Erik Jan Hanussen entstammt einer alteingesessenen jüdischen Proßnitzer Familie, die im Zuge der josephinischen Gesetzgebung den Namen Steinschneider angenommen hatte. Sein Vater Siegfried Steinschneider (1860-1910, verehelicht mit Julie Kohn - Daten nicht ermittelt) pendelte als Kleindarsteller durch die Länder der Donaumonarchie, wobei Mähren und Ottakring dauerhaftere Stützpunkte gewesen waren. Sein Stammbaum lässt sich zurückverfolgen bis zu den Rabbinern Daniel Prossnitz dem Jüngeren (1750 - 1800) und Aaron Daniel Prossnitz (1769 - 1809). Der berühmte, ebenfalls in Proßnitz geborene Orientalist, Philologe und Theologe Moritz Steinschneider entstammt trotz vieler andersartiger Meinungen einem anderen Strang der Familie Steinschneider.
Soweit zu den gesicherten Daten. Alle anderen Ereignisse aus der Jugend von Erik Jan Hanussen stammen entweder aus seiner, nachweislich nicht zuverlässigen Autobiographie (Meine Lebenslinie) oder aus zweiter Hand. Selbst sein gründlicher Biograph W. Kugel operiert in seiner Monographie hauptsächlich mit konjunktivischen Formulierungen. Die Schule besuchte Erik Jan Hanussen zunächst kurz in Wien, dann in Boskowitz und ab 1901 wieder in Ottakring. Dann widerstreiten in der Autobiographie zwei Angaben. Einerseits will er die Handelsakademie besucht, andererseits sich bereits mit 14 Jahren einer Theatergruppe in Sternberg/Mähren angeschlossen haben. Die Jahre bis zur Volljährigkeit verlaufen selbst dann abwechslungsreich bis abenteuerlich, wenn nur einige seiner Angaben der Wahrheit entsprechen - Theateraufenthalte in Mähr.-Neustadt, Troppau, Pilsen und Bad Hall, Militärdienst in Sarajevo, Dompteur bei Hagenbeck, Zirkusartist, Oberregisseur, Kabarettist, Laufbursche einer Theateragentur und Journalist bei der Öst. Handelszeitung seien als Tätigkeiten aus dieser Zeit herausgegriffen, ohne dass die Liste Anspruch auf Vollständigkeit reklamiert.
Am 19.05.1912 heiratet Erik Jan Hanussen die Souffleuse Herta Sammer (1920 geschieden) in der israelit. Kultusgemeinde in Wien. Zwei weitere Ehen sollten folgen (1920 mit Theresia Luksch, 1928 mit Elfriede Charlotte Rühle - beide Ehefrauen konvertierten dazu zum jüdischen Glauben). Ein Jahr später tritt er als Mitarbeiter in die Zeitung Der Blitz ein, die sich durch sensationelle Aufdeckungen (Kassabuch einer Halbweltdame) und Berichte über Streifzüge durch die Unter- und Halbwelt Wiens einen Namen machte, wobei die namentliche Erwähnung von Lokalitäten gegen Bezahlung einen weiteren wichtigen Einkommenszweig darstellte. Etwa zur gleichen Zeit begann Erik Jan Hanussen im wohl bekanntesten Wiener Kabarett Simplicissimus mit eigenen Gedichten und Couplets aufzutreten, von denen einige z. B. von R. Stolz vertont wurden. Zu diesem Engagement verhalf ihm sicherlich seine Herkunft, denn die Wiener Kabarettszene wurde zu einem großen Anteil von aus Mähren stammenden Juden bestritten. Neben Erik Jan Hanussen agierten zu dieser Zeit am „Simpl“ Fritz Grünbaum, Armin Berg und Ralph Benatzky und so ist es nicht verwunderlich, dass im Refrain des allabendlich wiederholten Simpel-Liedes von Hans Pflanzer nicht nur die „Geige singt“, sondern auch das „Zymbal klingt“. Im Kriegswinter 1914/15 ließ er in Olmütz, wo er auch stationiert war, zwei Sammlungen dieser „Kinkerlitzchen“ erscheinen, die formal und inhaltlich einem gehobenen Niveau der Wiener Kabarettszene (Beda, Homunculus, Grünbaum) entsprechen. Dem Simplicissimus blieb er auch noch nach dem Krieg zu Beginn seiner Hellseherkarriere verbunden, wie eine nachträgliche Sammlung bereits vorher veröffentlichter Vortragstexte bezeugt, die 1920 bereits unter dem Namen Erik Jan Hanussen im Nestroy-Verlag, einem nahen Ableger des berühmteren R. Löwit Verlages erschien (Schließen Sie die Augen!). Die ironischen Gedichte und Couplets in den beiden Sammlungen setzen sich mit den alltäglichen Mängeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Neid, Habsucht, Stolz usw.) und der Liebe auseinander. Auffällig ist, dass alle Liebesbeziehungen Abhängigkeitsverhältnisse beschreiben und romantische Anflüge der Figuren mit zynischen Kommentaren überziehen. Er prangert in diesen Texten die Scheinmoral in Wien mit ähnlichen Argumenten an, wie gleichzeitig Karl Kraus in seiner Fackel. Kraus selbst wird im Niggerlied Gegenstand der Satire und endet wegen seiner übertriebenen ästhetischen und moralischen Ansichten als Fleischeinwaage „in ´ner sauer´n Schwammerlsauce“ in einem afrikanischen Kochtopf (Was so übers Brettl ging…, S. 30). Die wenigen Kriegsgedichte sind gemessen an ihrer Entstehungszeit (1914) erstaunlich antinationalistisch und kriegsfeindlich. Einzig in Držte se Hanáci! (Halt´s euch, Hannaken), das dem 54. Infanterieregiment „Alt-Starhemberg“ gewidmet ist, schlagen mährisch patriotische Züge durch.
