In seiner Prosaskizze Der Kalif lässt der mährische Dichter Hermann Ungar einen pseudologischen Handelsagenten monologisieren, dessen Verbitterung über die eigene und gesellschaftliche Armseligkeit in die Idee umgeschlagen ist, insgeheim sei er ein großer Staatsmann, der in aller Stille dem Wohl der Menschheit diene, Frieden und Ordnung stifte: Ich weiß, wirklich ist bloß, was ich gedacht habe [...]. Ich weiß es, und ich gehe durch die Straßen der Stadt [...] mit meinem Geheimnis wie Harun al Raschid. Ich gehe durch Bagdad, unerkannt wie der Kalif.i
Die gleiche Ambivalenz von uneigentlicher und eigentlicher Existenz, doch ohne die Beruhigung einer Illusion, war bestimmend auch für Ungar selbst, dem es zeitlebens nicht gelang, den quälenden Widerspruch zwischen bürgerlichem Beruf und literarischer Berufung aufzuheben. Erst kurz vor seinem Tod, nachdem er mit einer dramatischen Nebenarbeit bekannt wurde, konnte er seine Selbstzweifel, die ihn über lange Jahre in den Käfig bürgerlicher Konventionen gesperrt hatten, endlich überwinden und entschied sich, zu spät, für das unabhängige Dasein eines freien Schriftstellers. So blieb er bis zuletzt ein unerkannter „Kalif“.
Über die Tragik solch eines verfehlten Lebens tröstet ihn hinweg, dass es gerade die Unvereinbarkeit seines äußeren und inneren Seins war, die Ungar immer wieder zum literarischen Affront gegen die bourgeoise selbstzufriedene Weltsicht trieb, zu radikalen Werken, in denen er mit veristischer Unerbittlichkeit und ohne Angst, Tabus zu verletzen, Ordnung und Form als Masken entlarvt, die notdürftig das Eigentliche und Ursprüngliche im Menschen, das Triebhaft-Chaotische verdecken. Dass dieser rücksichtslose Angriff zuerst den eigenen Befangenheiten galt, blieb den Zeitgenossen indessen verborgen; sie verschlossen sich Ungars unliebsamen Wahrheiten, ignorierten ihn oder schimpften ihn einen Pathographen. Dabei gab er nichts als seine existentielle Erfahrung wieder und es lenkte ihn nichts mehr, als die psychische und soziale Determination des Menschen aufzuzeigen und damit zu durchbrechen. Als er starb, schrieb Rudolf Kayser:
Ungar hatte nur wenige Leser für sich gewonnen. Er kam in nichts der Schlagwortherrlichkeit unserer Tage entgegen. Er schuf Menschen aus seiner heimlichsten Atmosphäre. Die war grausam und schwer. Das wollte man nicht, das verzieh man ihm nicht. Er war ein Dichter.ii
Trotz mancher Bemühungen hat sich an dieser desolaten Situation bis heute nur wenig geändert, weil der „Kalif“ noch immer unerkannt durch „Bagdad“ geht. Die Gründe liegen im Werk Ungars selbst, in der thematischen Radikalität, die wohlfeilen Lesegenuß ausschließt; äußere Faktoren wie der frühe Tod, das geringe Echo zu Lebzeiten oder die Katastrophen der jüngeren Geschichte taten ein Übriges, den Dichter ins Abseits zu stellen. Rezeptionswellen nach dem Krieg, die sich dem Expressionismus und der Exilliteratur verschrieben, konnten ihn, der für das eine zu spät, für das andere zu früh gekommen war, nicht ans Licht spülen, und auch der Nachruhm des in manchem mit Kafka verwandten, stand der Aufnahme Ungars eher im Wege. Erste Versuche einer Wiederentdeckung durch Neuveröffentlichungen, wissenschaftliche Arbeiten, Fernsehspiele oder Theaterinszenierungen blieben ohne dauerhaften Erfolg. Erst in neuerer Zeit scheint sich eine Besinnung auf Hermann Ungar anzudeuten, im Rahmen eines allgemein erwachten Interesses für die geistigen und künstlerischen Leistungen der Prager deutschen Literatur. Ihr sichtbarster Ausdruck ist die Edition Sämtlicher Werke in drei Bänden (2001/02), die erstmals in zuverlässiger Textgestalt und kritisch kommentiert alle überlieferten Werke des Dichters bietet.
