Wie Hermann Ungar oder Ernst Weiß gehört Ludwig Winder, der als Sohn des jüdischen Lehrers Maximilian Winder und dessen zweiter Frau Fanny, geb. Löw, in Schaffa geboren wurde und in der abgeschlossenen Judengemeinde von Holleschau aufwuchs, zu den Schriftstellern, die ihre mährische Heimat zumindest äußerlich hinter sich ließen und wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Prager deutschen Literatur hatten. Nach dem Besuch des tschechischen Gymnasiums in Prerau und dem Abitur an der Olmützer deutschen Handelsakademie ging Winder im Sommer 1907 zunächst nach Wien und arbeitete dort als Lokalreporter der linksliberalen Tageszeitung Die Zeit. Journalistische Lehr- und Wanderjahre als Feuilletonredakteur führten ihn 1909 nach Bielitz (Bielitz-Bialaer Anzeiger), 1911 nach Teplitz-Schönau (Teplitzer Zeitung), wo er seine spätere Frau Hedwig Grab kennenlernte (Heirat 1915) und 1912 nach Pilsen (Pilsner Tagblatt), ehe er nach einem Aufenthalt in Wien (u. a. als Privatsekretär des exzentrischen Grafen von Königsegg) 1914 langjähriger Feuilletonredakteur, Literaturkritiker und Theaterreferent der nationalliberalen Deutschen Zeitung Bohemia in Prag wurde. Bis zum erzwungenen Ende dieses Blattes im Dezember 1938 schrieb Winder über 3000 Artikel und wurde so neben Max Brod (dem Kollegen vom Prager Tagblatt, der ihn 1924 nach dem Tod Kafkas an dessen Stelle in den "engeren Prager Kreis" aufnahm) der wohl wichtigste Mentor und Chronist des Prager Geisteslebens in der Zwischenkriegszeit. Im Sommer 1939, nach einem Vierteljahrhundert, musste Winder, der durch seine Romane auch zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Dichter der Moldaustadt geworden war, seine zweite Heimat aufgeben und emigrierte nach Großbritannien. Trotz seiner einstigen Erfolge geriet er nach seinem baldigen Tod, wie ungezählte andere jüdische, linksorientierte und ins Exil gezwungene Autoren, in unverdiente Vergessenheit.
Vor dem Hintergrund eines Generationenwechsels und der Besinnung auf eine "mitteleuropäische Kulturtradition", in welcher der Prager deutschen Literatur durch ihre exemplarische Konstellation nationaler, religiöser und sozialer Antagonismen eine herausragende Bedeutung zukommt, ist es mittlerweile auch zur Wiederentdeckung Ludwig Winders gekommen – ohne großes Aufsehen zwar, aber doch beständig, dem zurückhaltenden und dabei rastlos tätigen Wesen des Dichters entsprechend. Nicht nur gibt es neuerdings immer wieder Abhandlungen über Winder in der germanistischen Literatur, nicht nur finden sich seine Texte in repräsentativen Anthologien Prager oder jüdischer Dichtung, seit 1983 liegen auch einige seiner wesentlichen Romane in neuer oder erster Ausgabe vor (Die jüdische Orgel, 1983 und 1999; Der Thronfolger, 1984; Die nachgeholten Freuden, 1987; Der Kammerdiener, 1988; Dr. Muff, 1990) und in den letzten Jahren erschienen sogar ein Sammelband mit Gesammelten Erzählungen (1995) und die Nachlasswerke Die Novemberwolke (1996) und Geschichte meines Vaters (2000). Schließlich veröffentlichte Judith von Sternburg 1994 mit ihrer Untersuchung Gottes böse Träume. Die Romane Ludwig Winders auch die überhaupt erste Monographie über den Dichter seit Kurt Krolops Dissertation von 1967. Die genannte Dissertation - Ludwig Winder. Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk - erschien im Druck erst im Jahre 2015 als der 28. Band der Reihe Beiträge zur deutschmährischen Literatur (Univerzita Palackého v Olomouci).