Schon seit 1910 interessierte sich Erik Jan Hanussen für Telepathie und andere Erscheinungen, die zeitgenössisch unter dem Begriff „wissenschaftlicher Okkultismus“ zusammengefasst wurden. Noch vor Ausbruch des Krieges erlernte er von Joe Labéro und seinem Konkurrenten Eugen de Rubini (eig. Leo Rabiner aus Brünn) die Technik des „Muskellesens“. Im Offizierskasino von Gorlice (Westgalizien) startete er seine Karriere als Hellseher, die er auch an anderen Stationen während des Krieges (Krakau, Sarajevo, Wien) und mit anderen Versuchen (Wünschelrute, Hypnose) fortsetzte. Seine Kenntnisse der Telepathie, seine in vielen Gelegenheitsjobs erworbenen artistischen Fähigkeiten und sein Talent zur Selbstdarstellung halfen ihm, sich auf angenehmen Posten durch den Krieg zu lavieren. 1917 gab er im Selbstverlag ein Buch heraus (Worauf beruht das ---?!), in welchem er die naturwissenschaftlichen Grundlagen und die Tricks bei telepathischen Versuchen aufklärte. Er sah sich zu diesem Zeitpunkt also keineswegs als Medium oder eingeweihter „Seher“. Erst die Nichtbeachtung seines Aufklärungswerkes und der gleichzeitige Erfolg seiner Vorführungen ließen in ihm, wie schon W. Kugel feststellte, den Gedanken reifen, seinen Broterwerb nach dem Krieg als Hellseher zu bestreiten.
1918/19 arbeitete er mit Dr. Max Ostermann zusammen, den er aus dem Krieg kannte, und der ein Institut für Inhalationstherapie und physikalische Heilmethoden in Wien betrieb. Ausgerüstet mit einer Visitenkarte, die ihn als Abteilungsleiter dieses Institutes avisierte, gab er in schneller Folge Veranstaltungen in Wien, Berlin, Prag und anderen böhmischen und mährischen Städten. 1921 folgt eine Orientreise. Im Wiener Apollotheater sollen an 16 Vorstellungen zusammen 46.000 Besucher teilgenommen haben. Das Programm besteht weitestgehend aus Varietékunststücken, Hypnose und Muskellesen. Immer wieder propagiert er seine erfolgreiche Teilnahme an der Aufklärung verschiedener Verbrechen. In den wenigen dokumentierten Fällen (Diebstahl in der Öst.-ungar. Staatsbanknotendruckerei 1919) geht die Meinung über den wirklichen Anteil an der Aufklärung der Tat zwischen den beteiligten Personen, Erik Jan Hanussen und der Polizei, weit auseinander. Seit Ende 1922 gastierte er im Ronacher in Wien, das im Januar 1923 auch den „Eisenkönig“ Siegmund Breitbart engagierte. Beide feiern Erfolge, doch die Gunst des Publikums neigte sich aufgrund seiner innovativen und sensationellen Auftritte auf die Seite Breitbarts. Erik Jan Hanussen brach darum den „Streit der Eisenkönige“ vom Zaum, indem er Breitbart Trickbetrug und Manipulation vorwarf und ankündigte mit einem eigenen Medium die Versuche nachstellen, ja übertreffen zu können. Dieses Medium fand er in der 19-jährigen Martha Kohn, die unter dem Pseudonym Martha Farra auftrat. Der Streit war ein gefundenes Fressen für die Presse, auch weil beide professionelle Störtrupps dingten, die jede Vorstellung in einen Tumult ausarten ließen. Bereits im Februar 1923 reagierte die Wiener Polizei und verwies ihn für 10 Jahre des Landes.