Geboren wurde Hermann Ungar als Sohn des deutschjüdischen Branntweinfabrikanten und Schankwirts Emil Ungar und dessen Frau Jeanette, geb. Kohn, in der südwestmährischen Kleinstadt Boskowitz, unweit von Brünn; er wuchs im jüdischen Teil der Stadt auf, der bis 1919 selbständig war und ghettoähnlich vom tschechisch-christlichen Teil separiert. Die mährische Herkunft, die in mehr als einer Hinsicht als Wurzel seines Werkes zu begreifen ist, rückt ihn synchron neben Ludwig Winder und Ernst Weiß, diachron neben Marie von Ebner-Eschenbach oder Jakob Julius David. Als einer der ersten hat Otto Pick auf Gemeinsamkeiten der mährischen Dichter hingewiesen, in einem Aufsatz über „Deutsche Dichter in Brünn und im mährischen Gebiet“; im Vergleich mit den böhmischen und Prager Autoren erweist sich ihre Eigenart vor allem im „schwermütigeren Unterton ihrer Schöpfungen“, in der „Neigung zum Exakten, zur Sachlichkeit, zur prägnanten Objektivität“ und im klaren Zurückschauen auf leidvolle Kindheitserlebnisseiii, in Phänomenen, die auch für Ungar gelten und schon in seinem ersten Buch Knaben und Mörder signifikant sind.
Äußerlich verlief Ungars Kindheit wohlbehütet, was aber nicht verhindern konnte, dass sie zu traumatischen Ergebnissen führte, deren Spuren sich dann in fast allen seinen Werken verfolgen lassen. Obwohl ihm zwei Geschwister nachgeboren waren, wurde ihm zur prägenden Grunderfahrung die Isolation, einmal verschuldet durch mangelnde Zuwendung seitens der kranken, erblindenden Mutter und durch eine gestörte Identifikation mit dem schwachen Vater, dann durch die erniedrigende Ghettosituation der deutschen Juden, die sich äußerlich zwar aufzulösen begann, tatsächlich aber mit dem nach der Hilsner-Affäre (1899) eskalierenden tschechischen Antisemitismus noch einmal reaktiviert wurde. Es gelang Ungar nicht, ein sicheres Selbst aufzubauen, er reagierte mit Gefühlen von Selbsthaß, die neurotisch eine Ich-Schwäche festigten. Die Symptome dieser Entwicklung, von Entscheidungsschwäche, fehlendem Selbstvertrauen oder Unterwerfungshang bis hin zu gestörter Körperakzeptanz, Nervenüberreizungen und einer skurril anmutenden Hypochondrie, begegnen in zahllosen späteren Lebensäußerungen und sind oft auch entscheidende Charaktermerkmale der Protagonisten im Werk. Als Reaktionsbildungen, im Sinne von Kompensationsversuchen, sind auch kindliche Rollen- und Theaterspiele Ungars zu verstehen, seine lebenslange Lust am zynischen Spott, seine Sehnsucht nach halbdistanzierter Gemeinschaft, die ihn später ins Gesellschaftsleben, in nationaljüdische Studentenverbindungen, eine Literatenvereinigung und zu den Freimauern zog, und ganz zuerst die Flucht in die Literatur, zunächst im passiven Lesen, dann im eigenen Schreiben.
Nachdem Ungar von 1900 bis 1903 die deutsche Volksschule in Boskowitz besucht hatte, wechselte er zum II. deutschen Gymnasium nach Brünn, wo er zum Vorzugsschüler avancierte. Wie er selbst in einer Kindheitserinnerung bemerkt, fand er in dieser Zeit zum Schreiben: Ich habe [...] viele Theaterstücke geschrieben, fast alle zwischen meinem fünfzehnten und siebzehnten Lebensjahr, Stücke mit sehr viel leidenschaftlicher Liebe und vielen grauenhaft ermordeten Leichen.iv Seine pubertären Leiden hat Ungar später im Schulroman Die Klasse gespiegelt, aber auch in den meisten anderen Arbeiten, augenfällig im Erstling Knaben und Mörder und im Roman Die Verstümmelten, erscheint die Sexualität als dämonische Macht, wird die Frau zur Verlockung und Bedrohung zugleich für den Ich-schwachen und gehemmten Protagonisten. Es ist kein Zufall, dass diese Sicht auch bei anderen jüdischen Autoren mit ähnlichem biographischen Hintergrund auffällt, so in Ludwig Winders Prosabüchern Die jüdische Orgel (1922) und Hugo. Tragödie eines Knaben (1924).
