im Morgengrauen. Um Zensurmaßnahmen zu umgehen, nutzte Fritz Beer zur Tarnung den „Mantel“, den ihm die Welt am Sonntag, ein „obskures Wochenblatt“ in Teplitz-Schönau, bot, um bald darauf ein „nur leicht politisches Unterhaltungsblatt aufzubauen.“ (Grandpa, S. 210f.) Im neugeschaffenen regionalen Zentralorgan, dem Roten Vorwärts in Reichenberg, reüssierte er im Spätsommer 1932 mit einer wöchentlichen Sozial- und Industriereportage, die bei Wanderungen in Nordböhmen, später auch in Mähren, entstand. Die Partei beauftragte ihn kurz darauf, unter dem Vorwand von Reportagetätigkeit illegale Grenzübertritte von Flüchtlingen aus dem Deutschen Reich und Österreich zu organisieren.
Im Oktober 1932 kehrte Beer ins Elternhaus zurück, um die Aufnahmeprüfung an der Prager deutschen Universität abzulegen. Das später von ihm belegte Wirtschaftsstudium, damals subsumiert unter Jura, nahm er jedoch nicht ernsthaft auf. In Brünn wurde er Mitbegründer des Ortsverbandes der „Linksfront“, eines „Kulturverbandes“, der bürgerliche Kreise für die Ziele der KP gewinnen sollte. Im Zusammenhang mit einer Verhaftung Beers im Mai 1933 wurden etliche seiner Manuskripte konfisziert und zerstört. Dennoch lag ein Teil davon einer späteren Veröffentlichung zugrunde: Die Begegnung mit einem einzelgängerischen Weinbauern aus Nikolsburg, der sich im Kampf gegen seine feindselige Umgebung aufrieb, hatte Beer zu einer Novelle ausgebaut, die sein Lieblingsthema aufgriff: die Michael-Kohlhaas-Figur, mit der er sich, als Gerechtigkeitsfanatiker, identifizierte. Zusammen mit „Antikriegs-Erzählungen“ hatte Beer die Novelle für ein Preisausschreiben des Moskauer Verlags für ausländische Literatur eingereicht. Nachdem Beer damit 1934 einen Preis erlangt hatte, erschien der Band unter dem Titel Schwarze Koffer 1934 in Moskau. Zu den nie veröffentlichten Texten aus jener Zeit gehörte eine Novelle, in der er eine Malerin schildert, die wegen des Mordversuchs an ihrem Mann vor Gericht steht. Ihr Mann selbst plädiert als Zeuge für ihre Unschuld, da er in der Verzweiflung über die gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen das wahre Tatmotiv ausmacht.
Im Sommer 1933 unternahm Fritz Beer eine Reportagewanderung durch die rückständige Karpatho-Ukraine. Im Herbst übersiedelte er wieder nach Prag, wo F. C. Weiskopf diese (Foto-)Reportage zum Abdruck in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) annahm. So fand Beer Anschluss an eine Schriftstellergruppe, die im Café Continental ihren Stammtisch hatte, darunter F. C. Weiskopf, Ernst Ottwalt, Adam Scharrer, Ernst Bloch, Hedda Zinner, Fritz Erpenbeck, Wieland Herzfelde und John(ny) Heartfield.
Ein halbes Jahr später wurde Fritz Beer in die Auseinandersetzungen innerhalb der KPTsch hineingezogen. Bereits nach dem Parteitag 1929 hatte sich ein Flügel gebildet, der in Opposition zu der von Klement Gottwald dominierten strikt moskautreuen Parteilinie stand. In der „Affäre Josef Guttmann“ erreichten die Spannungen einen Höhepunkt: 1932 hatte Guttmann, Chefredakteur des Rudé právo und ZK-Mitglied, in Moskau die deutschen Kommunisten um Ulbricht und den allgemein propagierten Kampf gegen eine gemeinsame „Volksfront“ mit den Sozialdemokraten massiv in Frage gestellt. Gegen den Kritiker wurde fortan eine „Schmutzkampagne“ gestartet, Ende 1933 der Parteiausschluss verfügt. Fritz Beer gehörte einem Gesprächskreis kritischer Kommunisten – aus dem weiteren Umfeld der Guttmann-Opposition – um eine gute Freundin, die heute meist nur als Kafkas Geliebte bekannte Journalistin Milena Jesenká, und um ihren damaligen Freund Evžen Klinger an. Als „Abweichler“ wurde Fritz Beer im Dezember 1933 vor die Wahl gestellt, entweder seine „Vergehen“ zu „gestehen“ oder ausgeschlossen zu werden. Das löste eine persönliche Krise aus. Vor den Parteivize Rudolf Slánský zitiert, legte er das geforderte „Geständnis“ ab. Infolgedessen wurde er für sechs Monate aller Parteiarbeit enthoben, von Parteifreunden ausgegrenzt und verleugnet. Ablenkung verschaffte ihm die Arbeit an einem „Tanzspiel“, das im Januar 1934 auf der Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Feier der kommunistischen Jugend aufgeführt wurde – „Mischung von Sprechchor und Tanz, zur Musik von Gershwins »Rhapsody in Blue«“ (Grandpa, 269). Dabei wird ein Mädchen aus behüteten bürgerlichen Verhältnissen angesichts der Nöte von Arbeitern und Arbeitslosen schließlich in eine revolutionäre Klassenkämpferin verwandelt. Dass Beer (zusammen mit Hans Burger) den „Volksbühnenbund in der ČSR“ gründete, mit dem Ziel – angeregt von Fürnbergs Echo von Links-Spieltruppe und unter dem Einfluss von Brecht und Piscator – „Proletarisches Theater“ statt „bürgerlicher Illusionsbühne“ durchzusetzen, lag ganz auf dieser Linie.
