Unter den deutschmährischen Autoren der Zwischenkriegszeit war Ernst Wolfgang Freissler einer der erfolgreichsten. Noch zu seinen Lebzeiten erreichten seine Bücher eine Auflagenhöhe von über einhunderttausend, nicht gerechnet seine Übersetzungen von Joseph Conrad und George Bernard Shaw. Er war ein weltoffener, liberaler Mann. In keinem seiner Bücher findet man nationalistische oder rassistische Tendenzen. Durch seine Tätigkeit als Lektor für den S. Fischer Verlag in Berlin, als Übersetzer und als Redakteur des Rundfunks in Königsberg hat er das literarische Leben seiner Zeit mitgestaltet.
Ernst Wolfgang Freissler stammte aus einer angesehenen Troppauer Bürgerfamilie. Sein Vater Dr. Ernst Freissler war Chefarzt des Krankenhauses, Mitglied des Stadtparlaments und Begründer des Troppauer Ärztevereins. Sein älterer Bruder, der Jurist Dr. Robert Freissler wurde nach der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik im Jahre 1918 Landeshauptmann der deutschösterreichischen Provinz Sudetenland und nahm an den Friedensverhandlungen in St. Germain teil. Seine Erinnerungen sind im Jahre 1921 unter dem Titel Vom Zerfall Österreichs zum Tschechoslowakischen Staat erschienen.
Nach dem Studium der Wirtschafts- und Rechtswissenschaft in Wien ging Ernst Wolfgang Freissler als Bankbeamter nach Mailand und Kairo. Seit 1909 ist seine Mitarbeit an der satirisch-sozialkritischen Zeitschrift Simplicissimus in München nachweisbar, für die er unter dem Namen E. W. Günter kleine Betrachtungen und Glossen verfasste. Für den Verlag Albert Langen, der den Simplicissimus herausgab, übersetzte Freissler - ebenfalls unter dem Pseudonym E. W. Günter - die zwei Romane von Joseph Conrad Der Nigger vom Narzissus (1912) und Mit den Augen des Westens (1913) sowie den Erzählungsband Caspar Ruiz (1914). Freisslers erste selbständige Veröffentlichung in Buchform ist das Werk Schwefelblüte, eine Sammlung von Betrachtungen und kurzen Erzählungen aus dem Simplicissimus, doch nun unter seinem richtigen Namen.
Er beschreibt darin Ereignisse und Personen aus dem Blickwinkel des überlegenen Beobachters, meist mit einem ironischen Unterton, so als wollte er sein Erstaunen darüber ausdrücken, dass die Menschen alles so ernst nehmen und damit sich und den anderen das Leben unnötig schwer machen. Es seien kleine psychologische Feuilletons und geistreiche satirische Menschenporträts, befand der Kritiker der Breslauer Zeitung. In einer Rezension des Hamburgischen Korrespondenten wird Freissler ein amüsanter Plauderer genannt, der Schwächen und Launen seiner Mitmenschen in geradezu diabolischer Weise verspotte.
Auch Freisslers zweite Veröffentlichung Der Hof zu den Nussbäumen und andere Novellen mit der erstaunlichen Auflage von 8.000 Stück fand in der Öffentlichkeit ein positives Echo. Die Vossische Zeitung (Berlin) lobte Freissler für den geglückten Versuch, im Mikrokosmos den Makrokosmos widerzuspiegeln, gewissermaßen im abgesprungenen Splitter die Totalität darzustellen, nach Meinung des Rezensenten habe Freissler das Talent eines echten Novellisten.
Um das Jahr 1910 trat eine Wende im Leben Freisslers ein. Er gab seine bisherige Tätigkeit auf, verließ die Heimat und wurde freier Schriftsteller. Offenbar konnte er den bürgerlichen Beruf als Bankbeamter nicht länger mit der Existenz als Schriftsteller vereinen. Die Verbindung mit dem Albert Langen Verlag als Autor und Übersetzer dürfte der Grund gewesen sein, sich in Bayern in der Nähe von München niederzulassen, wo sein Aufenthalt erstmals für das Jahr 1914 bezeugt ist. Er nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an, wohnte bis 1925 in Wildenroth bei München und in den folgenden Jahren auf dem Michlbauernhof in Vordereck bei Hausham.