In Brünn lernte Ungar zum ersten Mal den Judenhass der Deutschen kennen; er nahm ihm die Illusion seines Deutschtums und engagierte ihn für ein streitbares nationales Judentum und die zionistische Idee, in denen er eine Antwort auf seine ungelösten Identitätsprobleme erblickte. Intensiv beschäftigte sich der Gymnasiast mit jüdischen und zionistischen Fragen, im privaten Studium wie innerhalb der nationaljüdischen Mittelschülerverbindungen Veritas (Brünn) und Laetita (Boskowitz). Die neue Orientierung war es dann auch, die Ungar 1911 nach der „mit Auszeichnung“ bestandenen Reifeprüfung bewog, in Berlin Orientalistik zu studieren.
Das Berliner Studium währte nur ein Semester, war aber doch wichtig, weil er in dieser Zeit zwei lebenslange Freunde kennenlernte, Gustav Krojanker und Ludwig Pinner, die wie er selbst Mitglieder der Verbindung Hasmonäa waren. Auf Drängen des Vaters begann Ungar 1912 in München dann das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften (dort gehörte er der Jordania an), das er nach zwei Semestern in Prag fortsetzte und 1918 mit der Promotion zu Ende brachte. In Prag war er Couleurstudent der nationaljüdischen Barissia, die sich als „Kampftruppe gegen den deutsch-böhmischen Liberalismus“ verstand, wuchs hier in die Rolle eines geistigen Reformers hinein und war vor dem Krieg eine Zeit lang sogar ihr Präses. Da er in ihr echte Gemeinschaft fand, blieb er der Barissia bis zuletzt treu, obgleich er später, besonders durch die Kriegserfahrungen, zu einer kritischen Sicht des Couleurwesens kam und sich auch vom Zionismus entfernte, weil er meinte, dieser rufe nur einen neuen intoleranten und aggressiven Nationalismus in die Welt.
Von Ungars letzten literarischen Arbeiten vor dem Krieg wissen wir nur durch die Erinnerung Krojankers; offenbar ist, dass er die Prosa als ihm gemäßes Genre entdeckt hatte und unter neuromantischem Einfluss stand:
Die Romane und Novellen, die in diesen Jahren [...] entstanden, haben auf mich immer den gleichen Eindruck gemacht: nämlich den einer sicher vorhandenen Begabung, deren Ausdruck aber noch viel zu weich, zerfließend und formlos war. Es war schon eines Dichters Art, zu sehen, aber noch ohne seine Hand und auch noch ohne Gegenstand.v
Erst das erschütternde Erlebnis des Krieges revolutionierte Ungars Schreiben und machte ihm die literarische Sendung bewusst, der Zerstörung des Humanen entgegenzuwirken: Ich habe im Krieg die unmittelbare Gefahr des Todes stündlich vor mir gehabt, aber als ich betete, betete ich, dass mich Gott nur leben lassen solle, wenn ich zum Dichter ausersehen sei. Ich lebe.vi Noch an der Front entstanden (heute verschollene) Gedichte; gegen Kriegsende, nach einer Verletzung, die ihn frontdienstuntauglich gemacht hatte, schrieb er ein pazifistisches, mit expressionistischem Pathos erfülltes Drama (Krieg), das erst 1990 gedruckt werden sollte, und vor allem einen Roman, mit dem er sich kathartisch von den Traumata seiner Kindheit befreien wollte – das jedenfalls legt Krojanker nahe, der in seinem Nachruf von diesem verlorenen Werk berichtet:
Dieses Manuskript [...] war der Roman eines jungen Juden, aufgewachsen in der Orthodoxie, [...] und dieser Orthodoxie nicht sinngemäß, sondern blutmäßig verfallen. Auf dem Helden dieses Romans, der in die große Stadt kommt und dort vergeblich auch um innere Freiheit ringt, lag die ganze Last unserer Geschichte. In ihm hatten nicht nur alle die äußeren Erniedrigungen unseres geschichtlichen Lebens in irgendeiner Form ihren Ausdruck gefunden, sondern vor allem auch das Unnatürliche, Gewaltsame, jeden Trieb Erstickende eines streng dem Gesetz unterworfenen Daseins. Es war der Aufschrei eines von innen und außen geknechteten Menschen, dem all seine Freiheit nichts nützt, weil die Generationen in ihm stärker sind als die Bedingungen seines individuellen Daseins, und der daran zugrunde gehen muß, weil er diese Bindungen nur erbmäßig mit sich herumschleppt, ohne noch in ihrem Sinne zu ruhen.vii
Mit der einzigen Ausnahme des Schauspiels Der rote General ist Ungar später nie wieder so offen auf das unbewältigte Thema seines Judentums eingegangen und hat seine Gestalten selbstverleugnend sogar christlich drapiert; dennoch sind auch die meisten der weiteren Werke deutlich von jüdischem Gepräge, sind seine unfreien Menschen, die unter dem Gesetz von Schuld und Sühne stehen, noch gegen den Dichterwillen zuletzt als Inkarnationen jüdischer Eigenpsychologie begreiflich. Ihre allgemeine Relevanz mindert das nicht, ist doch der unbehauste Galuthjude ein gültiges Exempel des modernen Menschen schlechthin, wohl aber vertieft es die existentielle Dimension.