Von der kommunistischen Presse ausgeschlossen, wurde Beer zum freien Mitarbeiter der Prager Abendzeitung. Milena Jesenská riskierte es, das Publikationsverbot zu unterlaufen, indem sie ihm Veröffentlichungen in der Illustrierten der kommunistischen Genossenschaftsbewegung Svět práce unter dem Ps. Jan Kamenitzky (an anderer Stelle: Hans Stein) ermöglichte. 1934 wurde er von der Partei „begnadigt“, um erneut am Aufbau einer Ersatzzeitung für verbotene Parteipresse mitzuwirken. Als Feuilletonchef war nun Ernst Ottwalt sein Vorgesetzter. Im Anschluss daran wurde Beer zum außenpolitischen Redakteur der Roten Fahne berufen. Unterdessen vertiefte sich seine Freundschaft mit Louis Fürnberg. Als der seinen Posten bei der AIZ aufgab, rückte Beer 1934 in die Redaktion auf und wurde damit Kollege von F. C. Weiskopf, dem Chefredakteur, Fritz Erpenbeck, John Heartfield u. a. Ersten „Ruhm“ bescherte ihm eine „introspektive Industriereportage“ – Aus dem Leben einer Perle – über den Weg eines groben Stücks Glas zu einer mundgeblasenen Gablonzer Perle bis zum Teil einer Kette am Hals einer jungen Frau. Egon Erwin Kisch bescheinigte Beer beeindruckt: „Sie könnten mein Nachfolger werden.“ (Grandpa, S. 300) Neben der Redaktionstätigkeit für die AIZ arbeitete er zusätzlich für die Wochenzeitung Gegen-Angriff unter Bruno Frei. Dagegen war Beer nur mit seinem Namen im Impressum an der illegalen Wochenzeitschrift österreichischer Kommunisten Einheit beteiligt. Damals trat er auch als Redner auf: bei Veranstaltungen der kommunistischen Jugend, der Erzgebirgshilfe oder zum Beispiel bei einem Vortrag „Die Jugend und der Krieg“ im Bert-Brecht-Klub, in dessen Vorstand er tätig war. Mit der Bemerkung, er gehöre der „verlorenen Generation“ an, provozierte er heftigen Widerspruch von Parteifunktionären, die im drohenden Krieg das revolutionäre Morgenrot der Freiheit anbrechen sahen. Die zweifelnde Haltung Beers in dieser Zeit wurde durch den Einfluss von Milena Jesenská ebenso bestärkt wie durch die Moskauer Prozesse und die Lektüre von Silones parteikritischem Roman Wein und Brot.