Sieht man von Winders lyrischen Anfängen (Gedichte, 1905; Das Tal der Tänze, 1910) und seinen dramatischen Versuchen (Mittag, 1910; Doktor Guillotin, 1924) ab, die er selbst später eher skeptisch beurteilte, lässt sich sein umfangreiches literarisches Werk trotz einiger Unschärfen in drei Phasen unterteilen: In das existentielle, zum Teil expressionistische Frühwerk (1917–1924); in das gesellschaftspolitisch relevante, neusachlich orientierte mittlere Schaffen (1925–1938); und in das engagiert-realistische Exilwerk (1939–1946).
Die bisher in der Forschung kursierenden Ansichten über Ludwig Winder sind überwiegend geprägt durch sein Frühwerk, vor allem durch den Roman Die jüdische Orgel (1922), der vielen als sein Hauptwerk gilt. Ob diese Präferenz gerechtfertigt ist oder nicht vielmehr dem späteren Werk Unrecht tut, sei dahingestellt; zu erklären ist sie jedenfalls sehr äußerlich durch die zufällige Zeitgenossenschaft mit Franz Kafka, dessen außerordentliche Rezeption das Interesse zwangsläufig auch auf sein literarisches Umfeld gelenkt hat. Winder kannte und schätzte Kafka, soweit es aber überhaupt Analogien im Werk der beiden Autoren gibt, erklären sie sich nicht durch persönliche Kontakte oder Abhängigkeiten, sondern durch ähnliche Erfahrungen als Angehörige der deutschjüdischen Minorität in einer überwiegend tschechischen Umgebung und andere Sozialisationsfaktoren. Die traumatischen Kindheitserlebnisse im Ghetto dominieren, mehr oder weniger verstellt, fast das ganze epische Frühwerk Winders, vom satirischen, eigene Journalerfahrungen reflektierenden Wiener Zeitungsroman Die rasende Rotationsmaschine (1917), in dem die ostjüdischen Protagonisten schließlich an ihren irrationalen Hassreaktionen auf eine feindliche Umwelt zerbrechen; über Kasai (1920), die expressionistisch verfremdete Geschichte eines schwarzen Knaben, den der Held des Romans vergebens europäisieren will; bis hin zum Prosaband Hugo. Tragödie eines Knaben (1924), dessen jugendlicher Titelheld gleich in mehrfacher Weise die Psychose des Ausgestoßenseins durchleidet und noch von den selbst Benachteiligten zurückgewiesen wird.
Unmittelbar gestaltet hat Winder die jüdische Identitätsproblematik und die seelischen Deformationen durch die ethnische Ausgrenzung und die belastende orthodoxe Tradition, dennoch nur in der Jüdischen Orgel, einer tragischen Chronik jüdischen Schicksals, die dem von seinen inneren und äußeren Dämonen verfolgten Helden am bitteren Ende nur die scheinhafte Erlösung im Wahnsinn lässt. Thomas Mann urteilte über das Buch: "Selten ist mir jüdisches Wesen so visionär lebendig geworden." (Zit. nach den Mitteilungen des Verlages im Anhang zu Hugo. Tragödie eines Knaben) Mit einigem Recht hat man auch von einem Roman über den jüdischen Selbsthass gesprochen und Vergleiche mit der selbstzerstörerischen Philosophie Otto Weiningers angestellt, doch ging es Winder auch hier nicht allein um eine bekenntnishafte, kathartische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit (und der des Vaters, wie man im Blick auf die nachgelassene Geschichte meines Vaters sagen muss), sondern auch um die exemplarische Darstellung der allgemeinen Depersonalisation und Isolation des modernen Menschen, die eine Grunderfahrung auch vieler nichtjüdischer Autoren des Expressionismus war – nicht zufällig mischen sich in den transzendenten Realismus der frühen Werke expressionistische Töne ein.