Nach dem Krieg fiel es Ungar zunächst schwer, seinem Leben eine Richtung zu geben. Kurze Zeit arbeitete er als Konzipient in einer Prager Advokatur, war dann vorübergehend Dramaturg am Stadttheater in Eger und wurde schließlich widerwillig Bankangestellter der deutschen Escompte-Gesellschaft in Prag. Die eintönige, in denkbar krassem Widerspruch zu seinem Lebensideal stehende Arbeit in der Bank missfiel ihm derart, dass er froh war, als sich ihm die Gelegenheit bot, zum Jahreswechsel 1920/21 als Vertragskonzeptbeamter der Expositur des tschechoslowakischen Amtes für Außenhandel nach Berlin zu gehen. Zuvor war im Wiener Verlag von E. P. Tal sein erstes Buch erschienen, Knaben und Mörder, mit den Erzählungen Ein Mann und eine Magd und Geschichte eines Mordes. Anfangs kaum beachtet, machte es seinen Namen in literarischen Kreisen bald bekannt, als Thomas Mann ihm eine ausführliche und enthusiastische Kritik widmete.
Knaben und Mörder enthält inhaltlich und in der klaren Diktion der Sprache bereits den ganzen Ungar und weist sich allenfalls durch die gewählte Perspektive, nämlich die von Dostojewski abhängige Form der Lebensbeichte und die starke, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit verfremdete Autobiographik – vor dem Milieuhintergrund des heimatlichen Boskowitz wird das innere Erleben von Kindheit und Pubertät reflektiert – als Frühwerk aus. Beide Erzählungen geben sich als sachlich-kühle Berichte entfremdeten Lebens, innerer und äußerer Verödung. Ohne jedwede Abschweife, in düsteren Farben beschreiben die Protagonisten ihr Scheitern an der Welt, ihre aus sozialen wie psychischen Ursachen gewachsene Unfähigkeit, in natürliche, angstfreie Beziehungen zu ihren Mitmenschen zu treten, eine Unfähigkeit, die sich zuerst in ihrem gestörten Verhältnis zur Sexualität äußert. Dabei schreckt Ungar vor keiner Kraßheit oder Monstrosität zurück, die noch gesteigert wirken durch die distanzierte Erzählhaltung und ihr Eingebundensein in nüchtern beschriebene Alltäglichkeit. Der bisweilen erhobene Vorwurf wirklichkeitsferner und pathologischer Vorliebe für Grenzfälle des Menschseins trifft dennoch nicht; ihm läßt sich mit Thomas Mann begegnen, der zu Recht die „vom Osten empfangene Kunst“ rühmt, das seelisch Extreme, Exzentrische, ja Groteske als das eigentlich Menschliche empfinden zu lassen.viii
Mit Knaben und Mörder war Ungar, von kleineren Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen abgesehen, zum ersten Mal als Dichter an die Öffentlichkeit getreten; kaum zehn Jahre blieben ihm danach für sein Werk. Dass er beruflich bald diplomatische Karriere machte, war kein Trost und eher verhängnisvoll, weil es den Mut, sich ganz der Literatur zu verschreiben, noch zusätzlich lähmte. Anfang 1922, als das tschechoslowakische Außenministerium das Amt für Außenhandel übernahm, wurde Ungar Vertragsbeamter in der Handelsabteilung der Gesandtschaft; noch im gleichen Jahr avancierte er zum Konsularattaché, 1928 wurde er zum 2. Legationssekretär ernannt. Die unglückliche Doppelexistenz als Diplomat und Dichter, ein Abbild seines inneren Schwankens zwischen Anpassung und Rebellion, wurde durch familiäre Pflichten noch auswegloser, nachdem er 1922 in Prag Margarete Weiß, geb. Stransky, geheiratet hatte; der Ehe entstammen zwei Kinder, Michael Thomas (1923) und Alexander Matthias (1929).