Von da an tourte er durch Europa, wobei Böhmen und Deutschland seine bevorzugten Auftrittsgebiete blieben, und die USA. Während der zahlreichen Engagements verfeinerte sich sein Programm und seine hellseherischen Voraussagen näherten sich inhaltlich in zunehmenden Maße den Ereignissen der Zeitgeschichte. 1928 kam es in Leitmeritz (Litoměřice) zu einem aufsehenerregenden Prozess, in dessen Verlauf seine „übernatürlichen“ Fähigkeiten zwar nicht gerade bestätigt, aber auch nicht in Abrede gestellt wurden. Dieser Prozess und der darauf einsetzende, ideelle und finanzielle Erfolg führten zu literarischen Adaptionen (E. Lothar, G. Kayser, L. Feuchtwanger) und zu einer Welle von Anfeindungen und Enthüllungsbüchern. Die Kampagne gegen Erik Jan Hanussen eröffnete sein ehemaliger Mitarbeiter Erich Juhn 1930 in Buchform (Leben und Taten des Hellsehers Henrik Magnus) und mit Artikeln, welche die Deutsche Zeitung Bohemia veröffentlichte. Erik Jan Hanussen reagierte darauf einerseits durch eine Klage, die 1931 zu Verbot und Vernichtung des Buches führte, andererseits durch Veröffentlichung einer Autobiographie, die er wohl selbst niederschrieb. Meine Lebenslinie (erschienen 1930) umfasst den Zeitraum von der Geburt bis zum Prozess in Leitmeritz und steht aus philologischer Sicht auf einem recht kläglichen Niveau. Besonders die schematischen Satzgefüge, die einfache Lexik und die zu bewusst eingesetzte Selbstdarstellung wirken auf den heutigen Leser ermüdend. Hervorzuheben jedoch sind die Beschreibungen des Lebens zwischen Kabarett, Zirkus und Varieté, die eindrucksvoll den spontanen Charakter und den halbseidenen Hintergrund der Kunstszene der 20er Jahre in Wien, Böhmen und Mähren beleuchten. Bemerkenswert ist auch, dass er keinen Hehl aus seiner jüdischen Herkunft macht, obwohl er in anderen Passagen, wie W. Kugel mehrfach betont, ein äußerst zweifelhafter Chronist seines eigenen Lebens ist. Er geht in seiner Autobiographie auch auf allgemeine jüdische Belange ein. Das und auch seinen Stil soll folgende Textstelle illustrieren, die vom Kriegsgeschehen in Westgalizien handelt:
Wenn es nach mir gegangen wäre, ich hätte ja Seiner Majestät einen anderen Heldenfriedhof gezeigt. Der lag seit huntert (sic!) Jahren mitten in Gorlice. Hinter jedem Grabstein die Leiche eines Soldaten, der dort Deckung gesucht hatte. Dabei waren die Kartätschen absolut nicht wählerisch. Sie schlugen in die Lebendigen, in die Krüppel, und in die bereits Toten, sie schlugen auch in die längst gestorbenen Bürger von Gorlice, die da unten lagen mit langen Bärten und Löckchen an den Schläfen, begraben im Sterbehemd des jüdischen Ritus und versehen mit den Sterbegebeten der ganzen Familie. (Meine Lebenslinie. Universitas, München 1988, S. 136. Die Hervorhebungen stammen von mir.)
E. Juhn und der kommunistische (!) Schriftsteller Bruno Frei hätten es sich demnach mit einem Hinweis auf die Autobiographie ersparen können, den nationalsozialistischen Propagandaorganen mittels einer, vom Sommer 1932 an erscheinenden Artikelserie in der Zeitung Berlin am Morgen Informationen über Erik Jan Hanussens richtigen Namen und seine religiöse Abstammung zukommen zu lassen, wobei sie u. a. Originaldokumente der Matrikel der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien und Proßnitz bemühten (Kugel S. 202 ff.). Freis Gründe für sein verwerfliches Vorgehen gegen Erik Jan Hanussen lagen in seiner politischen Überzeugung. Ihm genügte bereits die Vermutung, dass die Anhänger des pseudomysthischen Hellsehers und Telepathen in besonderem Maße empfänglich waren für die mystifizierenden Parolen Hitlers.