Nach seiner Einberufung zum Militär am 1. Oktober 1936 wurde Fritz Beer schon bald als „politisch unzuverlässig“ in eine Art Strafgarnison nach Prešov verlegt, wo er – als Intellektueller, als Deutscher, als Kommunist und besonders als Jude – Schikanen ausgesetzt war. Das bestärkte Pläne zur Desertion, um am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen, die jedoch scheiterten. Während der Septemberkrise von 1938 zunächst mobilgemacht, wurde Beers Einheit schließlich nach dem Münchner Abkommen eingesetzt, um Flüchtlinge aus dem Sudetengebiet zu evakuieren. Nach dem deutschen Einmarsch vom 15. März 1939 floh Beers Familie zunächst nach Trebitsch zur mütterlichen Verwandtschaft, Fritz Beer von dort weiter nach Prag, wo er untertauchte. Unterdessen fahndete die Gestapo nach „K. Friedrich“ – sein Pseudonym. Da die KP im Untergrund der Unterstützung der Flucht von Beer keine Priorität einräumen wollte, wagte er sie auf eigene Faust. Es gelang ihm, sich – ähnlich wie Anna Maria Jokl oder Ludwig Winder – bei Mährisch Ostrau über die Grenze nach Polen zu retten. Ausgestattet mit einem britischen Einreisevisum, das er dem Einsatz des Freundes Albin Stübs verdankte, emigrierte er schließlich mit 80 weiteren Intellektuellen von Gdynia aus nach England und traf am 25. April 1939 in London ein. Dort schloss er sich der „Thomas-Mann-Gruppe“ an. Diese war eine Sektion innerhalb des wichtigen Unterstützungswerks „Czech Refugee Trust Fund“. Der CRTF, bis Juli 1940 als „British Committee for Refugees from Czechoslovakia“ organisiert, verwaltete, formal dem „Home Office“ unterstellt, die Versorgung der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei – im Wesentlichen aus Mitteln einer in Großbritannien deponierten Finanzhilfe, welche die britische Regierung im Januar 1939 der tschechischen Regierung zur Verfügung gestellt hatte. Fritz Beers Zugehörigkeit gerade zu dieser überparteilichen Gruppe entsprach dabei auch seinem Abstand von der KP. Noch als deren Mitglied nahm er an Sitzungen teil, aus denen der „Freie Deutsche Kulturbund“ hervorging. Wie schon in Prag, erlebte er die Rivalitäten innerhalb der Exilszene in London ernüchternd. Solchen Zwisten fielen manche Gefährdete zum Opfer, wenn in den Empfehlungs-Ausschüssen der Exilorganisationen kein gemeinsames Votum für die Erteilung von Visen zustande kam; die KP tat sich dabei unrühmlich hervor. Als Konsequenz aus derartigen Erfahrungen, besonders aber dem Hitler-Stalin-Pakt, vollzog Beer auch formal seinen Abschied aus der Partei. Fortan war er für die Exilkommunisten persona non grata, sah sich mit Denunziationen und Stigmatisierung konfrontiert. In der Thomas-Mann-Gruppe gehörte Beer dagegen – neben den Journalisten Bernhard Menne und Wilhelm Sternfeld – als der Zahlmeister zu den Protagonisten. Sternfeld zählte dabei zu den Gründern des „Club 43“, an dem sich Beer, auch nach dem Krieg, gelegentlich beteiligte.
Nachdem er eine politische Debattiergruppe – mit u. a. Menne und Julius Hollos – ins Leben gerufen hatte, nahm sich Fritz Beer – wie Ernst Sommer, Felix Langer und Ludwig Winder – vor, ein Buch über die Tschechoslowakei und ihren Zusammenbruch zu schreiben. Sein Anliegen scheiterte daran, dass er sich fünf Monate nach Kriegsbeginn freiwillig für den Dienst in der Tschechoslowakischen Auslandsarmee meldete, die im südfranzösischen Agde aufgebaut wurde. Nach nur unzureichender Ausbildung wurden zwei Infanterieregimenter aufgestellt. Als Beers Einheit, das 1. Regiment unter General Kratochvíl, Teil der 23. französischen Division, an der Seine und der Loire auf die Deutschen traf, erwies sich, dass die Auslandsarmee im Chaos des Zusammenbruchs eher symbolischen als militärischen Wert hatte. Beer erreichte schließlich den Sammelplatz der Reste der Auslandsarmee bei Narbonne. Beunruhigt von Gerüchten – Auslieferung an Hitler – erwog er mit Kameraden die Flucht nach Spanien. Tschechische Exilpolitiker nutzten das Machtvakuum in Südfrankreich jedoch zu Geheimverhandlungen mit den Franzosen und erreichten so die Evakuierung der Soldaten auf dem Seeweg. Nach der Landung in Liverpool wurde die Auslandsarmee in „Cholmondeley Park“ bei Chester untergebracht, wo nationale Konflikte und politische Gegensätze eine ständige Quelle von Spannungen waren. Noch im selben Jahr heiratete Beer die aus Berlin stammende jüdische Emigrantin Ursula Rosemarie Davidson. Später gab es ein fünfmonatiges Intermezzo außerhalb der Armee:
Obwohl ich in Prag niemals eine Universitätsvorlesung besucht hatte, wurde ich in einer Liste im tschechoslowakischen Kriegsministerium in London als Student der Jura geführt und im Winter 1941 mit einem Dutzend anderer Studenten und Rechtsanwälte in der Armee, nach Cambridge geschickt, um an der dorthin evakuierten London School of Economics unsere Kenntnisse zu erweitern. (Grandpa, S. 482)
Dank verheißungsvoller Studien – so über Kriegswirtschaft im Dritten Reich – erregte er die Aufmerksamkeit von Jan Masaryk, der insbesondere Beers Untersuchung über die „statistischen Grundlagen einer Wirtschaftsföderation osteuropäischer Staaten ohne die Sowjetunion“ zu einem Buch ausgebaut sehen wollte. Von Kommunisten unter den tschechischen Mitstudenten beim Außenministerium als „Trotzkist“ denunziert, wurde Beer der Auftrag wieder entzogen. Allerdings hatte Beer inzwischen Erfolge in der Exilpresse erreicht. So verfasste er Beiträge für die Wochenzeitung Čechoslovak (v Anglii) und das Regierungsorgan Central European Observer. Obwohl Fritz Beer im Frühjahr 1942 bei der Exilregierung zu Unrecht in Ungnade gefallen war, wurde er im Jahr darauf mit einer – geheimen – Studie für die „Studienkommission fuer Erziehungsfragen des csl. Innenministeriums in London“ betraut, einem Dossier, das dem Umgang mit der deutschen Minderheit in der Nachkriegstschechoslowakei gewidmet war: Zur demokratischen Um-Erziehung der Deutschen in der CSR – Eine vorlaufige [sic] Untersuchung. Beer entwickelt darin eine Art „Reeducation“-Programm, das Voraussetzung für eine Integration der Deutschen sein soll. Die Untersuchung benennt das „Ziel demokratischer Erziehung“ und empfiehlt Maßnahmen zur „Liquidierung des national-sozialistischen Erziehungs-Systems“. Nach grundsätzlichen Vorüberlegungen befasst sich der zweite Teil der Studie mit der Reorganisation eines deutschen Schulwesens, der Erwachsenenbildung und des allgemeinen Kulturlebens. Als Prämisse stellt Beer fest, die Arbeit beruhe auf der Annahme, „dass die Deutschen aus der kuenftigen CSR nicht ausgesiedelt werden.“ So ist die Studie ein Plädoyer für eine Reintegration der Deutschen. Unterschwellig scheint sich eine Skepsis des Autors bezüglich der tatsächlichen Chancen einer derart besonnenen künftigen Haltung gegenüber den Deutschen mitzuteilen. Mit einer breiten Differenzierung der Deutschen in Henleinanhänger (und der Gründe dafür) und in aktive Demokraten tritt der Verfasser Pauschalurteilen und drastischen politischen Ableitungen daraus entgegen. Zum Ausfertigungsdatum „Oktober 1943“ waren die Weichen für eine Vertreibung der Deutschen aus der Nachkriegstschechoslowakei freilich bereits gestellt.
Auch mit literarischen Arbeiten erregte Fritz Beer in dieser Zeit Aufmerksamkeit. Der Dichter John Lehman hatte eine Kriegserzählung Beers – Retreat in France – in seiner Anthologie New Writing (1942) berücksichtigt. Der deutsche PEN-Club im Exil trug ihm daraufhin die Mitgliedschaft ein. Seine Kurzgeschichte Im Morgengrauen erhielt den ersten Preis eines Preisausschreibens der Londoner deutschen Die Zeitung und wurde dort am 15. Juli 1941 unter dem Ps. Albrecht Laufer abgedruckt; eine englische Fassung – A German Pilot – erschien 1942 in der Claire Market Revue: Die tschechoslowakischen Soldaten hatten den Auftrag, die Besatzung eines abgeschossenen deutschen Bombers in Kriegsgefangenschaft zu nehmen. Beer schildert den inneren Konflikt seines als Zeuge von deutschen Kriegsgreueln in Polen traumatisierten Vorgesetzten, der zwischen einem Racheakt am Verwundeten und dem Gebot der Menschlichkeit entscheiden muss.