Ende 1922 erschien als Ungars zweites Buch der Prager Roman Die Verstümmelten, der als sein Hauptwerk gilt. Noch in Prag begonnen, sind hier viele Eindrücke und Erfahrungen aus Ungars Zeit als Bankbeamter der Escompte-Gesellschaft verarbeitet, bei der er von April bis September 1920 angestellt war. Namentlich das Eingangskapitel, von Otto Pick 1922 auch in der ursprünglichen Ich-Fassung unter dem Titel Der Bankbeamte im Sammelbuch Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei veröffentlicht, hat unverkennbar autobiographischen Gehalt: Der dort beschriebene monotone Tagesablauf des kleinen Bankbeamten Franz Polzer, der sich resignativ in sein ungeliebtes Schicksal gefunden hat, dürfte ganz weitgehend seine realistische Entsprechung gehabt haben. Obwohl der Roman dann bald ins Magisch-Traumatische hineinwächst, finden sich auch später noch Reminiszenzen der konkreten Wirklichkeit, etwa in den Beschreibungen der drückenden Büroatmosphäre, der Bankkollegen, der Spaziergänge und Ausflüge. Das Prag der Verstümmelten ist subjektiv erlebt und eben deshalb – wie Ludwig Winder in seiner Kritik beobachtet – weder das „alte Prag der Golemstimmungen“ noch das „moderne Prag“ der Tschechen: Ungars Prag ist gespenstischer als Meyrinks gespenstische Stadt: gespenstisch in der Nüchternheit eines mörderischen Alltags, der die großen Wunder und Verbrechen mit dem Schall gleichzeitig vorbeihastenden Stadtlärms verbirgt.ix
Die eigentliche Autobiographik des Romans liegt in der psychologischen Zeichnung des Protagonisten; es wundert daher nicht, dass Ungar zunächst in der Ich-Form begann, die er schon für Knaben und Mörder gewählt hatte und die seinem existentiellen Schreiben am ehesten entsprach. Erst im Fortgang des Romans besann er sich auf die Gefahr, mit dem Ich-Erzähler identifiziert zu werden und wechselte zur distanzierteren Er-Form über. Dem „verehrten Meister“ Thomas Mann, der in seiner Knaben und Mörder-Kritik Ungars „verantwortliche Art“, den „Geist der Gewissenhaftigkeit“ gerühmt hattex, schrieb er in diesem Zusammenhang mit dem Bekenntnis, er sei „ohne Erkenntnis, tappe in Zweifeln, oft im Verzweifeln“:
Ich zweifle [...], ob ich die Form der „Er-Erzählung“ schon beherrsche, die auch Sie der „Ich“-Form vorzuziehen scheinen. Mir ist als gingen eben in ihr, der „Er“-Form diese Dinge, von denen Sie schreiben, daß sie mir wesentlich seien, verloren. So kommt es, dass mein Roman, in „Ich“-Form begonnen, noch nicht vollendet ist, da ich ihn in „Er“-Form umschreibe, was natürlich andere Einstellung erfordert. Mir ist, als ginge hiebei manches verloren, eine gewisse Wehmut, die über dem Ganzen gewesen wäre und nicht zuletzt die Vorsicht der Aussage, ihre letzte Unbestimmbarkeit.xi
Das Streben nach „letzter Unbestimmbarkeit“, aus der Überzeugung heraus, dass es keine alleinige Wahrheit gibt und der Mensch unfähig ist, sich auch nur selbst bis auf den Grund zu begreifen, war es dann auch, was Ungar dazu bewegte, den Roman offen mit der Katastrophe enden zu lassen und ein ursprüngliches Schlusskapitel zu streichen, das eindeutig Täter und Opfer identifiziert.