Signifikant für diese weitere, künstlerisch bewusste Aussageintention sind die Übereinstimmungen zwischen der Jüdischen Orgel und den zeitnah entstandenen Erzähltexten Legende vom häßlichen Menschen (1922), Lechowski (1923) und Hugo. Tragödie eines Knaben. Die Genres zwar sind sehr verschieden – Roman und Legende, Anekdote und Stationenprosa –, auch Herkunft und Genese der Protagonisten sind nicht einheitlich, und das Jude-Sein ist Konfliktstoff, allenfalls im ersten Teil von Hugo, der eigenständigen Novelle Turnlehrer Pravda. Gleichwohl überwiegen die Gemeinsamkeiten, denn jedesmal stehen Außenseitergestalten im Mittelpunkt, die von ihrer Umwelt nicht akzeptiert werden, ihrem Wesen gemäß dann aber sehr unterschiedlich reagieren: Mit abgründigem, gewalttätigem Hass, mit unstillbarer, selbstverachtender Liebessehnsucht oder mit der banalen Hilflosigkeit eines "ungeschickten Menschen". Ihre innere Verwandtschaft wird sichtbar in der äußeren Hässlichkeit, die für Winder Symbol unverschuldeter Stigmatisierung und fremden oder eigenen Hasses ist; ihre Beziehungslosigkeit und der daraus resultierende Identitätsverlust kulminieren jeweils in ihrem gestörten Verhältnis zur Körperlichkeit und in ihrem Unvermögen, angstfreie sexuelle Beziehungen einzugehen. Allemal aber sind ihre verzweifelten Versuche, der Vergangenheit und sich selbst zu entkommen, zum kläglichen Scheitern verurteilt.
Winders psychologischer Verismus im Frühwerk, die ungeschönte Darstellung körperlicher, geistiger und seelischer Deformationen und die zwingende, dem freien Willen fast gänzlich entzogene Kausalität der Ereignisse, legt innerhalb der Prager Literatur den Vergleich mit Ungar und Weiß nahe, wobei es kein Zufall ist, dass alle drei Autoren aus dem tschechisch-ländlichen Mähren stammen und dort schon in der Kindheit Erfahrungen mit dem Antisemitismus machten, die den in der deutschliberalen Prager Enklave aufgewachsenen Schriftstellern gewöhnlich erspart blieben. Grundmotive der frühen Prosa, die prägende Kraft der Herkunft, die milieubedingten Schranken und ihre vergeblichen Überwindungsversuche setzen sich auch in den Erzählungen und Romanen der mittleren Schaffensphase fort, aber es hat den Anschein, dass dem gereiften Dichter tatsächlich zum Teil die Katharsis im Schreiben gelang, denn sowohl die Verarbeitung autobiographischen Materials wie überhaupt die Einengung auf die Innenperspektive einer Leidensfigur treten in den Hintergrund und geben Raum für eine freiere Perspektive, die über den psychologischen Einzelfall hinaus nun auch dezidiert gesellschaftspolitische, historische, soziale und ökonomische Phänomene in den distanzierten Blick nimmt. Entscheidend für diese innerhalb der Prager Literatur ungewöhnliche Orientierung dürften neben der subjektiven Entscheidung vor allem die Erfahrung des Krieges und die alltägliche Konfrontation mit der Tagesjournalistik gewesen sein.
Vereinfacht lassen sich Winders Bücher bis zur Emigration als "Zeitromane" oder "Nachkriegsromane" (gegenüber den vorangegangenen "Vorkriegsromanen") klassifizieren, in denen er der Kohärenz persönlichen und allgemeinen Schicksals nachgeht. In einer versachlichten, herben Sprache, die nur noch selten expressionistische Stilmittel wie Inversionen und pathetische Intonationen verwendet, schildert er etwa die Deklassierung des Adels und die Skrupellosigkeit kapitalistischer Emporkömmlinge nach dem Untergang Österreich-Ungarns (Die nachgeholten Freuden, 1927), die Inflationsjahre und das Offiziersmilieu in Deutschland (Die Reitpeitsche, 1928), destruktive Finanz- und Machtspekulationen, die zur Voraussetzung totalitärer Strukturen werden und jeden Idealismus scheitern lassen (Dr. Muff, 1931), oder die krisenhafte Situation der Gebildeten in der Tschechoslowakei (Steffi oder Familie Dörre überwindet die Krise, 1935; Staatspreis 1934 der Tschechoslowakischen Republik für deutschsprachige Literatur). Eine Sonderstellung nimmt der psychologisch-historische Roman Der Thronfolger (1938) ein, eine Aufarbeitung des anachronistischen "habsburgischen Mythos", die im Schicksal Franz Ferdinands und der österreichischen Monarchie insgeheim schon auf den drohenden Untergang der Tschechoslowakischen Republik vorgreift.