1943 wurde aus den Truppen an ihrem neuen Standort Leamington Spa und einem aus dem Nahen Osten nach England verlegten Regiment die „Unabhängige Tschechoslowakische Panzerbrigade“ unter General Liška gebildet. Im August 1944 wurden 4259 Soldaten in die Normandie verlegt. Zunächst wurde die Truppe im Küstenbereich und als Geleitschutz für den Nachschub nach Brüssel eingesetzt. Im Oktober übernahm sie die Belagerung von Dünkirchen. Nach Kriegsende entschied sich Fritz Beer, nach England zurückgekehrt, unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Vertreibung der Deutschen und einer zu befürchtenden kommunistischen Dominanz in der Tschechoslowakei gegen die Rückkehr nach Prag, wo er ungewollt auf den Posten als außenpolitischer Redakteur der Armeezeitung Naše Vojsko beordert worden war. Ausschlaggebend war vor allem die Sorge um seine deutsche Frau und die Tochter Maria, geboren 1943. In London erfuhr er Einzelheiten über das Schicksal seiner nächsten Verwandten. In der „Mühseligen Einleitung“ zu Kaddisch für meinen Vater zieht er eine traurige Bilanz. Der Vater, der Bruder Hans und die Schwägerin Ruth waren aus Brünn nach Zamošč deportiert und ermordet worden. Die Mutter war 1941 in Brünn gestorben. Die Atmosphäre bei der vergeblichen Suche auf den Listen von Überlebenden ist Gegenstand von Fritz Beers Erzählung Die Lücken zwischen den Namen. Auch Kurt Beer, unter dem Pseudonym Kurt Konrad prominenter kommunistischer Journalist, wurde Opfer der Nazis: Offiziell Presseattaché an der sowjetischen Botschaft in Prag war er zuvor als Teil der Widerstandsbewegung wesentlich an der Militärspionage sowohl für die Exilregierung in London als auch für die Sowjetunion beteiligt. Nach seiner Verhaftung und nach Folterungen verübte Kurt Beer 1941 in der Gestapo-Haft in Dresden Selbstmord, um nicht Geheimnisse zu preiszugeben. Die Rolle des älteren Bruders unterzieht Fritz Beer an verschiedenen Stellen einer kritischen Würdigung. In seiner Autobiographie zeigt er, wie dieser Skrupel an der Parteilinie aus hehren Idealen schließlich der Parteidisziplin unterwirft – ein Wendepunkt, der die Wandlung zum Stalinisten markiert. In seinem Essay Brauchen wir Ketzer stellt Fritz Beer den Bruder in eine Reihe von Märtyrern mit dem heute bekannteren Jan Pallach oder den Geschwistern Scholl.
Durch Anregung des Freundes Karl Anders wurde Beer zu dessen Nachfolger als Leiter der „Sendung für den deutschen Arbeiter“ bei der BBC – Auftakt zu 30 Berufsjahren im Dienste des Senders. Seine ersten Radiobeiträge – Appelle zum tatkräftigen Bekenntnis zu demokratischen Werten – lösten ein starkes Echo aus. In dieser Zeit hielt Beer im Rahmen des „Reeducation“-Programmes – wie auch Felix Langer – zahlreiche Vorträge in POW-Camps. Vor Kriegsgefangenen, oft SS-Leuten, war ein häufiges Thema seiner Reden: „Antifaschismus ist nicht genug“; der Einsatz für Demokratie müsse hinzukommen – eine Position, welche auch auf der kritischen Sicht gegenüber der sowjetischen Realitäten beruhte. Die erste Wiederbegegnung mit Deutschland 1946 wurde für Fritz Beer keine leichte Mission: „Jeder erwachsene Mann, dem ich begegnete, konnte ein Mörder sein.“ (Grandpa, 521) Dennoch machte er sich zum Credo: „Wie schwer es auch manchmal sein wird – ich muß für die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen eintreten, damit es so etwas nie wieder gibt. Nur das hat Sinn.“ (Grandpa, 525) Eindrücke dieser ersten Nachkriegsreisen, das facettenreiche Bild einer insgesamt noch verstörten Gesellschaft, spiegelt die Autobiographie wider. In einem Rückblick beschreibt Beer 1998 eine seiner zahlreichen Reportagereisen – im Frühjahr 1948 durch das Rheinland und das Ruhrgebiet – und porträtiert darin seinen Begleiter Viertel kritisch. 1949 erschien Fritz Beers Buch Das Haus an der Brücke im Nürnberger Nest-Verlag von Karl Anders, der ein bemerkenswertes Programm von Exilliteratur herausbrachte, darunter Romane von Ernst Sommer und (Al-)Fred Marnau. Das Haus an der Brücke umfasst Kriegserzählungen, die auf Erlebnissen des Verfassers in Frankreich 1940 in England beruhen, darunter Im Morgengrauen.
Während seiner Arbeit für die BBC und deutsche Sender verfasste Beer zwischen 1950 und 1985 etliche Rundfunkporträts und Fernsehbeiträge. 1954-1980 war Beer zudem Londoner Korrespondent der Essener NRZ – Neue Ruhr Zeitung, dann auch des Mannheimer Morgens und der Hannoverschen Presse. 1977-79 übte er das Amt als Präsident des Verbandes der Auslandspresse in London aus. Als Journalist verfolgte Fritz Beer auch die Reformbewegung in der ČSSR. Im Mai 1967 reiste er nach über 28 Jahren zum ersten Mal wieder in die Tschechoslowakei, die er anschließend im Monat (Die unvollendete Losung. Ein Besuch in der Tschechoslowakei) beschrieb.