In den Verstümmelten geht Ungar unerschrocken bis ans Ende des Weges, den er mit Knaben und Mörder eingeschlagen hatte: In einem sachlichen und unprätentiösen Stil, ohne inhaltliche Abschweifungen, ohne vordergründige Deutungsangebote und in strenger Chronologie verfolgt er das Schicksal seiner in je anderer Weise „verstümmelten“ Figuren bis zur unausweichlichen Konsequenz der Katastrophe. Im Mittelpunkt steht Franz Polzer, den ärmliche Herkunft, lieblose Kindheit, ein traumatisches Erlebnis und eine inhumane, monotone Arbeit bis zur Lebensunfähigkeit zerstört haben. Seine paranoide Angst vor einer feindlichen Welt hat ihn gelähmt und in den scheinhaften Schutz einer internalisierten „Ordnung“ gezwungen. Angst und Ekel kulminieren in seinem gestörten Verhältnis zur Sexualität, und eben hier nimmt das Unheil seinen Lauf: Als sich seine Wirtin Klara Porges, von Geschlechts- und Geldgier besessen, in seine enge, durchgeordnete Welt drängt, gerät Polzers krampfhaft errichtetes Lebenssystem ins Wanken. Die Unfähigkeit zu autarker Existenz liefert ihn den Anstürmen der Witwe aus, die ihn mit sadistischer Energie zu ihrem Liebhaber macht und öffentlich beschämt. Verstrickt in eigene und fremde Zwänge, sieht er hilflos dem Chaos entgegen.
Mit Polzers Schicksal verbindet sich das seines Jugendfreundes Karl Fanta, in dem Ungar seinen eigenen Zynismus übersteigert hat. Er wirkt wie ein umgekehrtes Spiegelbild Polzers: Entspringt dessen Ich-Zerfall zwanghafter Passivität, so ist Fantas Destruktion, die sich in sadistischer Aggressivität äußert, Folge einer schrecklichen Krankheit, die ihn zu einem beinlosen, einarmigen Torso verstümmelt. Fürchtet Polzer das Leben und schreckt vor der Frau zurück, so hängt Fanta panisch noch an seinem zerstörten Dasein und ist ganz aufs Geschlechtliche fixiert. Obwohl die Krankheit seinen Geist geschärft hat und ihn eher als Polzer die Intrigen der Witwe und den gefährlichen Wahnsinn des Pflegers Sonntag ahnen läßt, kann auch er in seiner Todesangst die Katastrophe nicht aufhalten.
Ein grausamer Ritualmord an der Witwe steht am Ende, bei dem in der Schwebe bleibt, wer ihn beging: der fanatische Pfleger, der von einer kruden Schuld-Sühne-Theorie besessen ist, oder der verzweifelte Polzer im Versuch, die zerstörte Ordnung wiederherzustellen. Die eigentliche Schuldfrage liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Sie zielt auf das Problem menschlicher Willensfreiheit und Determination und wird, wie die ausweglose Konsequenz der Ereignisse vorführt, von Ungar eher pessimistisch beurteilt.
Otto Flakes Diktum, der Dichter der Verstümmelten sei ein Fanatiker der Causalitätxii, hat alle Berechtigung, und dem idealistisch orientierten Kritiker ist nur in seiner ablehnenden Wertung zu widersprechen: Die Bedeutung des Romans liegt gerade in der jede Zufälligkeit und Konstruktion meidenden Folgerichtigkeit, mit der den versehrten Menschen hier ihr Schicksal zuwächst. Neben der strukturierenden Kausalität sind es vor allem die lückenlose Psychologie, der zum schrecklichen Inhalt kontrastierende und ihn beglaubigende nüchterne Stil, die zwingende Atmosphäre und der Mut zum Extrem, die Ungars Roman zu einem der wesentlichsten in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts machen.