Die aus der mittleren Werkphase stammenden Erzählungen Winders fügen sich weitgehend in dieses literarische Konzept ein, was aus genretypologischen Gründen vor allem für die beiden erstmals 1995 im Sammelband Hugo veröffentlichten Romanfragmente Der große Nachbar (1933) und Fritta (1938) gilt. Im Großen Nachbarn ging es dem Dichter darum, den Prozess einer allmählichen politischen Bewusstwerdung zu schildern und die korrupten Hintergründe der Kriegsdiplomatie aufzudecken. Einen Tag vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begonnen, vermochte Winder das ehrgeizige Romanprojekt unter dem Ansturm katastrophaler, noch in Prag spürbarer Ereignisse nicht mehr fortzusetzen. Aus ähnlichen Gründen dürfte auch das Fritta-Fragment über den Anfang nicht hinausgekommen sein: Die Eskalation der sudetendeutschen Frage und der Anschluss Österreichs im März 1938 absorbierten zwangsläufig sein Interesse. Motivisch erinnert das Fragment an den Dienstmädchenroman Steffi; ähnlich wie dort sollten wohl sozialkritische Fragen im Mittelpunkt stehen, exemplarisch und mehrperspektivisch dargestellt am Beispiel einer durchschnittlichen Kleinstadtfamilie mit ihren unterschiedlichen Hoffnungen, Ängsten und Lebenslügen, wobei Fritta zusätzlich als Reflexfigur der übrigen Handlungsträger fungieren sollte.
Die Novellen aus dieser Zeit, von denen einige ebenfalls erst 1995 erschienen, sind relativ heterogen, variieren zum Teil vertraute Themen wie die Sehnsucht nach vollkommener Schönheit oder den Konflikt zwischen Liebesanspruch und gesellschaftlicher Überforderung, zeigen zum Teil aber auch neue, sonst von den spröden Themen verschüttete Möglichkeiten des Dichters. So gehört die leise Antikriegsnovelle Urlaub (1926) mit ihrem ungewohnt poetischen Märchenstil und ihrer beglückenden Beschwörung einer harmonischen Gegenwelt zu den buchstäblich schönsten Texten, die Winder je geschrieben hat, während Ministerialdirektor Güterbock (1931) kaum mehr als eine literarische Fingerübung, die immerhin durch den Willen beeindruckt, eine alltägliche Charakterstudie beinahe ohne äußere Handlung lebendig zu gestalten ist. Charakteristisch für Winders harten Prosastil und seine oft fatalistische Weltsicht scheinen demgegenüber diejenigen (Mitte der dreißiger Jahre entstandenen) Erzählungen, in denen das Postulat der Liebe und der Liebesverrat zum Thema werden. Die existentielle Verunsicherung des Autors spiegelt sich hier in den unterschiedlichen Konfliktlösungen: Die Befreiung, vielleicht die eindringlichste Erzählung dieser Phase, endet in resignativer Schicksalsergebenheit, Die Betrogenen ähnlich pessimistisch mit gegenseitiger Hassliebe und nur am Ende der Novelle Der Vater, die sich schon durch die für Winder wichtige Familienkonstellation abhebt, steht die Erkenntnis, dass die Liebe stärker ist als der Tod.
Das Exil wurde auch für Ludwig Winder zum tiefsten Einschnitt in seinem Leben und Schreiben. Am 29. Juni 1939, nach langem Zögern, floh er mit seiner Frau und seiner älteren Tochter Marianne auf abenteuerlichen Wegen über die polnische Grenze nach Kattowitz und emigrierte anschließend über Skandinavien nach Großbritannien, wo er am 13. Juli in London eintraf. Die jüngere Tochter Eva blieb wegen ihres Freundes in Prag zurück, wurde nach einem missglückten gemeinsamen Fluchtversuch verhaftet und starb gegen Kriegsende unter nie geklärten Umständen im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ende August 1939, kurz vor Kriegsausbruch, wurden die Winders nach Reigate, südlich von London, evakuiert, wo sie im Flüchtlingsheim "The Rock" lebten, einem Hostel, in dem neben vielen anderen Emigranten auch der Prager Weggenosse Rudolf Fuchs untergekommen war. Anfang 1941 ließ Winder sich schließlich mit seiner Familie in der kleinen Ortschaft Baldock (Grafschaft Hertfordshire), nördlich von London, nieder. Im Sommer wurde bei ihm eine unheilbare Herzkrankheit (Koronathrombose) festgestellt, die fortan sein Leben reduzierte. Seine gelegentliche Mitarbeit an den Londoner Emigrantenblättern Die Zeitung und Einheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm nicht mehr wirklich gelang, sich als Schriftsteller neu zu etablieren. Dennoch bemühte er sich, auch weiterhin schreibend um Selbstvergewisserung und eine Diagnose der Zeitereignisse, vor allem in den Romanen Die Novemberwolke (1941/42), Der Kammerdiener (1942/43) und Die Pflicht (1943/44), aber auch in weiteren Erzählungen und Romanfragmenten.