Die Eindrücke eines zweiten Aufenthaltes, im Februar/März 1968, lagen politischen Analysen zugrunde, die er im Mai 1968 wiederum im Monat veröffentlichte. Bei aller Bereitschaft Beers, die Signale der Hoffnung unter der Bevölkerung zu begrüßen, mahnt er dazu, die realistischen Möglichkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Als Mitverfasser des Bandes Der Fall CSSR. Strafaktionen gegen einen Bruderstaat verfasste Fritz Beer den Beitrag Prag auf dem Weg in einen neuen Sozialismus, der – nach einem Abriss der Geschichte der Tschechoslowakei seit 1918 – eine ausführliche Chronologie des Demokratisierungsprozesses zwischen dem 31. Oktober 1967 (Dubčeks Rücktrittsforderung gegenüber Novotný) und dem 20. August 1968, dem Beginn der Invasion in die ČSSR bietet; besonderes Gewicht legte Beer auf Vaculiks berühmtes Manifest der 2000 Worte (27. 6. 1968). Bei einer dritten Reise in die ČSSR im November 1968 bemühte er sich auszuloten, was von den Impulsen des „Prager Frühlings“ übriggeblieben war. Das Ergebnis war seine komplexeste Beschäftigung mit der Tschechoslowakei: Die Zukunft funktioniert noch nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei 1948-1968 (1969) ist neben der Geschichte der Wiederbegegnung des Autors mit seiner einstigen Heimat eine auf zahlreichen Gesprächen beruhende politische Reportage. Neben den 60er Jahren – mit der ausführlichen Darstellung der Reformbewegung – steht die Ära der Terrorwelle nach dem Februar 1948 im Mittelpunkt. Beers besonderes Interesse gilt dabei den Slánský-Prozessen, bei denen zahlreiche ihm gut bekannte Protagonisten aus der KP – wie Slánský, Gminder, Šling und Frejka – verurteilt wurden. Den Schock, den die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ bedeutete, vermittelt Beers Bericht: Stimmungen zwischen Resignation und anhaltendem Hoffen und Bangen. In seiner Analyse überwiegt dabei die Tendenz, die Verhältnisse nach dem August 1968 immer noch als Fortschritt gegenüber der Novotný-Ära zu werten. Mit dem Wort von der „noch nicht funktionierenden Zukunft“ signalisiert Beer, dass er durchaus nicht bereit war, die Vision von einer besseren Zukunft der Tschechoslowakei aufzugeben. Für seine publizistischen Beiträge über die Tschechoslowakei wurde Beer 1969 mit dem „Josef-Brunner-Journalistenpreis“ ausgezeichnet.
1988 wurde Fritz Beer Präsident des PEN deutschsprachiger Autoren im Ausland. Im Zuge dieser Tätigkeit etablierte Fritz Beer bei zahlreichen Anlässen seinen Ruf als (selbst-)kritischer Denker und als geistige Autorität. Wichtige Stellungnahmen und Essays sind dabei entstanden: Im Rahmen des Else-Lasker-Schüler-Forums zum 60. Gründungstag des „Exil-PEN“ 1994 in Wuppertal machten Fritz Beer und Chaim Noll ihren kontroversen Briefwechsel über dessen Buch Nachtgedanken über Deutschland zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte; dabei wies Beer Nolls extrem kritisches Deutschlandbild als überzogen zurück. Im selben Jahr erschien – herausgegeben von Fritz Beer und Uwe Westpfahl – der Sammelband Exil ohne Ende. Darin spiegeln sich unter anderem die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Auslands-PEN und den innerdeutschen PEN-Zentren bezüglich des Umgangs mit in der DDR durch Beteiligung an der Stasi belasteten Autoren wider. Beers darin enthaltener Essay Eine unbequeme Existenz befasst sich mit der Geschichte des „Exil-PEN“ und leitet aus ihr das Selbstverständnis der Nachfolgeorganisation in der Gegenwart ab. In der Rede Rückblick auf die Zukunft, die Beer bereits auf der PEN-Tagung in Dubrovnik 1993 hielt, zeichnet er den Weg von der kontroversen PEN-Tagung 1933 in Ragusa zur Gründung des deutschen Exil-PENS in London und zur Umorientierung zum PEN-Zentrum deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland im Jahre 1948 nach. Während des Autorencolloquiums „Kunst und Freiheit/Literatur und Diktatur“ 1997 an der Universität Jena wurde Fritz Beer für sein „Lebenswerk mit seiner immer wieder bekräftigten produktiven Humanität“ (Ulrich Zwiener) die Ehrenmitgliedschaft des Collegium Europaeum Jenense verliehen. 1998 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Unter Beer hatte das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland sich in der deutschen Öffentlichkeit als eine Stimme zurückgemeldet und mit Erfolg zahlreichen Versuchen widerstanden, ihm seine Berechtigung abzusprechen – so im Jahr 2000 durch den Internationalen PEN. Vor diesem Hintergrund überraschte die Initiative Beers und Westpfahls, ihn zum Jahresende 2001 aufzulösen. Die Selbstauflösung, die keineswegs ungeteilte Zustimmung fand, war der Einsicht gefolgt, dass eine würdige und geordnete Auflösung einem absehbaren Ende mangels ausreichend aktiver Mitglieder vorzuziehen sei.