Ein väterlicher Freund während der Berliner Jahre war für Ungar der Presseattaché der tschechoslowakischen Gesandtschaft, der heute zu Unrecht vergessene Lyriker Camill Hoffmann. Durch ihn lernte Ungar den Kulturbetrieb Berlins kennen und viele Schriftsteller der Zeit; mit einigen, wie Ernst Weiß oder Egon Erwin Kisch, war er schon in Prag bekannt gewesen. Obwohl das Gegenteil eines Kaffeehausliteraten, eines Literaten überhauptxiii, suchte Ungar solche Begegnungen; eine Zeit lang war er sogar Mitglied der von Rudolf Leonhard initiierten Gruppe 1925. Für diese linksstehende, aktivistische Schriftstellervereinigung hatte er sich durch seinen Dokumentarbericht Die Ermordung des Hauptmanns Hanika. Tragödie einer Ehe (1925) ausgewiesen, den Leonhard in der Reihe „Außenseiter der Gesellschaft“ des Verlags Die Schmiede herausgegeben hatte. Darin rekonstruiert Ungar einen aufsehenerregenden Kriminalfall, der sich in der Nähe von Boskowitz ereignet hatte; er tut dies ohne jeden literarischen Anspruch, doch zeigt sich dafür in seltener Deutlichkeit seine gesellschaftskritische Haltung und sein Verständnis schriftstellerischer Verantwortung.
1927 erschien im Rowohlt Verlag Ungars zweiter Roman Die Klasse, der vielen als sein reifstes Buch gilt, weil es weithin die Krassheiten der früheren Prosa meidet und tröstlich schließt. Im Schicksal des neurotischen, an Minderwertigkeitsgefühlen leidenden Protagonisten, des Lehrers Josef Blau, werden ein weiteres Mal menschliche Existenznot, Verantwortung, schuldhafte Verstrickung und seelische Verstümmelung thematisiert, aber am Ende öffnet sich die Perspektive ins Freie, ersteht eine unbestimmte Hoffnung auf die Überwindung menschlicher Grenzen, und schon vorher ist die Düsternis durch positive Gegenfiguren (wie den skurrilen Onkel Bobek) und burlesken Humor aufgehellt. Das literarisch Bedeutsame des Romans liegt aber nicht in der für Ungar sonst wenig typischen ethischen Schlussauflösung, sondern in der konsequenten Darstellung aus der verengten Sicht der ich-schwachen Hauptfigur, in einem Subjektivismus, der jede scheinbar objektive Wirklichkeit auflöst und den Leser zur bestürzenden Identifikation mit einer extremen Psyche zwingt. In der Klasse taucht eine Figur auf, die 1922 schon in der Novelle Colberts Reise ihr seltsames Spiel trieb: der unterwürfige Diener und heimliche Sozialrevolutionär Modlizki, dem seit vielen Jahren das größte Interesse des Autors gehört[e]xiv, weil er in ihm sein eigenes zweigleisiges Leben spiegeln und fiktiv eben die rebellische Auflehnung gegen gesellschaftliche Ordnung und Form leben konnte, die er für sich nicht wagte. Ein letztes Mal handelt der dämonische Diener in der Komödie Die Gartenlaube, die stofflich von der Novelle ausgeht, hat dort aber an Affinität zum Autor verloren.
Die geringe Resonanz, die Ungar mit seinen Romanen und Erzählungen erfuhr, verleitete ihn dazu, sich dem Drama zuzuwenden. Tatsächlich wurde er dann mit den Stücken Der rote General (Berlin, Theater in der Königgrätzer Straße, 15.9.1928) und Die Gartenlaube (Berlin, Theater am Schiffbauerdamm, 12.12.1929) relativ bekannt, doch lag dies weniger an ihrem literarischen Gewicht als an der Thematik: Das Revolutionsstück Der rote General, in dem es um das Problem Judentum und Bolschewismus geht, wurde als Schlüsseldrama über Trotzki und Stalin gesehen; die Bürgersatire Die Gartenlaube, deren Uraufführung Ungar nicht mehr erleben durfte, schockierte durch ihre unverblümte Behandlung der Sexualität.
Seit Mitte 1928 lebte Ungar wieder in Prag, wo er als Ministerialkommissar im tschechoslowakischen Außenministerium arbeiten sollte. Seine Gesundheit war aber durch einen Autounfall, durch neurasthenische Anfälle und Blinddarmreizungen so sehr erschüttert, dass man ihm bald langdauernden Urlaub gewähren musste. In dieser Zeit rang er sich endlich dazu durch, seinen bürgerlichen Beruf aufzugeben; am 10. Oktober 1929 schied er endgültig aus dem diplomatischen Dienst aus. Keine drei Wochen später, am 28. Oktober, starb er, unerwartet und tragisch, an einer akuten Blinddarmentzündung; am 30. Oktober wurde er auf dem jüdischen Friedhof Smíchov-Malvazinka begraben. Erst jetzt erfuhr die Witwe Margarete, dass ihr Mann einer Prager Freimaurerloge beigetreten war.