Erschütternd ablesbar ist das Exilerlebnis dem Emigrantenroman Die Novemberwolke, der Geschichte einer Bombennacht in London, in der Winder versuchte, den schmerzlichen Verlust der Heimat und die desillusionierenden Erfahrungen in der Fremde zu verarbeiten, ohne aus seinem subjektiven Leid heraus in ungerechten Hass oder lähmende Larmoyanz zu verfallen. Beinahe wie in einem Kammerspiel, fast ganz konzentriert auf Ereignisse und Gespräche in einem Luftschutzkeller, werden die unterschiedlichen Reaktionen von Menschen in einer gemeinsam durchlittenen Extremsituation geschildert, ihre blanke Todesangst und ihr Gottvertrauen, ihr Leichtsinn und ihr Pflichtgefühl, ihr Vergessen der Gegenwart in der Erinnerung oder in Momenten der Liebe und Eifersucht, ihr moralisches Versagen und ihre Bewährung. Am Ende steht, als Menetekel menschlicher Existenz überhaupt, die Koinzidenz von Tod und Geburt, und der seiner selbst ungewisse Erzähler stellt die große Frage nach der "Unlogik des Schicksals", nach dem Sinn des Leidens in der Welt: "Wann wird der Schmerz eines Menschen wieder etwas bedeuten?" (Die Novemberwolke, S. 130.)
Der nüchterne, objektive und fragende Blick auf die Erschütterungen der Zeit kennzeichnet allgemein diese letzte Schaffenszeit, in der Winder durch sein Herzleiden immer häufiger ans Bett gefesselt war und oft nur unter Qualen arbeiten konnte. Das Schreiben blieb ihm bis zuletzt innerste Lebensnotwendigkeit und hielt seine Hoffnung auf eine bessere Welt aufrecht, auch wenn er kaum noch Resonanz erfuhr und immer mehr vereinsamte. Die letzte Buchausgabe zu Lebzeiten wurde 1944 (unter dem Pseudonym G. A. List) die englische Übersetzung des tschechischen Widerstandsromans Die Pflicht (One Man’s Answer. Translated by Basil Creighton. London/Toronto/Bombay/Sidney Harrap, 1944.), den Winder unter dem unmittelbaren Eindruck des Heydrich-Attentats geschrieben hatte. Erst 1949 erschien eine deutsche Ausgabe dieses Romans, der am Beispiel eines unpolitischen Eisenbahnbeamten und seiner Entwicklung zum aktiven Antifaschisten die bedrückenden Verhältnisse im besetzten Prag vergegenwärtigt und unmissverständlich die Selbstaufgabe im Interesse der Gemeinschaft und einer gerechten Sache einfordert. Wie problematisch dieses ethische Thema auch für Winder selbst war, verrät der erst 1988 in Buchform veröffentlichte Roman Der Kammerdiener, in dem das subjektive Pflichtgefühl des Protagonisten, seine "Kammerdienermentalität", als lustvoll-verderbliche Unterwerfung kritisiert wird. Äußerlich eine Rückkehr in die letzten Jahre der Donaumonarchie, ist auch dieser psychologische Roman über den Verlust der Menschenwürde von aktueller Brisanz, beschreibt er doch ein menschliches Wesensmerkmal, das die Verführbarkeit durch den Faschismus überhaupt erst begründete und wesentlich zu seiner Dauer beitrug.