Auch gesundheitliche Gründe spielten bei dem Umzug nach Bayern mit. Freissler war seit Längerem lungenleidend und erhoffte sich vom Klimawechsel eine Besserung seiner Gesundheit. Wie seine Familie auf den ungewöhnlichen Berufs- und Ortswechsel reagiert hat, ist nicht bekannt, doch dürften auch ganz persönliche Motive hinter dem Schritt gestanden haben. Das legt jedenfalls sein Roman Junge Triebe nahe, den Josef Walter König als „Roman aus Troppau“ und Paul Buhl als „Schlüsselroman“ bezeichnen. Der Roman steht in literaturgeschichtlicher Sicht in der Tradition tragischer Schülergeschichten wie Freund Hein von Emil Strauss (1902) und Unterm Rad von Hermann Hesse (1906). Sie schildern, wie sensible Schüler unter dem Unverständnis ihrer Umwelt leiden und dabei seelisch zermürbt werden. Aber während die jungen Menschen bei Strauss und bei Hesse keinen anderen Ausweg mehr als den Tod sehen, kommt es bei Freissler schließlich doch noch zu einem guten Ende.
Trotz positiver Kritiken war Freisslers erster Roman wenig erfolgreich, desgleichen der heute verschollene zweite Roman Kampf um Eros. Erst mit dem Glockenkrieg, einer humorvollen Erzählung aus dem italienischen Dorfleben, fand er einen seinem satirisch-ironischem Talent entsprechenden Erzählstoff. Der Wettstreit zwischen den ligurischen Dörfern Stibiveri und Temoni um das schönste Geläut der Kirchenglocken bot Freissler Gelegenheit, scharf umrissene Menschentypen zu zeichnen und ihre kleinen und großen Schwächen zu karikieren. Mit der Gestalt der hexenhaften Magd Carmelita ist ihm eine sehr einprägsame Frauengestalt gelungen, während Frauen sonst bei ihm merkwürdig konturenlos erscheinen. Die Zeitschrift Die Literatur (Stuttgart) lobte den Glockenkrieg als „reifste Kunst, die turmhoch über die vielen sich dichterisch gebärdenden Dorfromane hinausragt.“ Der Kritiker der Berliner Börsenzeitung schrieb: „Dieser Roman ist von einem so selten echten Humor und von einer so springlebendigen Drastik der Schilderung, dass man von ihm sagen kann, er hat in unserer Literatur nicht seinesgleichen.“
Ein Dorf- und Heimatroman der gehobenen Art ist auch der Roman Das Gewitterjahr, für den Freissler das heimatliche Altvatergebirge als Schauplatz wählte. Auch bei diesem Stoff mag ihn wie beim Glockenkrieg die Möglichkeit gereizt haben, Menschen einer noch unverfälschten Welt mit ihren alltäglichen Freuden und Leiden darzustellen. Aber nicht in nostalgischer Verklärung, sondern in durchaus sozialkritischer Sicht. Das Gewitterjahr ist Freisslers einziger Roman, in dem Menschen aus seiner engsten Heimat im Mittelpunkt stehen und er in der Gestalt des Johann Friede aus dem Bieletal einen typischen Schlesier mit seiner Mischung aus Grüblertum, Naturliebe und Eigensinn zum Träger der Handlung macht.
Der Roman beginnt in der Silvesternacht des Jahres 1898, als ein starkes Gewitter die Bewohner eines armen Bergdorfs in Angst und Schrecken versetzt und als schlimmes Vorzeichen gedeutet wird. Tatsächlich scheinen mehrere Unglücksfälle die Vorhersage zu bestätigen. Der Dorfkaufmann sperrt die Kredite, ein Holzfäller verunglückt tödlich, die Schneeschmelze verursacht ein bedrohliches Hochwasser und eine Wildererbande aus dem Mährischen lenkt den Verdacht auf unschuldige Dorfbewohner. Dabei ist die tägliche Arbeit hart genug. Auf den steilen Berglehnen kann kein Zugtier mehr Fuß fassen, so dass die Menschen den Dünger mit Buckelkörben hinaufschaffen und sich selbst oft vor den Pflug und die Egge spannen müssen. Schwer hat es auch der Zimmermann Friede, Streit und Uneinigkeit in der Gemeinde rauben ihm oft den Schlaf. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, vom Domkapitel in Breslau, dem die großen Waldungen gehören, eine Erneuerung der in Vergessenheit geratenen Rechte zu erreichen; dazu zählt neben Weide- und Nutzrechten die Freigabe von Waldflächen zur Rodung, um mehr anbauen zu können. Friede hat auch die Gabe, intuitiv Krankheitsursachen zu erkennen und sie mit Heilkräutern zu behandeln, gerät aber durch Intrigen in den Verdacht der Kurpfuscherei. Vor allem der Dorfbürgermeister ist sein größter Widersacher. Friede wird sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Doch nach seiner Entlassung erlebt er eine Überraschung. Als er sich dem Dorf nähert, sieht er die Männer beim Roden des Bergwaldes. Der neue Bürgermeister hat Friedes Ideen gegenüber dem Grundherren zum Sieg verholfen. Für das Dorf beginnt eine bessere Zukunft.