Ende 1930 erschien im Rowohlt Verlag noch ein Band mit Erzählungen und Skizzen, Colberts Reise, der neben der Titelnovelle und einigen bis dahin nur verstreut publizierten Texten auch Nachlassmaterial enthielt. Trotz eines Vorworts von Thomas Mann blieb er fast unbeachtet.
Hermann Ungar fand nur wenige Leser, weil er – wie Paul Kornfeld im wehmütigsten und zornigsten der Nachrufe schreibt – selber zu den „Wenigen“ gehörte:
Die Tinte fließt, die Maschinen arbeiten, die Blätter der gedruckten Bücher rascheln. Dilettanten, Nichtskönner, Konjunkturjäger, Modeaffen schreiben und schreiben, und zwischen ihnen allen verteilt, Jeder auf einer wie im Schatten liegenden Insel, sind die Wenigen, die Einzelnen. Sie wissen nicht, was man heute braucht, sie laufen nicht, immer vom Augenblick überrumpelt, mit allem, was des Weges kommt, sie schwimmen nicht mit jedem Strom der Gegenwart, sondern sie stehen da, der Gegenwart gegenüber, nur auf ihre eigene Natur aufgebaut, nur aus ihrem eigenen Wesen bestehend. Es soll hier nicht Literaturgeschichte getrieben, nicht im einzelnen gewogen werden, aber im ganzen muß es gesagt sein, daß Ungar zu den Wenigen gehört hat. Seine Bücher sind düster und beklemmend, die Menschen seiner Erzählungen gequält, zerrissen und bedrückt, alles ist voller Leid und Schmerz, aber alles ist voll innerer Erfahrung und voller Wahrhaftigkeit; alles ist symbolhaft und hinter dem einzelnen steht immer die Welt.xv
i Hermann Ungar: Der Kalif. In: Ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Werke 2: Erzählungen. Oldenburg 2001.
ii Rudolf Kayser: Zwei Tote: Arno Holz und Hermann Ungar. In: Die Neue Rundschau 40 (1929) Berlin, S. 860.
iii Otto Pick: Deutsche Dichter in Brünn und im mährischen Gebiet. In: Prager Presse 7 Nr. 333 (4.12.1927), Beilage: Brünn, die Hauptstadt von Mähren, S. 12.
iv Hermann Ungar: „Wallenstein“ von mir. In: Ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden. Werke 3: Gedichte, Dramen, Feuilletons, Briefe. Oldenburg 2002.
v Gustav Krojanker: Hermann Ungar zum Gedächtnis. In: Jüdische Rundschau 34 Nr. 99 (17.12.1929) Berlin, S. 671.
vi Hermann Ungar: Tagebuch-Aufzeichnungen (1928). In: Werke 3 [Anm. 4].
vii Krojanker [Anm. 5].
viii Thomas Mann: „Knaben und Mörder“. In: Vossische Zeitung Nr. 248 (29.5.1921) Berlin.
ix L. W. [Ludwig Winder]: Erzähler. In: Deutsche Zeitung Bohemia 96 Nr. 24 (31.1.1923) Prag, S. 2.
x Mann [Anm. 8].
xi Brief Ungars an Thomas Mann vom 30.5.1921. In: Werke 3 [Anm. 4].
xii Otto Flake: Bücher. In: Die Weltbühne 19 (1923) Berlin, S. 508.
xiii Erich Cohn: Dem Andenken Hermann Ungars. In: Jüdische Rundschau 34 Nr. 86 (1.11.1929) Berlin, S. 576.
xiv Hermann Ungar: Die Gartenlaube. Komödie in drei Akten (Vorbemerkung). In: Ders.: Werke 3 [Anm. 4].
xv Paul Kornfeld: Hermann Ungar †. In: Das Tage-Buch 10 Nr. 44 (2.11.1929) Berlin, S. 1839f.
(Dieter Sudhoff, Paderborn)