Bereits 1992 erschien Fritz Beers Autobiographie Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa?. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus: Beer analysiert die schleichende „Entmenschlichung“, beispielsweise
wieso Tausende anständige und idealistisch motivierte Kommunisten in den dreißiger Jahren schließlich in einem moralischen Sumpf versanken, die Massenvernichtung russischer Bauern ignorierten, die Ermordung der leninistischen Elite in der Sowjetunion guthießen und nicht gegen den Hitler-Stalin-Pakt rebellierten.
Beers Autobiographie zeichnet sich durch das Bekenntnis zum vorübergehenden Arrangement mit dem Wissen um solche bedrückenden Wahrheiten aus. Rückblickend erinnert er sich an die Verdrängung von Zweifeln und der Ahnung des „unbehaglichen Gefühls, daß mein Verhalten nicht sauber war.“ Anstatt sich zum Oppositionellen der ersten Stunde zu verklären, beschreibt er den Prozess, der ihn von einem Mitläufer, der die Haltung „Die Partei hat immer recht“ verinnerlicht hatte, zu einem Zweifler und schließlich – mit seinem Parteiaustritt – auch zum konsequent Handelnden werden ließ. Damit lebte er seine Forderung nach einer Aufarbeitung auch der „roten Vergangenheit“, wie er sie z. B. in Brauchen wir Ketzer? anmahnt, vor. Fritz Beers Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa? gehört zu den offensten und eindrucksvollsten kritischen Beschäftigungen mit der KP aus eigener Anschauung. Es kann gleichberechtigt neben Werken wie besonders Manès Sperbers Die vergebliche Warnung, Arthur Koestlers Lebenserinnerungen, Georg K. Glasers wenngleich weniger analytischem Geheimnis und Gewalt und – international – neben berühmten Texten wie denen von Stephen Spender, Ignazio Silone, André Gide, Richard Wright oder Louis Fisher stehen, wie sie zum Beispiel die bekannte Anthologie The God that failed (1950), wenngleich Instrument des Kalten Kriegs, zusammenfasst. Fritz Beers Autobiographie gehört zu den bemerkenswertesten Beispielen dieser Gattung nicht nur der deutschen Exilliteratur.
Beers letztes Werk ist das Buch Kaddisch für meinen Vater. Essays, Erzählungen und Erinnerungen. Es umfasst drei Dutzend, überwiegend unveröffentlichte, Texte, einen beeindruckenden Querschnitt durch das Werk von Fritz Beer aus der Zeit von 1941 bis 2002. Der Titelessay Kaddisch für meinen Vater (2001) ist die bewegende Beschäftigung Beers mit seinen jüdischen Wurzeln, mit der Figur des – später ermordeten –Vaters, mit der Frage der moralischen Haltung in Überlebensnot, der fließenden Grenze zwischen Heldentum und Kollaboration – für den Autor ein Text, der geschrieben werden musste, und – „das Beste, was ich je geschrieben habe.“ Darin löst Beer ein, wozu er immer wieder gemahnt hat: Aufarbeitung der Vergangenheit, selbst wenn diese schmerzlich ist. Mehrere seiner Essays thematisieren, wie schwer ihm selbst die Beschäftigung mit der Shoah fällt: Anstoß zum Briefessay Warum ich nicht erinnern will, in dem er Renate Lasker-Harpprecht diese Haltung erläutert, waren Anita Lasker-Wallfischs Erinnerungen an das Mädchenorchester von Auschwitz Ihr sollt die Wahrheit erben (dt. 1997). Enthalten sind ferner alle wesentlichen Essays und Reden aus den letzten 10 Jahren, darunter die wichtigsten Äußerungen in Zusammenhang mit der PEN-Präsidentschaft. Als ein Schlüsseltext kann dabei die Rede Heimat, Exil, Sprache gelten, in der Beer seine Position als „vaterlandsloser Geselle“ auslotet, dessen Heimat aber die deutsche Muttersprache geblieben ist, immer wieder jedoch gefährdet durch die Entfernung vom alltäglichen Sprachgebrauch in „fremder“ Umgebung. Die Reden Brauchen wir Ketzer? und Wer lange am Ufer des Flusses sitzt sind Teil seiner Auseinandersetzungen um Nonkonformismus und um Anpassung in totalitären Systemen.