Flucht und Exil sind die zentralen Themen der meisten späten Prosastücke und Fragmente, die 1995 aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, so auch in der undatierten Erzählung Abschied, die aber durch den Grad ihrer Authentizität aus dem Rahmen des übrigen Exilschaffens herausragt: Ganz unverstellt, beinahe ohne jene literarische Attitüde, schildert Winder hier seine dramatischen Erlebnisse vom Herbst 1938 bis zum Sommer 1939, seine Angst, seinen Abschied, seine Flucht und die Ankunft in London, so dass ein Zeit- und Lebensdokument ersten Ranges entstanden ist.
Im Frühjahr 1944 begann Winder die Arbeit an einem Roman, dessen Schauplatz ein vierstöckiges Mietshaus im Zentrum Prags sein sollte, und in dem er aus der unterschiedlichen Sicht der Mietparteien die bestürzenden Ereignisse der Jahre 1938/39 schildern wollte, die zum Untergang der Tschechoslowakischen Republik führten. Leitlinien der Fabel waren durch das Zeitgeschehen und die eigene Erinnerung vorgegeben, auch das exemplarisch gewählte Personal hatte Winder bereits grob umrissen, dennoch entstanden in mehreren Anläufen nur zwei sehr verschiedene Fragmente des Anfangs (Alois Soukup, Jaroslav Vlach). Das Unternehmen, Weltgeschichte im engen Rahmen eines Mietshauses und seiner Bewohner zu reflektieren und jedem dort sein persönliches Schicksal zuzuweisen, hätte schon einen gesunden Schriftsteller überfordert, Winder aber, der abgeschnitten von den Zeitereignissen in einem entlegenen englischen Dorf lebte und oft nur unter Schmerzen und im Bett schreiben konnte, musste zwangsläufig daran scheitern.
Das Ende des Krieges und die Erwartung einer besseren Zukunft gaben Winder trotz seiner äußeren Schwäche ein letztes Mal die innere Kraft, ein neues Buch zu beginnen. Sein schlechter Gesundheitszustand ließ es nicht zu, dass er seinem Herzenswunsch folgend nach Prag zurückkehrte, doch wenigstens in Gedanken fand er nun noch einmal zurück in die böhmische Heimat und schrieb in seinen letzten Monaten die Geschichte meines Vaters nieder, die auf der Grundlage von Notizen und Erzählungen des Vaters die schwere Jugendgeschichte Maximilian Winders erinnert, von der repressiven Ghettokindheit in Kolin über die befreienden Prager Studienjahre bis zum Antritt seiner ersten Lehrerstelle in Karlsdorf. Obwohl auch dieses Werk unvollendet blieb und nicht über die ersten beiden, immerhin umfangreichen Teile hinauskam, gelang Winder mit ihm nicht nur eine späte persönliche Annäherung an den einst fern und fremd empfundenen Vater, sondern zugleich auch die überaus eindrucksvolle, auch kulturhistorisch aufschlussreiche "Deutung" eines in vieler Hinsicht exemplarischen jüdischen Lebens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Einleitend schreibt Winder dort:
Nicht nur die Welt meines Vaters, auch die seiner Nachkommen ist zertrümmert. Eine neue Welt muss entstehen, und es ist nur natürlich, dass sich der Blick jedes Menschen, der mit Genugtuung die Besiegung der zerstörerischen Mächte und Kräfte miterlebt hat, von der Vergangenheit losreißt und der Zukunft zuwendet. Auch mein Blick ist vertrauensvoll in die Zukunft gerichtet. Trotzdem unternehme ich es, die Geschichte meines Vaters zu schreiben, in der vagen Hoffnung, zu einer Deutung seines Lebens – und vielleicht nicht seines Lebens allein – zu gelangen. Sollte diese Hoffnung sich als trügerisch erweisen und die Deutung sich mir versagen – ich nähme es ohne Murren hin. Denn jedes Leben, selbst das kleinste und ärmste, ist groß wie die Welt; und größer als seine Deutung. (Geschichte meines Vaters, S. 11.)
Ludwig Winder hat es in allen seinen Werken unternommen, die Leidensexistenz des Menschen zu deuten, und nie war ihm dabei ein Leben zu armselig. Dass ihm dies nicht immer vollkommen gelingen konnte, ist selbstverständlich, aber auch für sein Werk gilt, was er vom Leben sagt: Es ist "größer als seine Deutung".
Dieter Sudhoff, Paderborn