Der Roman entwirft ein Bild der sozialen Lage im Altvaterland vor hundert Jahren. Der Gegensatz zwischen armen Häuslern und der privilegierten Schicht der Forstbeamten wird klar herausgearbeitet. Während die Mehrheit der Bevölkerung die Hoffnung auf Verbesserung ihrer Situation längst aufgegeben hat, wagt der eigenwillige Friede, gegen die Resignation anzugehen. Unüberhörbar ist der leicht ironische Unterton, mit dem Freissler die Dörfler charakterisiert, die „bei Kartoffeln mit Salz, bei Brot und Quark und dünnem Kornkaffee“ ihr Begnügen finden. Auch der „Hang zum Hintergründigen und Jenseitigen“, laut Adalbert Schmidt „Freisslers schlesisches Bluterbe“, wird vom Autor karikierend dargestellt. Hervorzuheben ist der mundartlich gefärbte Erzählstil. So schreibt Freissler beispielsweise „hortich“ (statt hurtig), „ank“ (etwas), „Gemäre“ (Gerede), „a bissla“ (ein bisschen), „gelüstig“ (begierig), „Packla“ (Päckchen), und „dasmal“ (diesmal). Fünf Jahre nach seinem Erscheinen hatte der Roman eine Auflage von 40.000 Stück erreicht.
In der Biographie Emin Pascha griff Freissler auf eine historische Person aus Oberschlesien zurück. Es ist die Lebensbeschreibung des in Oppeln geborenen Afrikaforschers Eduard Schnitzer (1840-1892). Gestützt auf seine Tagebücher und Briefe zeichnet Freissler das abenteuerliche Leben Schnitzers nach, der an der Erschließung des Sudans beteiligt war, Gouverneur der Äquatorialprovinz wurde und am Westufer des Viktoriasees eine deutsche Station gründete. Der unter dem türkischen Namen als Emin Pascha bekannte Forscher fiel einem Attentat zum Opfer. Freisslers Buch erschien in der Reihe Stern und Unstern des Münchner Beck-Verlags und gilt bis heute als klassische Biographie Schnitzers.
Die Verdienste Freisslers als Übersetzer gründen sich auf seine Übertragungen der wichtigsten Romane und Erzählungen von Joseph Conrad. Die meisten waren die ersten deutschen Ausgaben, die den englischen Schriftsteller erst im deutschsprachigen Raum bekannt machten. Auch Shaws essayistisches Hauptwerk Wegweiser für die intelligente Frau lernten die deutschen Leser erstmals in der Übersetzung Freisslers (zusammen mit Siegfried Trebitsch) kennen.
Im Jahre 1927 ging Freissler als Lektor für ausländische Literatur zum S. Fischer Verlag nach Berlin, fünf Jahre später wurde er künstlerischer Leiter des Ostmarken-Rundfunks in Königsberg. Eine bei Wilhelm Kosch erwähnte Tätigkeit als Pressechef des Wanderzirkus Hagenbeck ist nicht belegbar. Im Jahre 1933 zog er mit seiner Frau und den zwei Kindern nach Worpsede bei Bremen. Die Verschlechterung seines Leidens veranlasste ihn Anfang 1937, das Krankenhaus der Borromäerinnen in Stadt Olbersdorf aufzusuchen, wo er im Alter von 52 Jahren starb. Seine letzte Veröffentlichung war die Serie Schlesische Köpfe in der Troppauer Zeitung Neues Tagblatt, deren letzte Folge am 28. März 1937 erschien.
(Julius Bittman, Altötting)
Verzeichnis der von Freissler übersetzten Werke:
Joseph Conrad: Der Nigger vom Narzissus. Roman. Albert Langen, München 1912.
Joseph Conrad:Das Biest. Novellen. Albert Langen, München 1912.
Joseph Conrad: Mit den Augen des Westens. Roman. Albert Langen, München 1913.
Joseph Conrad: Caspar Ruiz und andere Erzählungen. Albert Langen, München 1914.
Joseph Conrad: Spiel des Zufalls. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 1926.
Joseph Conrad: Das Ende vom Lied. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 1926.
Joseph Conrad: Das Herz der Finsternis. Novelle. S. Fischer Verlag, Berlin 1926.
Joseph Conrad: Lord Jim. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 1927. 1959.
Joseph Conrad: Der Geheimagent. Mit einer Einleitung von Thomas Mann. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 1926.
Joseph Conrad: Nostromo. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 1927.
James Elroy Flecker: Hassan. Schauspiel in fünf Akten. Albert Langen, München o.J. (übersetzt mit Herbert Alberti; wahrscheinlich verschollen, es gibt nur eine Erwähnung im Anhang zu Junge Triebe)
George Bernard Shaw: Wegweiser für die intelligente Frau. S. Fischer Verlag, Berlin 1928. (mit Siegfried Trebitsch)
Edgar Allan Poe: Die schönsten Erzählungen. Albert Langen, München 1922.