Freilich muss man Erik Jan Hanussen selbst eine Teilschuld zusprechen. Sein Ruhm befand sich zu Beginn der 30er Jahre auf dem Höhepunkt. Auf spiritistischen Seancen und anderen kulturellen Abendveranstaltungen traf er sich u. a. mit den Schriftstellern A. Döblin, H. H. Ewers und G. Hauptmann, mit dem Künstler Peter Eng (Peter Engelmann), dem Regisseur Carl Froelich oder dem Parapsychologen Max Dessoir. Auf seiner Yacht fanden regelmäßig Feste statt, die in regelrechte Orgien ausgeartet sein sollen. An diesen Festen nahmen auch der SA-Führer von Berlin-Brandenburg Graf von Helldorf und der SA-Sturmbannführer F. W. E. Ohst teil. Dieser Kontakt brachte diesen beiden neben großzügigster Bewirtung Geldgeschenke und andere wertvolle Gaben (Auto) ein, wobei unklar bleibt, ob diese tatsächlich der SA-Organisation zur Verfügung gestellt wurden oder in private Taschen flossen. Ebenfalls unbestätigt muss bleiben, ob Erik Jan Hanussen zu diesem Zeitpunkt häufiger eine SA-Uniform trug. Textuell gesichert ist jedoch, dass seine „Prophezeiungen“, die er u. a. in der eigenen Hanussen-Zeitung veröffentlichte, eine baldige Machtübernahme der NSDAP wiederholt haben und eindringlich in Aussicht stellten. Seine eigene Haltung zum Nationalsozialismus macht er am 08.01.1933 unmissverständlich klar. „Und die Stunde, in der das Herunterzerren eines Namens und der Ehre eines unbescholtenen Menschen seiner Überzeugung wegen nicht ungesühnt bleiben wird, ist die gleiche Stunde, in der das völkische Deutschland sein endliches Erwachen feiert.“ (In: Hanussens Bunte Wochenschau, Nr. 38 (Berlin 08.01.1933), S. 2. Zitiert nach Kugel, S. 203.)
Er glaubte wohl, dass die persönlichen Kontakte zur SA ihn bei einem Regierungswechsel dazu befähigen würden, das lästige „Kesseltreiben“ durch Frei und seine Mitarbeiter zu beenden, gegen das sich die oben genannte Passage konkret richtete. Sicher scheint er sich nicht gewesen zu sein, da er bereits im Frühjahr 1932 seine Autobiographie vom Markt nahm und sich im Februar 1933 christlich taufen ließ. Die Skepsis war berechtigt. Am 24. März 1933 wurde er von der SA verhaftet und noch in der darauffolgenden Nacht von einer dreiköpfigen Gruppe exekutiert, zu der auch sein ehemaliger Freund Ohst gehörte.
Als Gründe für seine Liquidierung nennt Kugel seine jüdische Herkunft, die zwielichtigen Geldgeschäfte mit der SA und seine Funktion als Geheimnisträger, denn Hanussen hatte zwar in metaphorischer Weise, aber doch konkret genug, den Reichstagsbrand „vorhergesagt“, über dessen Planung er durch die SA informiert war. Durch seine Kenntnisse stellte er als Außenstehender eine Gefahr dar, die offizielle Version des kommunistischen Anschlags zu untergraben. Eine noch engere Involvierung Erik Jan Hanussens in die Reichstagsbrandaffäre (z. B. durch hypnotische Beeinflussung Marinus van der Lubbes) muss Spekulation bleiben. Zweifellos aber handelte es sich bei seiner Ausschaltung um ein Zusammenspiel aller drei von Kugel angeführten Gründe.
Ob er tatsächlich über parapsychologische Fähigkeiten verfügte, wurde nie vollständig geklärt. Auch W. Kugel, der sich bisher als einziger in wissenschaftlicher Weise mit ihm auseinandersetzte, lässt einen „Rest des Zweifels“ an seinem abschließenden Nein (Kugel, S. 268). Im letzten Kapitel seiner Autobiographie beschreibt er einen fast psychoanalytischen, jedenfalls aber leicht schizophrenen Selbstbesuch. Hermann Steinschneider besucht Erik Jan Hanussen:
Ich wurde nachdenklich. „Geld ist etwas sehr Schönes, Herr Hanussen, für die alten Tage.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Steinschneider. Was kümmern Sie sich um ihre alten Tage. Das bißchen Grießbrei, das Sie im Narrenhaus fressen werden, für das werden Ihre Freunde sorgen. Sie wollen leben und schauen, solange Sie jung sind und die Augen offen haben. Wozu das Geld also?!“
Für Geld kann man Freunde kaufen.“
Hanussen nickte: „Das stimmt. Parasiten, Nutznießer Ihres Martyriums. Das sind nicht Freunde, die Sie um sich haben, das sind Gesellen. Sie werden niemals einen Freund haben, mein Herr. (Meine Lebenslinie, S. 266 f.)
Geschrieben 1930!
(Jörg Krappmann)