In Kaddisch für meinen Vater wiederzuentdecken ist Fritz Beer als Erzähler, so mit der Wiederveröffentlichung von sechs Erzählungen aus Das Haus an der Brücke und unveröffentlichter Prosa. Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, dass Beer in mehreren dieser Erzählungen bereits unmittelbar nach dem Krieg die französische Selbstwahrnehmung als geeintes Volk der résistance in Frage stellt, die Kollaboration als ein durchaus begreifliches Verhalten zum Thema macht und ein einseitiges Bild der deutschen Besatzer zurückweist – eine Mythoszertrümmerung, Jahrzehnte bevor diese Diskussion in Frankreich geführt wurde.
Zwei mehr oder minder autobiographische „mährische“ Erzählungen erinnern an die Zeit seiner Kindheit und Jugend: Eine Stütze der Gesellschaft ist eine Beschäftigung mit der Figur des Großvaters und gleichzeitig ein mit feiner Ironie und Humor geschildertes Sittengemälde eines Brünner Mikrokosmos aus den ersten Jahren der Tschechoslowakischen Republik; Der Schwarze Ochse schildert selbstironisch die erste komplizierte Liebesgeschichten in der Pubertät. Die Erzählung Alter Spitzel ist eine parabolische Auseinandersetzung um Konformismus und Nonkonformismus, um Kollaboration und Denunziation in einem totalitären Staat, für den die stalinistische Tschechoslowakei Pate stand.
Hinzu kommt eine Reihe von Erzählungen, in denen sich Beers Exilerfahrungen in England widerspiegeln. Darunter ist Die Heimkehr des Andreas Kersten, eine bemerkenswerte Einfühlung in die Welt des Exildichters Jesse Thoor, den Fritz Beer in London kennengelernt hatte. Der Bericht Die ersten Stunden des Friedens und die autobiographische Erzählung Lücken zwischen den Namen reflektieren die zwiespältigen Erfahrungen der unmittelbaren Zeit nach dem Kriegsende, als sich Erleichterung mit der Konfrontation mit Leid und der Unsicherheit über die Zukunft vermischten. Der Erinnerungstext Thomas Mann und der jüdische Autoschlosser (2002) verbindet eine Würdigung von Wilhelm Sternfeld mit der kritischen Wahrnehmung von Thomas Mann, die auf dessen Auftritt vom 18.5.1949 in der „Wiener Library“ in London zurückgeht. Ein Zwischenfazit, Summe seines bisherigen Lebens, zieht Beer in Mehr als ich erwarten durfte.
Bis zu seinem Tode im Jahre 2006 gehörte Fritz Beer als Journalist und Schriftsteller und als eine der letzten Stimmen seiner Generation seit langem zu den engagiertesten und herausforderndsten Persönlichkeiten des literarischen Lebens. Gleichzeitig zählte er zu den originären Vertretern deutschsprachiger Literatur Böhmens und Mährens, die ins Exil gezwungen wurden. Beers Lebenswerk ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Publizistik und – allen voran seine Autobiographie – zur Gegenwartsliteratur. Mehr noch, sind seine Reden und Essays, wie sie in Kaddisch für meinen Vater erstmals gesammelt erschienen, ein gewichtiger Beitrag zur Kultur der kritischen Debatte, der Auseinandersetzung, des Zwiegesprächs. Es ist dabei erstaunlich – und noch am ehesten durch seine oft unbequemen Einwürfe zu erklären – dass die Beachtung, die Beer findet, mit dem Rang seines Werks und dem Gehalt seiner Denkanstöße nicht einhergeht. Ideologische Vorbehalte dürften hinreichend mit erklären, warum Fritz Beer in der Vergangenheit in vielen Forschungsbeiträgen aus der DDR (so der repräsentativen Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil, in der Fürnberg-Forschung usw.), in der Memoirenliteratur mehrerer Zeitgenossen und Weggefährten sowie in einigen Nachschlagewerken (so von Heimatvertriebenen) zur dort sogenannten „Sudetendeutschen“ Literatur keine Erwähnung fand. Dagegen ist die Nicht-Berücksichtigung im sonst weitgehend repräsentativen Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (2000) oder die nur beiläufige Zurkenntnisnahme der Auflösung des traditionsreichen „Auslands-PEN“ ebenso unverständlich wie das Schicksal seiner „bewegenden Autobiographie (die der Aufbau-Verlag nicht wieder drucken mag)“ – das mokierte Klaus Harpprecht in der ZEIT. Es ist zu erwarten, dass Kaddisch für meinen Vater zu einer neuen Wahrnehmung Fritz Beers als einem tiefgründigen Essayisten, engagierten Redner und bemerkenswerten Erzähler einen Beitrag leisten kann. (Christoph Haacker, Wuppertal)